08. April 2022
Wirtschaftliche Prognosen liegen immer wieder daneben. Dennoch bleibt der Glaube an sie ungetrübt. Dabei wusste schon Keynes: Vorhersagen sind weder wissenschaftlich noch verlässlich.
Mit Prognosen den Durchblick bewahren? Ökonomen wie Keynes haben dargelegt, warum darauf kein Verlass ist.
Nachdem Olaf Scholz kürzlich bei Anne Will harsche Kritik an den Wirtschaftswissenschaften übte, ist unter Ökonominnen und Ökonomen eine hitzige Debatte entbrannt. Es sei »unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht funktionieren«. Das hat gesessen. Scholz hat damit allen Ökonominnen und Ökonomen, die anhand diverser Gleichgewichtsmodellierungen keinen allzu dramatischen Einbruch der Wirtschaft durch ein Energieembargo voraussagten, eine herbe Absage erteilt. Die Gegenreaktionen ließen auch nicht lange auf sich warten und fielen ebenso harsch aus. Sogar »Wissenschaftsfeindlichkeit« wurde Scholz unterstellt.
Da stellt sich die Frage, inwiefern dieser Vorwurf gerechtfertigt ist. Die Antwort darauf lautet: gar nicht. Denn es ist völlig legitim, sich bei derartigen Entscheidungen, die unter hoher Unsicherheit gefällt werden und mit enormen Konsequenzen einhergehen, nicht auf Modellprognosen zu verlassen. Andererseits stellt sich die Frage, ob es überhaupt die primäre Aufgabe der Ökonomik ist, mit Modellen (mehr oder weniger) präzise die Zukunft vorherzusagen. Die moderne Ökonomie vermittelt einem ohne Frage diesen Eindruck. Und sofern man der dominanten neoklassischen Denkschule nicht folgt, hat man keine Chance auf akademische Posten. Inwiefern man bei so viel intellektueller Homogenität überhaupt von »Wissenschaft« sprechen kann, die ja definitionsgemäß ein »Entwerfen und Verwerfen« von Theorien ist, sei einmal dahingestellt. Doch man sollte diesen wissenschaftlichen Konformitätsdruck immer im Hinterkopf behalten, wenn konservative Blätter – allen voran die FAZ – auf die »überschaubaren akademischen Meriten« heterodoxer Ökonominnen und Ökonomen verweisen.
Die grundsätzlichere Frage ist, ob Ökonominnen und Ökonomen zwangsläufig damit betraut sein müssen, Prognosen zu erstellen. Die Antwort lautet: Nein. Und das wussten bereits Keynes und Schumpeter. Fangen wir mal bei Keynes an, denn wenn man ihn beim Wort nimmt, dann ist eine Ökonomie, die alles auf Mathematik und Prognosen setzt, zum Scheitern verurteilt.
Keynes wichtigstes Argument war, dass die Zukunft fundamental ungewiss ist. Daher sind präzise Vorhersagen von vornherein unmöglich. Gerade in einer Geldwirtschaft, in der alle Akteure über finanzielle Beziehungen miteinander verwoben sind, hat das besonders weitreichende Folgen. Der Ökonom Hyman Minsky, der auch an der Wall Street aktiv war, verstand dies nur allzu gut und interpretierte Keynes’ Argument hinsichtlich der Dynamiken der Finanzmärkte: Da die Zukunft ungewiss ist, müssen alle Akteure in einer kapitalistischen Gesellschaft ihre Entscheidungen auf Basis von Informationen aus der Gegenwart und Vergangenheit treffen, so Minsky. Die Annahme über die Zukunft ist, dass sich gegenwärtige Trends fortsetzen. Jede Entscheidung ist daher nichts anderes als eine »eine Wette«.
