08. Dezember 2022
Wer hat den Intellekt versteckt?
Ein Essay über Wissen und Können in der gegenwärtigen Klassengesellschaft.

»Positives Wissen« ist heute statistisches Datengetreide in den Silos von Big Data, und über Zweckbestimmungen wird dabei kaum geredet, das wäre schließlich »nicht objektiv«.
Illustration: Andy KingVon Dietmar Dath
The fight to win and
Change the mind of Man
Against the corruption of centuries
Of feudal-bourgeois, capitalist ideas
The fusion of courage and clarity
Of polemic against misleaders
— Claudia Jones
amerikanisch-britische Kommunistin afro-karibischer Herkunft
Eins: Künstliches Blut und natürliche Bäume
Menschen finden viel heraus und können deshalb einiges. Ihre Köpfe sind fähig zur Kritik am Vorhandenen. Wenn sie entdecken, dass das Leben Wasser braucht, beten sie dieses Wasser nicht einfach an, sondern erkennen auch seine Mängel: Es ist unter anderem schlecht geeignet, Gase zu speichern. So erschaffen Menschen neues, »poröses« Wasser mittels maßgeschneiderter löchriger Nanokristalle. Die neuen Poren im Wasser können dann Sauerstoff und Kohlendioxid in Mengen aufnehmen, bei denen gewöhnliches Wasser versagen müsste. Das ist potenziell nützlich für die Energiewirtschaft oder für die Medizin, möglicherweise wird aus Wasser damit sogar ein Ersatzstoff für Blut.
Menschen können auch in Ordnung bringen, was sie in ihrer Umwelt angerichtet haben. Eine Zypressenart namens Widdringtonia whytei, die in der Gegend um den Mulanje-Berg in Malawi wächst, war 2019 schon fast ausgestorben. Es standen noch sieben Stück frei herum, aber menschliches botanisches Geschick hat sie kräftig bei der Reproduktion unterstützt, und Ende September 2022 gibt’s schon wieder eine halbe Million davon.
Reproduktion (etwa von Bäumen) und Produktion (etwa von neuen Substanzen wie dem porösen Wasser) sind Prozesse, die sich je nach Motivlage per Informationsverarbeitung auf Zweckbestimmungen hin optimieren lassen. Wer etwas aus einem Grund produziert oder reproduziert, der nicht nur die eigenen Wünsche, sondern auch die Tatsachen berücksichtigt, kann dieses Handeln anpassen, wenn sich Tatsachen verändern oder neue Wünsche aufkommen. Die Welt steht ja nie still. Wer allerdings zu unvernünftigen Zwecken Zeug produziert und reproduziert, also aus Gründen und mit Begründungen, die an den Tatsachen oder den Wünschen vorbeigedacht sind, wird scheitern.
An dieser brenzligen Stelle sollte ich für den skeptischen Teil des Lesepublikums, also für die Erfahrungs- und Erkenntniskritischen, dringend definieren, was ich mit dem Wort »Tatsachen« meine. Seit Erfindung des sogenannten Positivismus durch Auguste Comte im 19. Jahrhundert und forciert noch einmal seit der Folgezündung des Neopositivismus durch den Wiener Kreis um die Philosophen Moritz Schlick und Rudolf Carnap im frühen 20. Jahrhundert gibt es einen ungesunden Tanz um »positives Wissen«. Darunter verstehen diese Schulen den Inhalt quantifizierender Protokollsätze über Messungen oder andere Wahrnehmungen. So etwas ist heute statistisches Datengetreide in den Silos von Big Data, und über Zweckbestimmungen wird dabei kaum geredet, das wäre schließlich »nicht objektiv«.
Ein Feldeffekt dieser genierlichen Verschwiegenheit über Warum und Wozu ist eine öffentliche Fehlhaltung zu vielen Resultaten, oft schon zu bloßen Zwischenergebnissen exakter Forschung. Die Sätze, in denen sie bekannt gemacht werden, sollen nämlich alle nur je eine einzige Bedeutung haben, und zwar eine obendrein irgendwie als »buchstäblich«, also fix, unveränderlich gedachte, eine Bedeutung, die sich offenbar in Wendungen wie »die Wissenschaft hat festgestellt« besonders wohlfühlt.
Prominente Stimmen aus der Forschung, die weite Verbreitung erfahren, tun deshalb besonders in Deutschland gern so, als wäre Deutungsarbeit unnötig und sogar unmöglich, sobald eine Feststellung vorliegt, die etwa mit dem Herkunftskürzel »DFG« versehen ist, was immer nur »Deutsche Forschungsgemeinschaft« heißen soll und als Gütesiegel doch schicklicher und nützlicher wäre, wenn es für »Demut, Fleiß, Geduld« stünde: Demut im Sinne von Respekt vor der Gefahr der Verzerrung wissenschaftlicher Expertise durch die Gezeitenkräfte wirtschaftlicher und politischer Macht, Fleiß beim Erarbeiten nachvollziehbarer Modelle zur Kontextualisierung der Daten, Geduld schließlich beim Erklären sowohl der Daten wie der Modelle.
Wer diese Tugenden gering achtet und sie einer (neo-)positivistisch fetischisierten Scheinobjektivität unterordnet, zerstört jede Chance zu Übersicht und Mündigkeit bei denen, die wirtschaftlicher und politischer Macht im Normalfall unterworfen sind, statt sie auszuüben, und gesellt sich damit zu den üblen Leuten, die in dem schönen Gedicht der Marxistin und Feministin Claudia Jones, dem ich das Motto für diesen Text entnommen habe, »misleaders« heißen: »Irreführer«.
Das, was solche Irreführer sagen, kann nach positivistischen und neopositivistischen Maßgaben völlig korrekt sein und dennoch von allen guten Geistern verlassen. Man denke nur an die ekelhafte »Studie zur Energiesicherheit«, die auf der Website des Nachrichtenmagazins Der Spiegel Ende Oktober 2022 den ebendort ausgegebenen Merksatz »Deutschland muss Gasverbrauch um 30 Prozent senken« begründen sollte.
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