28. November 2020
Maradona verzauberte die Massen durch sein großartiges Fußballspiel. Doch er war auch ein Vorkämpfer der Armen und Vergessenen in der Welt.
Maradona beim Schlussjubel zur Weltmeisterschaft 1986.
In meiner Facebook-Timeline sehe ich am Mittwochabend unzählige Handy-Videos von Freundinnen und Freunden auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, dort wo sich immer alle zu den großen Demos versammeln. Sie tragen die Flagge Argentiniens, singen, weinen und lachen. Kurz davor war der Tod Diego Maradonas bekannt geworden. Ja, es ist noch Corona, und sie waren monatelang zu Hause – in Argentinien herrscht der härteste Lockdown der Welt –, aber in dieser Nacht können sie nicht daheim bleiben.
Noch nie hat der Tod eines Sportlers derartige Reaktionen ausgelöst. Auch in Neapel, wo Maradona in den 1980er Jahren gespielt hatte, versammeln sich Tausende Menschen am Stadion. In den sozialen Medien bekundeten alle, wirklich alle Fußballer und viele Sportler ihre Anteilnahme. Maradona war vielleicht der größte Fußballer aller Zeiten, aber er war noch mehr als das: Er war der letzte Held des 20. Jahrhunderts.
Als Sohn einer armen Familie mit acht Kindern gelangte Maradona durch seine Genialität am Ball zu Weltruhm. Er gewann Meisterschaften in Argentinien und in Europa, und auch den wichtigsten Titel: die Weltmeisterschaft 1986. Seine Popularität verdankte er der Art, wie er spielte: Er war kreativ, klein aber quierlig – sein Agieren am Ball war nicht nur auf Effizienz ausgerichtet, sondern auf das schöne Spiel und das Verzaubern des Publikums. Nach der brasilianischen goldenen Generation der 1980er war Maradona die Speerspitze dessen, was der Meistertrainer César Luis Menotti als den »linken Fußball« bezeichnete: ein Spiel, das nicht nur auf den persönlichen Erfolg ausgerichtet ist, sondern auf den Genuss der Massen, auf die Begeisterung, auf die Gefühle auf den Rängen.
Maradona war auch neben dem Spielfeld und lange über seine aktive Spielzeit hinaus immer darauf aus, Freude in das Leben zu bringen – vor allem in das harte Leben der Armen und Vergessenen. Sein Aufstieg fiel in die Zeit, in der Fernsehen und Live-Übertragungen auch in den Globalen Süden kamen. Anders als noch bei Pelé oder Johan Cruyff konnten ihn nun alle sehen.
Auf dem Weg zur Weltmeisterschaft 1986 besiegte Maradona England im Alleingang. Zunächst Maradonas legendäres Handtor – damals gab es noch keine Video-Schiedsrichter. Später bezeichnete er es bekanntermaßen als die »Hand Gottes«. Kurz darauf nahm er den Ball in der eigenen Hälfte, dribbelte die ganze englische Mannschaft aus und erzielte das 2:0. Dieses Tor gilt als das schönste und meisterhafteste Tor der Fußballgeschichte.
Um die Bedeutung des Geschehens zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Militärdiktatur in Argentinien, nachdem sie sieben Jahre geherrscht und zehntausende Oppositionelle massakriert hatte, im Jahr 1983 abgedankt war. Der letzte Akt der brutalen Militärs war ein Krieg gegen eben dieses England um die Falklandinseln, der blamabel verloren ging. Mit diesen zwei überirdischen Toren stellte Maradona die Ehre der von der ehemaligen Imperialmacht Nummer 1 so geschundenen Nation auf dem Rasen wieder her.
In seiner Zeit beim SSC Neapel, einer in den 1980er Jahren mittelmäßigen Mannschaft, gewann Maradona zwei Mal die italienische Serie A, die damals stärkste Liga der Welt. Neapel ist nicht nur Symbol des armen Südens von Italien, sondern auch die Geburtsregion des modernen Argentinien: Die süditalienischen Einwanderer waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die größte Migrationsgruppe nach Argentinien. Er kam also quasi nach Hause, und machte den schwachen SSC Neapel zum Meister gegen Inter Mailand, die Mannschaft aus dem reichen Norden. Seine Größe als Fußballer zeigt sich daran, dass er, ohne seine Mitspieler zu brüskieren, quasi im Alleingang Argentinien zur Weltmeisterschaft und den SSC Neapel an die Spitze der italienischen Liga führte.
Allein deshalb verehrten ihn die Armen in Argentinien und Italien wie eine Madonna. Dazu kommt noch seine politische Geschichte, die erst nach seiner Zeit als aktiver Fußballer so richtig beginnt. Er zeigte sich als eine politische Figur an der Seite sozialistischer Bewegungen in Lateinamerika. Stolz präsentierte er das Tattoo von Che Guevara auf seinem Arm, traf sich zu vielen Anlässen mit Castro, Chavez, Morales und den Kirchners. Er sprach sich unmissverständlich gegen den westlichen Imperialismus aus und stand immer auf der Seite der linken und antiimperialen Bewegungen. »Genosse des globalen Südens« titelte The Nation über diesen Helden, der kurz vor seinem Tod noch sagte: »in meinem Herzen bin ich Palästinenser«.
Kein Spitzensportler hat sich politisch so klar positioniert wie Maradona. Das verlieh ihm seine einzigartige Rolle als globale Identifikationsfigur und erklärt seine Popularität als Volksheld, besonders in Lateinamerika. »Wir, die Großmütter, verabschieden Diego Maradona. Der Diego des Volkes, der die Ungerechtigkeiten und die Schmerzen von so vielen wiedergutgemacht hat. Der solidarische Diego, der die Wahrheit aussprach, egal was die Konsequenzen waren« schrieb die Organisation der »Abuelas de Plaza de Mayo«, die Mütter der Verschwundenen aus der Zeit der Militärdiktatur, vielleicht die wichtigste Organisation der linken Bewegung in Argentinien.
Am Ende war es seine Drogensucht, die ihn schließlich zerstörte, ihm aber auch Kultstatus verlieh. Er starb sehr jung – mit 60 –, sodass die Milliarden, die er verzaubert hatte, sich noch gut an ihn erinnern können. Er war eben keine saubere und gelackte Charity-Millionärs-Figur wie Michael Jordan oder Lionel Messi. Seine Familie war zerrüttet, sein Privatleben fand keine gerade Linie, er konnte keine Ruhe finden in dieser Welt. Das ist vielleicht die heimliche Note, die ihn zum letzten Helden macht: Wir sehen in ihm nicht nur die Schönheit seines Spiels, sondern auch die Leiden dieser ungerechten Weltordnung, die wir alle, aber besonders die Armen und Verlorenen dieser Erde tagtäglich erfahren müssen.
Diego Armando Maradona war nicht nur die vollendete Sublimierung des populärsten Sports der Welt, er blieb ein Spiegel all des Leidens in den Slums, aus denen er selbst kam. Er gab uns alles, was er konnte, als Fußballer und als politische Figur. Manu Chao fand die schönsten Worte für ihn zu seinem 58. Geburtstag: »Wenn ich Maradona wäre, würde ich genauso leben wie er«.
Adiós Diego, nicht nur Argentinien trauert um Dich.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Beitrags stand fälschlicherweise Argentinien hätte England bei der Fußball-WM 1986 mit einem 1:0 anstatt mit einem 2:0 besiegt.