13. Dezember 2022
Der brasilianische Fußballer Sócrates war überzeugter Kommunist. Er nutzte den Sport, um der Militärdiktatur die Stirn zu bieten. Die WM in Katar hätte einen solchen Kampfgeist bitter nötig.
Sócrates bei der WM in Argentinien 1982.
IMAGO / ColorsportSócrates kam bei einer Weltmeisterschaft zwar nie weiter als bis zum Viertelfinale, bleibt aber einer der ikonischsten Spieler der Geschichte dieses Turniers. Mit seinen lockigen schwarzen Haaren, dem Che-Guevara-ähnlichen Bart und seiner Körpergröße von 1,90 Metern, mit denen er all seine Gegner überragte, wirkte er durch und durch wie ein echter Revolutionär.
Bei der Weltmeisterschaft in Mexiko im Jahr 1986, wo er einen folgenreichen Elfmeter verfehlte und Brasilien im Viertelfinale gegen Frankreich ausschied, trug er ein aus einer Socke eines Mannschaftskameraden improvisiertes Stirnband, das daraufhin zu seinem Markenzeichen werden sollte. Seine späteren Stirnbänder hatte er mit verschiedenen Slogans versehen – »Die Menschen brauchen Gerechtigkeit«, »Ja zur Liebe, Nein zum Terror«, »Keine Gewalt« –, wobei der erste vielleicht stärkste war. Nach dem Erdbeben in Mexiko-Stadt, das sich ein Jahr zuvor ereignet, Tausende Todesopfern gefordert und die extreme Ungerechtigkeit innerhalb der mexikanischen Gesellschaft aufgedeckt hatte, war das Gastgeberland schwer angeschlagen. Sócrates kam mit einer einfachen Botschaft aufs Spielfeld: »México Sigue En Pie« – »Mexiko steht noch immer«.
Später erklärte Sócrates die Idee dahinter: »Die Katastrophe, die durch ein schreckliches Erdbeben ausgelöst wurde, von dem Mexiko vor Beginn der WM heimgesucht wurde, hat mich dazu veranlasst, zu einem Zeitpunkt, an dem die ganze Welt das Spiel schaut, die Gelegenheit zu ergreifen, um einige kritische Aspekte der sozialen Realität in den Fokus zu rücken.« Die Inspiration für das Stirnband kam ihm, als er im Fernsehen ein junges Mädchen mit einem Diadem sah, und beschloss, gegen »die Absurditäten, die innerhalb menschlicher Gesellschaften existieren, auf meiner Stirn zu protestieren.«
Als er bei einem Spiel gegen Spanien in der Gruppenphase zum ersten Mal ein Stirnband trug und statt der brasilianischen Nationalhymne das Brazilian Flag Anthem [Anm. d. Red.: Patriotische Hymne, die der Naitonalflagge gewidmet ist] ertönte, war er verärgert und abgelenkt. »Jegliche Reaktion gegen Armut, Kriege, Imperialismus, soziale Ungerechtigkeit, weit verbreiteten Analphabetismus und viele andere Dinge wurden überschattet, als ich beim Ertönen des ersten Akkords den Kopf schüttelte und diesem Fehlgriff bloß zuhörte«, räumte er später ein. »Aber es war einen Versuch wert. Es ist immer besser, es zu versuchen, als sich anzupassen, denke ich.«
Sócrates war kein gewöhnlicher Fußballer, und das gilt selbst für eine Zeit, in der das Spiel noch sehr viel näher an seinen gemeinschaftlichen Wurzeln war als heute. Als charismatischer Anführer und kreatives Genie auf dem Spielfeld wurde er in den Augen der Öffentlichkeit wegen seines Engagements abseits des Sports als romantischer Held verehrt. Er rauchte, trank und lebte mit derselben unbekümmerten Nonchalance, die er auch im Fußball an den Tag legte. Er bezeichnete sich selbst als »Anti-Sportler«. Hinzu kam, dass er ausgebildeter Mediziner war, was ihm den Spitznamen »Doktor Sócrates« einbrachte – dieser Gegensatz verstärkte seinen nonkonformistischen Ruf nur noch zusätzlich.