Da solche Zukunftsprognosen jedoch »plötzlichen und heftigen Veränderungen unterworfen sind«, bedeutet dies, dass all die Methoden, die wir zu unserer Entscheidungsfindung einsetzen, »jederzeit einsturzgefährdet sind«, so Keynes. Und das wiederum sorgt für inhärente Instabilität. Keynes unterscheidet dabei zwischen »subjektiven Wahrscheinlichkeiten« (»subjective probabilitities«) und dem »subjektiven Vertrauen« (»subjective confidence«) in verschiedene mögliche, zukünftige Szenarien. In einer sich ständig verändernden Welt führen beide Faktoren zu erheblichen Verwerfungen und haben sich selbst verstärkende Trends zur Folge.
Um einmal ein Beispiel zu nennen: Wenn etwa auf dem Finanzmarkt die Preise steigen, dann bestärkt das zum einen die Trends der Vergangenheit und zum anderen den Glauben in die eigene Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen. Das wiederum beflügelt den eigenen Optimismus, woraufhin man darauf setzt, dass die Preise weiter steigen werden (»subjektive Wahrscheinlichkeit) und man sich dieser Tendenz auch sehr sicher ist (»subjektives Vertrauen«). Dadurch verschiebt sich die Verschuldungsstruktur, was sich spätestens dann bemerkbar macht, wenn irgendwann Zweifel über die Bewertung eines Unternehmens oder die Bedienung des Cashflows der Geschäftspartnerinnen und Geschäftspartner aufkommen. Wenn die Stimmung auf den Märkten kippt, dann setzen dieselben sich selbst verstärkenden Tendenzen ein, was einen Abschwung zur Folge hat. In der Realwirtschaft zeigen sich ähnliche Dynamiken, wenngleich sie weniger dramatisch einschlagen als auf den Finanzmärkten.
Gleichgewichte sind sehr fragil – wenn sie denn überhaupt zustande kommen. Keynes bezeichnet sie daher auch als Ausnahme: »Die Merkmale des Sonderfalls, den die klassische Theorie unterstellt, haben nichts mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben. Deshalb führt diese Lehre in die Irre und ist sogar verhängnisvoll, wenn wir versuchen, sie auf erfahrbare Tatsachen anzuwenden.«
Ohne Tendenz zum Gleichgewicht ist es jedoch unmöglich, präzise Prognosen zu berechnen. Und daher schlussfolgerte Keynes, dass Prognosen keine »wissenschaftliche Basis« haben können. Keynes war einer der bedeutendsten Ökonomen unserer Zeit – und auch er war sich sicher, dass auf Zukunftsprognosen, die auf ökonomischen Modellen basieren, kein Verlass ist.
Auch Joseph Schumpeter übte Kritik an der Neoklassik, wenngleich aus anderen Gründen. Zwar nutzen Ökonominnen und Ökonomen im Zusammenhang mit großen technologischen Umbrüchen den Begriff der »schöpferischen Zerstörung« oft und gerne, doch haben viele nicht im Ansatz begriffen, was er bedeutet – denn ansonsten würden sie all ihre Gleichgewichtsmodelle direkt über Bord werfen.
Schumpeter zufolge entwickeln sich Wirtschaften endogen, also aus sich selbst heraus. Das geschieht nicht durch die Anpassung der Produktion an die gegebenen relativen Preise von Arbeit und Kapital (Gleichgewichtsökonomie), sondern durch eine Neukombination der Produktionsfaktoren. Wenn eine Pionierin etwas anders macht, entsteht Innovation (also eine neue Produktionsmethode, ein neues Produkt, eine neue Organisationsform). Innovation verschafft der Pionierin also einen Produktivitätsvorsprung auf dem Markt, Konkurrierende müssen sich entsprechend anpassen. Das wiederum führt zu einer Erneuerung der Produktionsstrukturen, höherer Produktivität und damit zu höheren Lebensstandards.
