28. September 2022
Während die ukrainische Bevölkerung ihr Land gegen die russische Invasion verteidigt, nutzen die Wirtschaftseliten Europas diese Lage, um ihre neoliberale Agenda durchzusetzen.
Mitten im Krieg schränkt die ukrainische Regierung die Rechte von Beschäftigten ein. Vonseiten der Gewerkschaften hagelt es Kritik.
IMAGO / ZUMA WireDer ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski zögerte lange, bevor er am 17. August seine Unterschrift unter das Dokument setzte. Bereits einen Monat zuvor hatte das nationale Parlament, die Werchowna Rada, das Gesetz mit der Nummer 5371 verabschiedet. In der nüchtern-trügerischen Sprache der Bürokratie soll es die Beziehungen zwischen Chef und Beschäftigten vereinfachen. In Wahrheit bedeutet es eine vollständige Flexibilisierung des Arbeitsmarktes.
Selenski mag gezögert haben, weil der Druck von ukrainischen Gewerkschaften, aber auch aus dem Ausland, hoch war. Selbst die International Trade Union Confederation (ITUC), in der mehr als 200 Millionen Beschäftigte weltweit zusammengeschlossen sind, protestierte gegen das Gesetz. »Es ist grotesk, dass die ukrainischen Arbeitnehmer, die das Land verteidigen und sich um die Verletzten, Kranken und Vertriebenen kümmern, nun von ihrem eigenen Parlament angegriffen werden«, meinte Generalsekretärin Sharan Burrow in einer Stellungnahme.
Der ukrainische Digitalminister Mychajlo Fedorow wiederum zögerte nicht lange, als er am 4. Juli zum Stift griff. An der Ukraine Recovery Conference in der Schweizer Stadt Lugano unterzeichnete er gemeinsam mit den Mobilfunk- und Kabelnetzunternehmen Kyivstar, Vodafone und Datagroup-Volia eine Vereinbarung zur Digitalisierung der Ukraine. Im Krieg biete sich die Chance, die Ukraine digital zum fortschrittlichsten Staat der Welt zu entwickeln. »Es ist ein Experiment, eine Revolution. Eine Chance für Sie, Ihre Unternehmen und die ganze Welt!«, meinte Fedorow.
Das neue Arbeitsgesetz und die Recovery Conference deuten an, wohin sich die Ukraine während und nach dem russischen Angriffskrieg entwickeln könnte: zu einem neoliberalen Labor mit möglichst wenig arbeitsrechtlichen Regulierungen und mit möglichst guten Rahmenbedingungen für private Konzerne, die beim Wiederaufbau des Landes Profite erzielen möchten.
»Gemäß einer Statistik für Betriebsunfälle gehen 80 Prozent der Todesfälle am Arbeitsplatz auf die Kriegshandlungen zurück.«
Dass Selenski mit seiner Unterschrift zögerte, zeigt aber auch: Proteste von Arbeiterinnen und Arbeitern, gerade auch mit internationaler Unterstützung, können etwas bewirken. In letzter Minute wurde eine Änderung erreicht, wonach Gesetz Nummer 5371, anders als ursprünglich vorgesehen, nur während der Dauer des Kriegs in Kraft bleiben soll.
Seit der russische Machthaber Wladimir Putin und sein mafiös geprägtes Regime am 24. Februar einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine eröffneten, dauern die Kampfhandlungen unvermindert an. Gemäß dem Hochkommissariat für Menschenrechte der UNO haben bis Ende September in der Ukraine fast 6.000 Zivilpersonen ihr Leben verloren. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte laut der UNO wesentlich höher liegen.
Von den Angriffen der russischen Armee sind Arbeiterinnen und Arbeiter besonders betroffen. Gemäß einer Statistik für Betriebsunfälle gehen 80 Prozent der Todesfälle am Arbeitsplatz auf die Kriegshandlungen zurück. Die International Labour Organisation ILO wiederum hielt im Mai fest, dass der Krieg und seine Folgen bisher 30 Prozent aller Arbeitsplätze vernichtet hat. Hunderttausende, wenn nicht Millionen Beschäftigte haben wegen der russischen Angriffe ihre Jobs verloren. Dennoch werden deren Rechte seit Kriegsbeginn stark eingeschränkt: Derzeit sind Streiks verboten und das Arbeitsinspektorat hat seine Kontrollen praktisch komplett eingestellt. Verstöße gegen das Arbeitsrecht werden somit nicht mehr dokumentiert.
