15. September 2020
Über Wege und Umwege zur Zukunft.
Ich arbeite bei einer Zeitung. Ihr Geschäft sind Neuigkeiten. Menschen kennen zwei Sorten Neues: Sie entdecken, was es auch ohne sie gibt, oder sie erfinden, was es ohne sie nicht gäbe. Die erste Sorte gehört der Wissenschaft, die zweite der Technik und der Kunst. Ich bin im Feuilleton beschäftigt, da geht’s um Kultur, etwa Kino. Im Februar 2016 war ich in Berlin, weil dort gerade, wie jedes Jahr, das größte deutsche Filmfest veranstaltet wurde. Auf dem Flur der Berliner Zweigstelle der Zeitung stand plötzlich ein Kollege vor mir, der sich ärgerte, weil er einen Filmfestartikel geschrieben hatte, der nicht auf der ersten Seite des Feuilletons stehen sollte, obwohl der Verfasser ihn für wichtig hielt. Die Frankfurter Redaktion wollte aber was anderes prominent drucken – der Mann schimpfte: »Man hat irgendwelche Teilchen gefunden, im Weltraum, das braucht doch niemand.«
Auf meine Nachfrage, was das denn für Teilchen seien, reagierte er gereizt. Ich sah im Netz nach. Von wegen Teilchen: Gravitationswellen waren gemessen worden, erstmals. Das sind Kräusel in der Raumzeit, deren Existenz schon rund hundert Jahre vorher Albert Einstein aufgrund einer Herleitung aus seiner Allgemeinen Relativitätstheorie vermutet hatte.
Weit weg von der Erde waren zwei schwarze Löcher zusammengestoßen. Den Schwerkraftwelleneffekt der Kollision hatten menschengemachte Instrumente im September 2015 registriert, nach langer Prüfung erfuhr jetzt die Öffentlichkeit davon.
Die Allgemeine Relativitätstheorie handelt vom Verhältnis zwischen großen Massen einerseits und der Raumzeit andererseits, auch von der Form des Universums insgesamt. Dass wir Affen am Arsch des Kosmos eine solche Theorie erfinden und sogar per Messung überprüfen können, ist wichtiger als jeder Filmfestartikel. Warum wusste der Kollege das nicht? Braucht solches Wissen, wie er sagte, »niemand«?
Wer heute mit dem Auto fährt, nutzt (falls das Auto ein Navi hat) unter anderem das Global Positioning System (GPS), das mit Satelliten arbeitet, die von ihrer Umlaufbahn aus die Bewegung von Objekten auf der Erdoberfläche verfolgen. In ihrer Software steckt Einsteins Theorie. Jeder Tag läuft für einen Satelliten etwa 45 Mikrosekunden schneller ab als für ein Auto auf dem Boden. Das liegt an der größeren Entfernung von der Schweresenke. Rechnet man die Abweichung nicht ein, summiert sie sich als Raumgröße täglich auf etwa zehn Kilometer, das GPS wird nutzlos.
Fast alle Leute, die ich kenne, finden normal, dass fast alle Leute, die sie kennen, nicht wissen wollen, wie die Welt funktioniert: Schwerkraft, Kapitalismus, Geschlechterverhältnisse, Natürliches wie Menschengemachtes – »das braucht niemand«.
Karl Marx dachte anders. 1866 schrieb er ins Programm einer kommunistischen Organisation, der er angehörte, die Forderung, man solle eine für alle Kinder zugängliche »polytechnische Erziehung« einrichten, »welche die allgemeinen wissenschaftlichen Grundsätze aller Produktionsprozesse mitteilt, und die gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und in die Handhabung der elementarischen Instrumente aller Geschäfte«. Das Ideal des selbstbestimmten Menschen, der informiert mitentscheiden kann, wie die Gesellschaft ihren Reichtum produziert und verteilt, war vor Marx ein bürgerliches. Bürger wollten mittels Fleiß, Selbstdisziplin und Sparsamkeit einen Zustand erreichen, in dem niemand sie erpressen oder herumschubsen kann, keine Chefin, kein Vermieter, keine Adlige.
Das ist vorbei. Jede neue Hypotheken-, Banken- oder Coronakrise frisst mehr Kleinvermögen: Die Mieterin zahlt die Miete nicht, der kleine Vermieter (etwa ein Zahnarzt mit drei Wohnungen als Alterssicherheit) muss daher die Wohnung an den Immobilienkonzern verkaufen. Jetzt hat er, wie seine bisherige Mieterin, kein Wohneigentum, und der Konzern hat immer mehr. Sparen bringt Negativzinsen. Wer ein bisschen Geld auf die Seite legen kann, muss es den Reichsten für ihre Börsenspiele leihen (»anlegen«). Die Mehrheit des Kleinbürgertums frisst das blind und stumm oder gibt der Migration, George Soros oder den Linken mit ihren Mietbremsen die Schuld. Das Kleinbürgertum verblödet, während es verarmt. Ein Akademiker in Mitteleuropa weiß heute weniger über die Funktionssysteme, von denen er abhängt, als ein durchschnittlicher Arbeiter in derselben Gegend um 1900 über seine Klassenlage wusste. Hat so ein Gemeinwesen eine Zukunft?
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Dietmar Dath ist Publizist, Pop- und Filmkritiker bei der FAZ und Schriftsteller. Er hat zahlreiche Romane (Die Abschaffung der Arten, 2008, Gentzen oder: Betrunken auf- räumen, 2021) und Sachbücher (Maschinenwinter, 2008, Der Implex, 2012) geschrieben. Zuletzt erschien Miley Cyrus (2024).