Er verstand dennoch, dass ihm sein sportliches Talent eine Plattform bot, auf der er zu zahlreichen Menschen sprechen konnte. Er war ein intelligenter und umsichtiger Mittelfeldspieler, ein hervorragender Passgeber, aber auch ein extravaganter Torjäger, dessen Hackentricks so geschickt waren, dass Brasiliens dreimaliger Weltmeister Pelé über Sócrates gesagt haben soll, dieser spiele rückwärts besser als die meisten vorwärts. Über die brasilianische Mannschaft, die er bei der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien als Kapitän anführte, wird oft gesagt, sie sei die beste Mannschaft gewesen, die die WM nicht gewonnen habe. Nach einer 2:3-Niederlage gegen den späteren Sieger Italien schied Brasilien in der zweiten Gruppenphase – eine Eigenart der damaligen Zeit – aus, doch Sócrates’ Mitspieler Falcão nannte dieses Spiel »eines der größten Spiele in der Geschichte des Fußballs«.
Nach dem Ende seiner sportlichen Karriere – die Niederlage gegen Frankreich bei der Weltmeisterschaft in Mexiko 1986 war sein letztes Spiel für Brasilien – sagte Sócrates: »In meiner Zeit als Fußballer haben meine Beine meine Stimme verstärkt.« Mit dieser Stimme machte er sich für eine radikale Politik stark und sprach sich gegen Ungerechtigkeiten in Brasilien und im Ausland aus. Obwohl ihn seine Zeit in der Seleção auf der ganzen Welt bekannt gemacht hatte, fiel sein wichtigstes politisches Engagement in die sechs Jahre, in denen er für den Verein Corinthians in São Paulo spielte. Dort wurde er zu einer zentralen Figur der Bewegung Demokratie von Corinthians (Democracia Corinthiana) und stellte sich gegen die brutale Militärdiktatur, die in Brasilien seit 1964 an der Macht war.
Sócrates war anfänglich nur ein widerwilliger Dissident. Er wuchs in einer bürgerlichen Familie auf und sein Vater, Raimundo, war von Bildung geradezu besessen – weshalb er seinen Sohn nach einem antiken griechischen Philosophen benannte. Als Sócrates in seiner Kindheit mitansah, wie Raimundo nach der Machtergreifung des Militärs Bücher über linke Politik zerstörte, prägte ihn diese Erfahrung für den Rest seines Lebens. In einem seiner ersten großen Interviews 1976, als er Anfang zwanzig war, vertrat er dennoch eine unpolitische Haltung und beteuerte sogar, die Zensur sei notwendig, weil ansonsten »die Dinge für die Regierung kompliziert werden würden«. Er war jedoch ein interessierter Leser und bildete sich mit der Unterstützung seines Vaters weiter. Im Zuge dessen setzt er sich verstärkt mit den sozialen Problemen Brasiliens und der immensen Repression durch das Militärregime auseinander.
Als sich Sócrates 1978 der Bewegung Demokratie von Corinthians anschloss, begann er sich für die politische Linke zu interessieren. Er und sein Mannschaftskamerad Wladimir – denen sich später Casagrande, ein weiterer zukünftiger brasilianischer Nationalspieler, begeistert anschloss – führten eine Bewegung an, die mit Unterstützung des Direktors Adilson Monteiro Alves und des Vereinspräsidenten Waldemar Pires eine Form direkter Demokratie im Verein etablierte. Alle Vereinsmitglieder stimmten darüber ab, wie der Klub geführt wurde, und die Spieler konnten über alles per Handzeichen mitentschieden – angefangen bei den Trainingszeiten bis hin zu der Frage, wann der Mannschaftsbus eine Toilettenpause einlegen sollte. Sie lockerten außerdem auch die strengen Regeln der sogenannten Concentração, einer Tradition im brasilianischen Fußball, die vorsieht, dass Spieler vor einem Spiel in einem Hotel oder Trainingslager eingeschlossen werden.
