06. Dezember 2022
Der Kapitalismus steckt in der Wachstumskrise. Warum das exportgetriebene deutsche Modell diese Krise nur vertagt und welche Chancen sich für die Gewerkschaften auftun, erklärt Politökonom Lucio Baccaro im JACOBIN-Interview.
Das exportorientierte deutsche Wachstumsmodell lässt die Wirtschaft stagnieren.
IMAGO / Design PicsDer globale Kapitalismus ist im Umbruch. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und des Kriegs gegen die Ukraine zeigen sich Tendenzen, die wirtschaftliche Globalisierung wieder einzudämmen und den Handel stärker nach politischen Gesichtspunkten auszurichten. Hinzu kommt, dass ein wirksamer Klimaschutz einen erheblichen Umbau vieler Industriebereiche notwendig macht. Und schließlich sind auch die Folgen der Digitalisierung noch nicht alle absehbar.
Bis weit hinein in bürgerliche Kreise wird die Frage diskutiert, was das für kapitalistische Volkswirtschaften bedeutet, gerade für ein so exportabhängiges Land wie Deutschland.
Woher kann und soll in Zukunft noch das Wachstum kommen, auf das kapitalistische Ökonomien angewiesen sind? Wo ergeben sich aus den Herausforderungen Chancen für linke Veränderungen? Mit Problemen dieser Art beschäftigen sich Forscherinnen und Forscher aus der internationalen und vergleichenden politischen Ökonomie. Einer von ihnen ist Lucio Baccaro, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln und einer der renommiertesten Politökonomen Europas. Alban Werner hat mit ihm über die Wachstumskrise des Kapitalismus und die Probleme des deutschen Modells gesprochen.
Was bringt es, die politische Ökonomie unter dem Blickwinkel der Wachstumsmodelle zu betrachten?
Unser Ausgangspunkt besteht in der Annahme, dass Kapitalismus Wachstum braucht, dieses aber heute schwieriger zu erreichen ist. Autoren unterschiedlicher Schulen sind sich einig, dass wir in einem Zeitalter der Stagnation leben. Dagegen kann die politische Ökonomie nicht gleichgültig bleiben, denn Wachstum und die Verbreitung seiner Früchte sind historisch die wesentliche Legitimationsstütze des »demokratischen Kapitalismus«.
Wie begreift Ihre Forschungsrichtung die unterschiedlichen Spielarten des Kapitalismus, von denen man seit über zwanzig Jahren spricht?
Auch wir gehen von unterschiedlichen Spielarten aus, aber gelangen dorthin von anderen Grundannahmen kommend. Statt der Mainstream-Ökonomie legen wir postkeynesianische Annahmen zugrunde. Die Spielarten, die wir untersuchen, nennen wir »Wachstumsmodelle«. Sie sind national unterschiedliche Antworten der Volkswirtschaften und Politik auf den Nachfragemangel. Die tiefere Ursache der Stagnation liegt nach unserer Auffassung im Niedergang des lohngetriebenen Wachstums.
Wodurch werden diese Wachstumsmodelle voneinander abgegrenzt?
Wir grenzen die Wachstumsmodelle über die Beiträge zum Wirtschaftswachstum ab. So bezeichnen wir Deutschland als »exportgetriebene Wirtschaft«, weil der Löwenanteil des BIP-Wachstums in den vergangenen drei Jahrzehnten dem Exportwachstum zuzuschreiben ist.
Welcher Wandel führte in die heutige Stagnation?
In der Nachkriegszeit dominierte ein lohngetriebenes Wachstumsmodell. Es beruhte wesentlich auf einer Art Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit, wonach die Produktivitätsgewinne über Tarifverträge auch den Beschäftigten zugutekamen. Offene Handelsbeziehungen und Kapitalverkehrskontrollen sicherten diesen Kompromiss ab.
Als diese Konstellation die Inflation in den 1970er Jahren nicht in den Griff bekam, haben die Arbeitgeber zunehmend diesen Klassenkompromiss aufgekündigt und die sozialen Risiken auf die Beschäftigten geschoben. Der Drang zum sogenannten Shareholder Value, also die Orientierung an den Anteilseignern, hat innerhalb der Unternehmen und gesamtwirtschaftlich den Gewinnanteil zulasten der Löhne vergrößert. Die Löhne wurden von der unveränderlichen zur veränderlichen Größe. Die gesunkene Massennachfrage führt dann in die Stagnation.
Wie antworten die Länder auf diese neue Konstellation?
Wir unterscheiden vor allem zwei Varianten. Eine, die sich etwa in Großbritannien und den USA entwickelte, ist eine Art »privatisierter Keynesianismus«. Das Wachstum beruht in den Ländern mit diesem Wachstumsmodell weiterhin auf der inländischen privaten Konsumnachfrage, die aber zunehmend durch Kredite finanziert wird. Der andere Fall sind exportgetriebene Wachstumsmodelle wie in Deutschland, die auf Auslandsnachfrage beruhen. Dann gab es Länder wie Irland oder Spanien vor der Eurokrise, die durch stark expandierende Häusermärkte wuchsen. In der Peripherie gibt es Länder, die ihr Wachstum der Einbindung in Wertschöpfungsketten oder Nischen in der Weltwirtschaft verdanken.