Eine neoliberale Agenda hatte bereits der Präsident Petro Poroschenko verfolgt, die Regierung Selenski machte dann im gleichen Stil weiter. Seine Partei mag zwar Sluha Narodu heißen, Diener des Volkes, sie diente nach der Wahl 2019 aber vor allem Investoren und Kreditgebern und brachte eine neoliberale Reform nach der anderen durchs Parlament, so etwa im Gesundheitssektor.
»Während ukrainische Arbeiterinnen und Arbeiter das Land verteidigten und alles in ihrer Macht Stehende taten, um die Dinge am Laufen zu halten, wurden diverse Reformen durchgedrückt, die ihre Rechte empfindlich einschränken.«
Diese Reformen gehen allerdings nicht nur von der Regierung selbst aus. Sie richtet ihre Politik vielmehr nach den Wünschen ausländischer Kreditgeber wie dem Internationalen Währungsfonds IWF aus, von dessen Darlehen die Ukraine abhängig ist. Bei ihren Arbeitsmarktreformen wurde sie zudem von westlichen Partnern beraten: So organisierte zum Beispiel das britische Außenministerium Workshops, in denen es dem ukrainischen Wirtschaftsministerium erklärte, wie sich Wählerinnen und Wähler von flexibilisierten Arbeitsgesetzen überzeugen lassen.
Die Innenpolitik ist durch den Krieg keineswegs zum Erliegen gekommen. Nur wenige Wochen nach dem russischen Angriff wurden Reformen aus der Schublade geholt, die bisher nicht zuletzt am Protest der Gewerkschaften gescheitert waren. Während ukrainische Arbeiterinnen und Arbeiter das Land verteidigten und alles in ihrer Macht Stehende taten, um die Dinge in äußerst schwierigen Zeiten am Laufen zu halten, wurden diverse Reformen durchgedrückt, die die Rechte am Arbeitsplatz empfindlich einschränken.
Zuerst wurde ein Gesetz erlassen, das den Kündigungsschutz lockerte und die maximale Arbeitszeit auf 60 Stunden pro Woche erhöhte. Dann folgte ein Gesetz, das sogenannte Nullstundenverträge erlaubt – eine radikale Form der Arbeit auf Abruf, bei der kein Anspruch auf eine Mindestarbeitszeit besteht und nur real erbrachte Leistungen vergütet werden. Schließlich folgte das eingangs erwähnte Gesetz 5371.
Es betrifft alle Betriebe mit weniger als 250 Angestellten – also rund 70 Prozent aller ukrainischen Arbeiterinnen. Sie werden künftig nicht mehr von nationalen Arbeitsgesetzen geschützt. Vielmehr ermächtigt das Gesetz die Arbeitgeber, extrem flexible Einzelverträge abzuschließen, mit denen die Sicherheiten der Arbeitnehmer ausgehebelt werden, beispielsweise beim Umfang der Arbeitszeit oder dem Kündigungsschutz. Das Gesetz schränkt auch den Einfluss der Gewerkschaften ein.
Wurde in Russland der Arbeitsmarkt bereits in den 1990er und 00er Jahren flexibilisiert, stammen die Arbeitsgesetze in der Ukraine noch aus der Sowjetzeit. Auch wenn sie oft missachtet wurden, konnten sich Arbeiterinnen und Arbeiter immerhin vor Gericht darauf berufen. Die jetzigen Änderungen bedeuten entsprechend einen Paradigmenwechsel: »Ultraliberale Zugeständnisse an die Arbeitgeber werden den Rückgang des Lebensstandards nur beschleunigen, nicht aber den Aufschwung der Wirtschaft fördern«, schreibt die linke Basisorganisation Sozialnyi Ruch, was so viel wie »soziale Bewegung« bedeutet.
Ukrainische Gewerkschaften richteten deshalb einen Appell an den Präsidenten. Das Gesetz werde zu unterschiedlichen Löhnen für die gleiche Arbeit führen und zu ungleichen Bedingungen bei der Ferienregelung oder Wochenendarbeit. Die Flexibilisierung bedeute letztlich nichts anderes als Diskriminierung. Unterstützt wurden die Gewerkschaften von internationalen Organisationen, zu der neben der ITUC auch die International Labour Organisation sowie der Sozial- und Wirtschaftsausschuss der UNO gehörte. Diese mahnten an, dass mit dem Gesetz internationale Arbeitsstandards verletzt werden könnten. Fürs erste tritt es nun aber in Kraft. Ob es dann zurückgenommen wird, muss sich erst noch weisen.