Die Auflehnung gegen die autoritäre Concentração war besonders symbolträchtig und machte die Corinthians zu einer Metapher für die brasilianische Gesellschaft. Sócrates und seine Mannschaftskameraden forderten die Militärdiktatur nicht nur unverhohlen heraus, indem sie demokratische Verhältnisse in einer so hochrangigen Sportinstitution einführten. Sie zeigten auch, dass es sich lohnt, die Apathie und den Individualismus zugunsten einer kollektiven Politik abzulehnen. Der Verein war unter der demokratischen Führung sehr erfolgreich und gewann gleich zweimal – 1982 und 1983 – die Staatsmeisterschaft von São Paulo, das sogenannte Campeonato Paulista. »Der Erfolg unserer Bewegung hatte viele Gründe, aber Sócrates war einer der bedeutendsten«, erklärte Casagrande letztes Jahr gegenüber dem Guardian. »Wir brauchten ein Genie wie ihn, jemanden, der politisch und klug ist und bewundert wird. Er war unser Schutzschild. Ohne ihn hätte es die Demokratie von Corinthians nicht geben können.«
Die Bewegung strahlte schon bald über den Verein hinaus und seine Mannschaftskameraden traten in direkte Opposition zum Regime. Im Jahr 1982 – also noch vor den ersten Mehrparteienwahlen in Brasilien unter der Militärregierung und inmitten des allmählichen Prozesses der sogenannte Abertura (»Öffnung«) – trugen Sócrates und seine Mitspieler auf dem Spielfeld in Trikots mit der Aufschrift »Dia 15 Vote« (»Geht am 15. zur Wahl«). Und bevor sie 1983 den Campeonato Paulista gewannen, betrat die Mannschaft unter der Führung von Sócrates mit einem riesigen Transparent das Spielfeld, auf dem geschrieben stand: »Ganhar ou Perder, Mas Sempre com Democracia« (»Gewinnen oder verlieren, aber immer mit Demokratie«). Gegen São Paulo machte Sócrates in zwei Spielen zwei Tore. Jedes Mal erhob er zum Jubel eine geballte Faust – ein Gruß an die Menschen Brasiliens.
Sócrates beteiligte sich anschließend an der Bewegung Diretas Já (»Direktwahlen jetzt«). Diese wurde von Gewerkschaftern, Arbeitern, Künstlerinnen, Studierenden und einem breiten Querschnitt der brasilianischen Gesellschaft unterstützt, brachte Millionen Menschen auf die Straße und war eine treibende Kraft hinter dem Übergang zur Demokratie, der im Jahr 1985 erfolgte. In einem Moment, der Sócrates’ ikonischen Status prägen sollte, stand er vor einer riesigen Menge von Demonstrierenden in São Paulo auf einer Bühne. Während italienische Clubs gerade versuchten, ihn abzuwerben, versprach er, dass er Brasilien nicht verlassen würde, wenn eine Verfassungsänderung, die freien Wahlen den Weg ebnen würde, verabschiedet werden würde. Die Verfassungsänderung wurde vorübergehend abgelehnt und Sócrates reiste aus Trotz zum toskanischen Fußballclub Fiorentina. Nach seiner Ankunft in Italien soll man ihn gefragt haben, welchen Spieler der obersten Liga er am meisten bewundere, Sandro Mazzola oder Gianni Rivera. »Ich kenne sie nicht«, soll er geantwortet haben. »Ich bin hier, um Gramsci im Original zu lesen und mehr über die Geschichte der Arbeiterbewegung zu lernen.«
Für viele Brasilianerinnen und Brasilianer ist Sócrates immer noch ein Idol. Eine von ihnen ist Rosie Siqueira von Fiel Londres, einem Corinthians-Fanclub in London. »Er war seiner Zeit weit voraus. Seine Ideale und seine Perspektive auf soziale Fragen und die Politik haben so vielen Fans die Augen geöffnet, das gilt nicht nur für Corinthians-Fans, sondern auch für brasilianische Fans«, meint sie. »Er war auch eine Leuchtfigur für die soziale Sache. Er hat die Spieler und das Personal des Vereins stark beeinflusst. Sócrates war ein Linker, der sich gegen die Militärdiktatur in Brasilien aufgelehnt hat und die Freiheit und das Recht auf Meinungsäußerung verteidigte ... Das gibt es im Fußball nicht häufig, weder in Südamerika noch weltweit.«
