05. September 2022
»Dritte Welt« klingt heute abwertend. Doch ursprünglich stand das Wort für ein politisches Projekt jenseits der Rivalitäten des Kalten Krieges.
Im Jahr 1955 trafen sich in der indonesischen Stadt Bandung Delegationen aus 29 neuerdings unabhängigen Ländern zur ersten asiatisch-afrikanischen Konferenz. Sie hatten sich im Kalten Krieg keinem der beiden Blöcke angeschlossen und berieten nun, wie sie sich abseits dieser Rahmenordnung für friedliche Koexistenz und internationale Zusammenarbeit einsetzen konnten.
Bandung war ein symbolträchtiger Ort: Die Bevölkerung hatte die Stadt 1946 verlassen und niedergebrannt – im Protest gegen die Pläne der britischen Regierung, sie nach der Niederlage des Japanischen Kaiserreichs wieder der niederländischen Kolonialherrschaft zu überantworten. Sie wurde unter der antiimperialistischen Regierung von Sukarno, dem ersten Präsidenten Indonesiens, wieder aufgebaut. Das, was als Dritte Welt bekannt werden sollte, nahm hier seinen Anfang.
»Dritte Welt« war damals kein abwertender Begriff, sondern bezeichnete ein ehrgeiziges politisches Projekt, das auf einer moralischen Allianz antiimperialistischer Staaten beruhte, die eine Agenda der wirtschaftlichen Entwicklung, nationalen Souveränität und friedlichen Koexistenz verfolgten. Da diese jungen Staaten weder militärische noch wirtschaftliche Schlagkraft besaßen, fokussierten sie sich auf gegenseitige Hilfe – untereinander und gegenüber jenen Ländern, die den Kolonialismus noch nicht überwunden hatten. Außerdem versuchte diese Gruppe von Staaten, die UNO zu demokratisieren und mit ihren Stimmen zu verhindern, dass die Organisation zu einem weiteren Instrument des Großmachtimperialismus wurde.
»Wir blicken weder nach Osten noch nach Westen. Wir blicken nach vorn.«
– Kwame Nkrumah
Das politische Zentrum des Dritte-Welt-Projekts wanderte entlang der Brennpunkte des antiimperialistischen Kampfes rund um den Globus: von Kairo über Belgrad und Algier bis nach Havanna. Die Unterstützung, die es für die Befreiungskämpfe in Vietnam, Angola, Südafrika, Palästina und zahllosen weiteren Ländern mobilisierte, ist von bleibender Bedeutung.
Die schwerwiegendste Frage, die sich den Führungen der Dritten Welt stellte, war jedoch nicht unbedingt eine des bewaffneten Kampfes, sondern betraf die politische Ökonomie: Wie konnten sie die Industrialisierung vorantreiben, um den Lebensstandard ihrer Bevölkerungen zu erhöhen, während die Weltwirtschaft noch immer auf imperialen Herrschaftsverhältnissen beruhte?
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