Innovation ist also nicht als Optimierung der Produktion zu verstehen – so wie es das neoklassische Effizienzdenken postuliert. Innovation ist das Ergebnis einer Neukombination der Produktionsfaktoren, für die es in der Neoklassik keinen Raum gibt. Doch Innovationen treiben auf diese Weise die Entwicklung an. Da die Zukunft fundamental anders ist als die Gegenwart und die Vergangenheit, kann sie nicht mittels Daten aus dem Vergangenen vorhergesagt werden. Für Schumpeter ist die Gleichgewichtsökonomik daher »leer und nichtssagend«, weil sie diese Dynamik ignoriert. Wirtschaften streben immer aus dem Gleichgewicht heraus, sobald sich Innovationen entwickeln.
Die Schlussfolgerung bei Schumpeter ist dieselbe wie bei Keynes: Da man Entwicklung als Abfolge von Ungleichgewichten begreifen muss und es ohne kurz- oder langfristiges Gleichgewicht keine zuverlässige Prognose gibt, sind Zukunftsprognosen – vor allem wenn sie über längere Zeiträume hinweg reichen – weder wissenschaftlich noch zuverlässig. Für kurze Zeiträume, die Schumpeter als »Anpassung« definierte, kann man sie allerdings durchaus verwenden – gleichwohl in dem Wissen, dass unvorhergesehene Umstürze, Krisen, Katastrophen oder Entdeckungen diese Prognosen obsolet werden lassen können.
Mit solchen Ansichten würden Schumpeter und Keynes heute als »Vulgärökonomen« abgestempelt und diffamiert werden. Wirtschaftspolitische Ratschläge lassen sich dennoch auch auf Basis eines keynesianischen und schumpeterianischen Verständnisses der Wirtschaft formulieren. Nur beruhen diese Ratschläge dann eben auf einem dynamischen Verständnis, das sich nicht in ein mathematisches Korsett zwängen lässt und die sozio-ökologische Einbettung der Märkte berücksichtigt.
Keynes entwickelte ganz ohne Prognosemodell das einzige globale Währungssystem in der Geschichte der Menschheit, das jemals funktionierte (trotz einiger Macken). Wenn man ein System wie Bretton Woods heute etablieren wollen würde, dann würden Ökonominnen und Ökonomen vermutlich vor allem die Markteinschränkungen kritisieren und ganz präzise ausrechnen, um wie viele Prozentpunkte das BIP reduziert werden würde. Keynes würde ihnen vermutlich entgegnen: »It’s better to be roughly right than precisely wrong« – und angesichts der miserablen Performance der Prognosemodelle in der Finanz- und Eurokrise sowie in der Entwicklungspolitik hätten sie dem wenig entgegenzusetzen.
Auch Minsky entwickelte eine Reihe wirtschaftspolitischer Forderungen. Aufgrund der inhärenten Instabilität des Kapitalismus braucht es ein Umfeld, in dem Unternehmen und Haushalte viel Planungssicherheit haben, damit sie investieren und Geld ausgeben können. Einfache Regeln für ein komplexes System – das war seine Leitlinie. Er plädierte auch für einen aktiveren Staat bei Investitionen, denn öffentliches Kapital ist für gewöhnlich weniger volatil als privates. Doch selbst wenn man diese Grundsätze befolgen würde, gäbe es immer noch unvorhergesehene Ereignisse, die es zu managen gelte.
Von Schumpeter können wir ebenfalls lernen, dass es staatliche Eingriffe braucht, damit die Wirtschaft funktioniert. Es braucht einen Wettbewerbsrahmen, in dem sich die innovativsten Firmen durchsetzen und nicht diejenigen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnsenkungen erhöhen.
Patrick Kaczmarczyk promovierte am Institut für politische Ökonomie in Sheffield (SPERI) und war Visiting Scholar an der Sciences Po Paris. Zuletzt arbeitete er als Berater für die Vereinten Nationen. Im Februar erschien sein Buch »Kampf der Nationen« im Westend Verlag. Im Beitrag gibt er ausschließlich seine persönlichen Ansichten wieder.
Patrick Kaczmarczyk ist Ökonom an der Universität Mannheim, wirtschaftspolitischer Berater bei der UNCTAD und Autor des Buches Raus aus dem Ego-Kapitalismus (Westend, 2023).