Die Veränderungen, die Sócrates in dem Verein vorangebracht hat, sind gut dokumentiert, doch die grundlegende Bedeutung, die er für die Identität des Vereins – und die der Fans – trägt, wird oft übersehen. »Wir sind stolz darauf, dass wir einer der wenigen Vereine sind, die ein so schönes Kapitel in unserer Geschichte haben«, sagt Siqueira. »Die Botschaft dahinter wird den Verein immer begleiten und uns immer wieder an unsere Geschichte, unsere Herkunft und unser Ziel erinnern. Die Mitglieder des Vereins kommen aus armen Verhältnissen, es sind Migranten und Menschen aus der Arbeiterklasse. Das sollten wir nie vergessen. Die Bewegung Demokratie von Corinthians auf den Seiten unserer Vereinsgeschichte zu haben, wird uns dabei helfen, dieses Ideal am Leben zu erhalten.«
Im Jahr 2011 starb Sócrates im Alter von 57 Jahren, nachdem er mit Alkoholismus zu kämpfen hatte. Am selben Tag errangen die Corinthians den brasilianischen Meistertitel. Auch im Alter setzte er sich für radikale Politik ein, war nach seinem Rückzug aus dem Fußball als Arzt und Experte, Schriftsteller und Dozent tätig. Während dessen ersten Amtszeit unterstützte er Luiz Inácio Lula da Silva, der ebenfalls eine wichtige Figur in der Bewegung für Direktwahlen gewesen war und zufälligerweise auch ein Corinthians-Fan ist. »Seine Regierung war die beste in der Geschichte Brasiliens«, meinte Sócrates einmal. Unkritisch war er allerdings nie. Als er aufgefordert wurde, Lulas Präsidentschaft zu bewerten, sagte er: »Keine 10, dafür müsste man alles auf einmal ändern. Ich würde sagen, eine 7 oder eine 8. Das ist ziemlich gut.«
Die brasilianische Nationalmannschaft ist heute zu einem Symbol der politischen Spaltung geworden, die von ideologischen Verwerfungen zerrissen wird. Vor den Parlamentswahlen im Oktober, die der wiedererstarkte Lula gewonnen hat, ermutigte der ehemalige rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro seine Wählerinnen und Wähler dazu, das berühmte kanariengelbe Trikot der Nationalmannschaft zu tragen. Seine Anhängerschaft hat es sich seither als Symbol für Kundgebungen und Proteste der Bolsonaro-nahen Partei angeeignet. Viele Brasilianerinnen und Brasilianer, die Bolsonaro ablehnen – dessen Anhängerschaft seit Lulas Sieg eine Wiederholung des Militärputsches von 1964 einfordert –, tragen das Trikot seither nicht mehr. Der Umstand, dass mehrere prominente brasilianische Nationalspieler, allen voran Neymar, Bolsonaro offen unterstützt haben, hat sein Übriges getan. Laut Lula hat der Stürmer von Paris Saint-Germain Bolsonaro aus steuerlichen Gründen unterstützt.
»Angesichts der aktuellen Lage ist Sócrates immer noch eine enorm wichtige Figur«, sagt Andrew Downie, Journalist und Autor des Buches Doctor Sócrates. »In Brasilien hört man viele Menschen Dingen sagen wie: ›Wie sehr bräuchten wir gerade einen Mann wie Sócrates, der sich für soziale Belange, für Menschenrechte, für Demokratie und progressive Positionen einsetzte‹. Vor allem während des Wahlkampfs, als Typen wie Neymar Bolsonaro unterstützten, war so etwas häufig zu hören ... Er war ein Mann, der für das eintrat, was er für richtig hielt.«
Mehrere ehemalige Fußballspieler stehen hinter Lula, vor allem Sócrates’ alter Freund Casagrande und sein jüngerer Bruder Raí, der selbst ein fantastischer Spieler ist – und im Gegensatz zu seinem Bruder Weltmeister wurde. Bei der Verleihung des ersten Sócrates-Preises im Rahmen der Ballon d’Or-Zeremonie, die den Weltfußballer des Jahres kürt, formte er vor der Präsidentschaftswahl ein »L« mit seiner Hand. »Wir wissen alle, auf welcher Seite Sócrates stehen würde«, sagte er lächelnd.
Angesichts der Aggressivität, mit der die FIFA in Katar selbst die harmlosesten Gesten für Gleichberechtigung unterbindet, schreit die diesjährige Weltmeisterschaft nach einem Spieler, der den Geist von Mexiko 1986 heraufbeschwört. Die Brasilianerinnen, die den Bolsonaro-Anhängern das Trikot der Nationalmannschaft – und generell ihre nationalen Symbole – entreißen wollen, erinnert Sócrates daran, dass die extreme Rechte niemals ein Monopol auf das Erbe der Nationalmannschaft haben wird. »Wir haben Bolsonaro bei dieser Wahl besiegt, aber das bedeutet nicht, dass der Bolsonarismo damit erledigt ist. »Den Sexismus und den Totalitarismus gibt es in Brasilien noch immer«, erklärt Siqueira. »Ich bin überzeugt, dass Fußball wie immer eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielt und wir den Geist von Sócrates daher weitertragen müssen.«