Wie die Zukunft der Ukraine nach dem Krieg aussehen könnte, zeigt sich nicht nur bei der Arbeitsgesetzgebung. Erste Umrisse zeichneten sich auch an der Ukraine Recovery Conference am Luganersee in der Schweizer Ferienidylle Tessin Anfang Juli ab. Die großen Staatschefs sind der Konferenz demonstrativ ferngebleiben. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron trafen sich lieber in Paris, um sich bei einem gemeinsamen Dinner über die Ukraine zu unterhalten. Doch die Anwesenheit zahlreicher osteuropäischer Regierungschefs und der größten ukrainischen Delegation im Ausland seit Kriegsbeginn zeigte, welche Bedeutung die Direktbetroffenen der Konferenz selbst beimaßen.
Zahlreich anwesend waren auch die Vertreterinnen und Vertreter von internationalen Großkonzernen: Techfirmen wie Google, Agrarriesen wie Syngenta, Rohstoffhändler wie Trafigura, Zahlungsdienstleister wie Mastercard oder Beratungsunternehmen wie PricewaterhouseCoopers – alle waren sie nach Lugano gekommen, um über den Wiederaufbauplan für die Ukraine zu beraten, der dort erstmals präsentiert wurde.
»We are free. We are strong. We are open for business.«
Der Plan ist in drei Phasen unterteilt: Zuerst soll direkte Nothilfe im Krieg geleistet, dann die zerstörte Infrastruktur erneuert und schließlich sollen langfristige Ziele für eine Reform des Staates umgesetzt werden. An der Erarbeitung des Plans sollen mehr als 3.000 Expertinnen und Experten mitgewirkt haben. Wie der ukrainische Ableger des Wirtschaftsmagazins Forbes vor der Konferenz schrieb, ist einer der prominenten Berater ausgerechnet Francis Fukuyama, der nach dem Zerfall der Sowjetunion das »Ende der Geschichte« ausrief.
Gemäß Forbes wurde der Text vom Reform Delivery Office verfasst, das seit 2016 besteht. Diese Expertengruppe soll die Regierung bei ihren Reformbemühungen unterstützen und wird von der EU-Kommission und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ko-finanziert. In den Plan sind aber auch die Ideen einer Gruppe renommierter internationaler Ökonomen wie Kenneth Rogoff eingeflossen, die im April eine »Blaupause für den Wiederaufbau« vorgelegt haben – mit einem ganzen Bündel an ökonomischen Liberalisierungsmaßnahmen.
Eröffnet wurde die Konferenz in Lugano mit einer Videoschaltung zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski in Kiew. Beim Angriff Russlands handele es sich nicht um einen Krieg »irgendwo im Osten«, sondern um eine »ideologische Konfrontation«, so Selenski. »Der terroristische Staat hofft, dass solche Zerstörungen die Unfähigkeit des demokratischen Systems beweisen«, fügte er hinzu. Entsprechend sei der Wiederaufbau nicht nur ein lokales Projekt, sondern eine Aufgabe der gesamten demokratischen Welt. Und zwar durchaus zu deren Nutzen: »Die EU wie auch die NATO sind dank uns fest geeint.«
Nach Selenski gab EU-Kommissarin Ursula von der Leyen bekannt, dass sich die EU und die Ukraine auf ein Vorgehen beim Wiederaufbau verständigt hätten. Zwar wird Brüssel eine Koordinationsplattform einsetzen, an der sich Staaten, internationale Organisatoren wie private Kapitalgeber beteiligen können. »Den Lead wird aber die Ukraine haben«, versprach von der Leyen.
»Build back better!«: Dieses Motto wiederholten die ukrainischen Vertreterinnen und Vertreter in Lugano mantraartig. Das Land soll nicht bloß wiederaufgebaut, sondern aus dem Krieg heraus neu erfunden werden. In Zukunft soll die Ukraine grüner, digitaler und gesellschaftlich aufgeschlossen sein – und offen für Investoren und Konzerne. Die Beschreibungen klingen bisweilen weniger nach einem Staat als nach einem Start-Up-Unternehmen.
Was man sich konkret darunter vorstellen kann, lässt sich am Beispiel des Strommarktes illustrieren, genauer beim Umgang mit der Atomenergie. So hat die staatliche ukrainische Atombehörde Energoatom mit dem US-Konzern Westinghouse Anfang Juni einen Deal geschlossen. Demnach soll Westinghouse neun neue Atomreaktoren bauen und die ukrainischen AKWS exklusiv mit Brennstäben beliefern. Dies soll die Abhängigkeit von Russland minimieren, von wo die Reaktoren bisher stammten.