Was zeichnet das deutsche Wachstumsmodell aus?
In unserem Beitrag dazu nennen Martin Höpner und ich drei Aspekte: Erstens die zurückhaltende Fiskalpolitik, die es auch schon vor der Schuldenbremse und der schwarzen Null gab, und selbst während der Phase der Minuszinsen nach der Finanzkrise. Zweitens das gedämpfte Lohnwachstum und drittens eine konservative Kredit- und Wohnungsbaupolitik. Alles zusammen hemmte Binnenwachstum und Preisauftriebe. Vor dem Hintergrund einer Nachfrage auf den Weltmärkten, die sensibel auf Preise reagiert, verschaffte das dem deutschen Exportsektor Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Anbietern.
Spielt das Wachstumsmodell eine Rolle dafür, wie sich politische und wirtschaftliche Akteure verhalten? Wie viel Absicht ist da im Spiel?
Im Allgemeinen denken die Akteure nicht in den Kategorien dessen, was wir als »Wachstumsmodelle« beschreiben. Einer unserer Doktoranden hier am Institut schreibt dazu eine Arbeit, für die er unter anderem Politiker und Verbandsvertreter interviewt hat. Die Erwartung war gewesen, dass Wahrnehmung und Handlungsorientierung in enger Korrespondenz zur Exportabhängigkeit der Akteure stehen. Dem war dann aber nicht so. Es stellt sich heraus: Die fraglichen Leute orientieren sich an mikroökonomischen Anhaltspunkten. Im Zusammenwirken erzeugen ihre Handlungen aber makroökonomische Effekte, etwa durch Strategien der Kostensenkung.
Das deutschen Wachstumsmodell ist, was die Soziologen eine »emergente« Struktur nennen, es entsteht also aus diesem Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure, ohne Master-Plan dahinter. Trotzdem denke ich, dass es an bestimmten strategischen Stellen durchaus auch Akteure gibt, die über die Wirtschaft im Sinne von Wachstumsmodellen denken und danach ihre Strategien ausrichten. Die Fiskalpolitik nach der Eurokrise gibt zumindest Hinweise in diese Richtung.
Welche Triebkräfte stehen in Deutschland hinter dem Überleben des Wachstumsmodells?
Im Unterschied zu anderen Autoren glaube ich nicht, dass es an der Vorherrschaft ordoliberaler Ideen liegt. Dafür werden diese viel zu flexibel angewendet. Gäbe es einen strikten Ordoliberalismus, müsste die Politik sich eigentlich gegen das Euroregime auflehnen und für flexible Wechselkurse eintreten …
… wie es die frühe AfD um Bernd Lucke und andere Ökonomie-Professoren sowie Sahra Wagenknecht in den Debatten während der Eurokrise taten.
Genau. Auch der Export selbst ist nicht der alleinige Antreiber. Exporte sind eine wichtige Innovationsquelle für die deutsche Wirtschaft, aber sie waren zuletzt nicht Hauptbeitragende zum Wirtschaftswachstum. Deutschland hat zwei bemerkenswerte Entwicklungen erlebt: Nach der Finanzkrise hat die deutsche Wirtschaft Glück gehabt, weil ihr Angebot damals sehr gut zur globalen Nachfrage passte.
Und dann gab es in der Phase vor der Corona-Pandemie, was wir in der Forschung ein »Rebalancing« nennen: Das Wachstum wurde stärker binnen-, und weniger exportgetrieben. Dabei spielten der gesetzliche Mindestlohn, tarifliche Lohnerhöhungen und die Konjunktur im Bausektor eine wichtige Rolle. Allerdings gibt es hier unterschiedliche Einschätzungen zwischen anderen Fachkollegen und mir. Andere schätzen das Rebalancing stärker ein, als ich das tue.
Warum ist das deutsche Modell so zäh und widersteht Änderungen?
Es gibt nicht die eine Antwort, da wirken mehrere Tendenzen zusammen. Vielleicht hat das Regime hegemoniale Eigenschaften im Sinne Gramscis, durch die bestimmte, potenziell gegnerische Akteure eingebunden werden wie die Gewerkschaften.
Ein wichtiger und zu wenig diskutierter Faktor ist der fiskalische Föderalismus. Solange er eine expansivere Ausgabenpolitik blockiert, kann Deutschland schlechterdings nicht aus seinem bisherigen Wachstumspfad »herauswachsen«. Ideologie spielt sicherlich auch eine Rolle.
Dann gibt es womöglich einen Interessenkonflikt zwischen höhen Lohnforderungen in der Gesamtwirtschaft, die für den Wandel zu einem anderen Wachstumsmodell nötig wären, und dem »Betriebsegoismus« von Beschäftigten in einzelnen Unternehmen, die womöglich durch Lohnerhöhungen weniger wettbewerbsfähig würden.
Wie stark ist nach Ihrer Einschätzung das deutsche Wachstumsmodell durch die gleichzeitige Transformation zu Digitalisierung und Dekarbonisierung gefährdet? Oder droht durch die Doppeltransformation eine neue Runde der Zugeständnisse der Gewerkschaften an die Arbeitgeber?