Sicherheitsbedenken zur Technologie hat der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko keine, wie er in einem Gespräch am Rand der Lugano-Konferenz erklärte: »Die heutige US-Technologie ist viel weiter als die der sowjetischen AKWs. Ein Reaktorunfall ist also beinahe unmöglich.« Dafür sieht er einen großen Exportbedarf von Atomstrom in Richtung EU: »Wir haben nach Kriegsbeginn unsere Netze mit der EU synchronisiert und haben nun auch die Möglichkeit, Elektrizität zu exportieren.« Doch auch für Entwicklungen erneuerbarer Energien würden die Türen offen stehen, betonte Haluschtschenko: »Mein Ziel ist es, alle davon zu überzeugen, dass sich die Ukraine als Versuchslabor für die besten neuen Technologien im Energiesektor eignet.«
Die Kosten für den Wiederaufbau schätzte Premierminister Denys Schmyhal in Lugano auf 750 Milliarden US-Dollar. Weil die Kriegshandlungen unvermindert fortdauern, dürften sie aber um ein Vielfaches höher ausfallen. Wer den Wiederaufbau bezahlen soll, darüber haben die ukrainischen Vertreterinnen und Vertreter ebenfalls eine klare Vorstellung: »der Aggressor«. Die Vermögen russischer Oligarchen sollen weltweit eingefroren und beschlagnahmt werden. Schmyhal wiederholte die Forderung mehrfach, auch an der Abschluss-Pressekonferenz mit dem Schweizer Außenminister Ignazio Cassis, einem Vertreter der Banken- und Wirtschaftspartei FDP. Die Forderung stieß bei ihm auf taube Ohren. Cassis setzte stattdessen zu einer Verteidigung des Eigentums an, die ein Menschenrecht sei: »Der Bürger muss vor dem Staat geschützt werden!« Offenbar auch dann, wenn er sich wie die meisten russischen Oligarchen schamlos an kollektivem Besitz bereichert hat.
Peter Korotajew hat bereits darauf hingewiesen, dass die ukrainische Regierung in ihrem Abwehrkampf gegen Russland ökonomisch weiterhin auf ein neoliberales Dogma setze. Dies sei umso erstaunlicher, als dass Staaten in Kriegszeiten üblicherweise stärker auf staatliche Interventionen in den Markt und eine Kollektivierung der Produktion setzten, um möglichst viele Ressourcen im Widerstand zu mobilisieren.
Dass die ukrainische Regierung diese Erfahrung durchaus macht, schilderte in Lugano Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakow. Auf die Frage, ob die Eisenbahn wie vor dem Krieg vorgesehen privatisiert werden soll, meinte er: »Mir scheint es besser, wenn die Eisenbahn nahe beim Staat bleibt.« Im Gegensatz zu den Privatfirmen, die mit der Instandhaltung von Straßen beauftragt sind, sei auf die Eisenbahn bisher Verlass gewesen: Sie ist das entscheidende Transportmittel für Personen und Waren im Krieg.
»Es geht bei diesem Krieg nicht nur um die Verteidigung eines demokratisch verfassten Staates gegen ein autoritäres Regime. Es geht innerhalb der Ukraine auch darum, welche Kräfte sich durchsetzen.«
Dass die Regierung wegen solcher Erfahrungen aber tatsächlich von ihrem Kurs abrückt, zeichnet sich bisher nicht ab. Am 24. August, dem Tag der Unabhängigkeit, hat sie eine Kampagne unter dem Titel »Advantage Ukraine« lanciert. Mit Werbeanzeigen in Großbritannien, den USA und Deutschland sollen globale Konzerne motiviert werden, in der Ukraine zu investieren. Das sprechende Motto vor blau-gelbem Hintergrund: »We are free. We are strong. We are open for business.«
All das zeigt: Es geht beim Krieg von Russland gegen die Ukraine nicht nur um die Verteidigung eines demokratisch verfassten Staates gegen ein autoritäres, nationalistisches, reaktionäres Regime. Es geht innerhalb der Ukraine auch darum, welche Kräfte sich durchsetzen: die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen oder eine Regierung, die in ihrem Land ein neoliberales Versuchslabor sieht.
Gerade deshalb ist es notwendig, die Ukraine nicht als geopolitische Verhandlungsmasse zwischen den westlichen Staaten und Russland zu sehen, sondern die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ukraine selbst zu verstehen und die solidarischen und progressiven Kräfte im Land zu unterstützen. Ebenso wichtig ist auch, deren Forderungen an die westlichen Regierungen heranzutragen – und sich für einen Schuldenerlass einzusetzen, damit die internationalen Kreditgeber nicht mehr den gleichen Druck für neoliberale Reformen aufsetzen können.
Anna Jikhareva ist Politologin und Redakteurin bei der Schweizer Wochenzeitung WOZ.
Kaspar Surber ist Ko-Redaktionsleiter bei der Schweizer Wochenzeitung WOZ. Als Historiker liegt sein Fokus auf postkolonialer Geschichte.