Eine Konzessionspolitik ist nicht auszuschließen, aber letztlich braucht jeder Umstieg ein unterstützendes Bündnis oder eine »Koalition«, wie es in unserem Sammelband genannt wird. Um dieses Bündnis zu schließen, muss man die Interessen der unterschiedlichen Partner berücksichtigen. Man muss ein gemeinsames Interesse gegenüber der Politik vertreten, denn der Umstieg auf dekarbonisierte Produktion wird nicht alleine mit privaten Investitionen gelingen. Es geht letztlich immer um die Fähigkeiten der Unternehmen und um ein Kräfteverhältnis. Manche Unternehmen werden schrumpfen, andere werden untergehen, wieder andere werden wachsen.
Ein Beitrag am Ende unseres Sammelbandes betrachtet diese Frage, indem er »grüne Wachstumsbündnisse« ins Auge fasst. Dabei vergleicht er Deutschland, China sowie USA und Großbritannien, und kommt überraschend zum Ergebnis, dass die Bündnisse für grüne Wirtschaftszweige in Ländern mit höherem Industrieanteil, wie Deutschland und China, erfolgreicher waren als in den angelsächsischen Ländern, denen nach langer Deindustrialisierung die soziale Basis für ein solches Bündnis fehlt.
Die größere Gefährdung des deutschen Wachstumsmodells, die ebenfalls wenig zur Kenntnis genommen wird, sehe ich aber in der Geo- und Handelspolitik, vor allem in der Frage des Marktzugangs.
Daher die Bedeutung von Olaf Scholz’ kürzlichem Besuch in China samt einer mitgereisten Unternehmensdelegation?
Ja. Die öffentliche Debatte hatte sich recht schnell auf die Menschenrechtsaspekte fokussiert. Scholz hatte allerdings die Frage zu Zulieferer- und Absatzmärkten im Blick.
Welche Bedeutung haben die derzeitigen Preissteigerungen für das deutsche Wachstumsmodell?
Jedenfalls geht es nicht in Richtung einer Lohn-Preis-Spirale, wie sie in der Presse des öfteren an die Wand gemalt wurde. Im Gegenteil gehen die Reallöhne zurück, die Wettbewerbsfähigkeit nimmt zu. Durch die Stagnation der Löhne werden wahrscheinlich auch die Importe nach Deutschland stagnieren. Ob auch die Lohnquote zurückgeht, hängt davon ab, wie sich die Produktivität entwickelt.
Was wäre den Gewerkschaften in dieser nicht einfachen Lage anzuraten?
Gewerkschaften, die ihren Job machen, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen, erzeugen damit meistens begrüßenswerte Nebenwirkungen oder »positive Externalitäten«, wie es im Fachjargon heißt. In einigen Studien wird auch ein Zusammenhang aufgezeigt zwischen dem Rückgang des lohngetriebenen Wachstums und industriellem »Upgrading«.
Wenn die Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht durch geringere Löhne steigern können, werden sie zur stärkeren Innovation angetrieben.
Wie ist das Abrücken von SPD und Grünen von der Schuldenbremse und der Politik der Agenda 2010 zu bewerten? Könnte das Ausgangspunkt eines »Rebalancings« hin zu einem binnengetriebenen Wachstumsmodell werden?
Die SPD ändert sich immerhin deutlicher als die PD (Partito Democratico) aus meinem Heimatland Italien. Obwohl aus der PCI (Kommunistische Partei Italiens) hervorgegangen, ist sie heute stark neoliberal geprägt und hat sich ausgerechnet Emmanuel Macron und seine Politik zum Vorbild genommen. Insofern ist die Lage in Deutschland vielversprechender.
Die bisherigen Änderungen werden aber für ein echtes Rebalancing nicht ausreichen, und sie werden auch zu wenig an der großen Ungleichheit in Deutschland ändern. Dazu müsste man den Bereich der privaten Dienstleistungen angehen. Dieser wächst, allerdings gibt es dort im Vergleich zum verarbeitenden Gewerbe und dem öffentlichen Dienst viel weniger Flächentarifverträge und der gewerkschaftlichen Organisationsgrad ist am geringsten. Hier sind Migranten und prekäre Arbeitsverhältnisse stark vertreten.
Nehmen wir an, es würde doch klappen mit dem Rebalancing. Welche Bedeutung hätte dies über Deutschland hinaus?
Eine beachtliche. Die Lage in Eurozone wäre anders, da deren größte Volkswirtschaft nun Nachfrage beitrüge, statt sie abzuziehen.
Der Politökonom Lucio Baccaro studierte und lehrte in Europa, der Schweiz und den USA. Seit 2017 ist er zusammen mit dem Soziologen Jens Beckert als Nachfolger Wolfgang Streecks Direktor am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG). Im Herbst 2022 erschien der von ihm zusammen mit Mark Blyth und Jonas Pontusson herausgegebene Sammelband »Diminishing Returns: The New Politics of Growth and Stagnation« bei Oxford University Press.