02. November 2020
Er ist ausfallend, rüpelhaft und vulgär. Donald Trump wird immer wieder nachgesagt, ihm fehle die Aura eines Präsidenten. Fakt ist, dass mit ihm der Mythos des Amtes bröckelt. Und das ist gut so.
Donald Trump beim Wahlkampf in Arizona, 2016.
Mitte des 18. Jahrhunderts zeigte das absolutistische System der Monarchie, das während der Herrschaft Ludwigs XIV. mühevoll konstruiert worden war, gravierende Zerfallserscheinungen.
Zweifellos sorgten die Erniedrigungen in der Außenpolitik, die heimische Getreideknappheit sowie Konflikte mit dem ländlichen Adel dafür, das Regime des glücklosen Nachfolgers des Sonnenkönigs zu diskreditieren. Doch bereits Jahrzehnte vor der nationalen Schuldenkrise, die dem revolutionären Umsturz der Monarchie vorausging, sah sich der französische Staat mit einem katastrophalen Legitimationsverlust in Form der königlichen Führungsfigur konfrontiert. Abgesehen von inländischem Versagen und militärischen Niederlagen sorgten auch das Privatleben und die sexuellen Eskapaden Ludwigs XV. für Schlagzeilen in der damaligen Form der Boulevardmedien. Das Persönliche vermischte sich mit dem Politischen und dem König fehlte es an jener Aura des Göttlichen, auf der die gesamte Herrschaftsform des Landes basierte. Schritt für Schritt entzog er sich den öffentlichen Riten und religiösen Zeremonien, die seine Herrschaft heiligsprachen.
Nach 1739, als seine Geliebte am königlichen Hof sichtbar wurde, beendete Ludwig XV. die langwährende Tradition, Menschen mit Skrofulose zu berühren, um diese zu heilen. Ab 1750 hörte er auf, großen Messen beizuwohnen oder feierliche Einzüge nach Paris zu geleiten. Der König hatte wortwörtlich und im übertragenen Sinne seine königliche Ausstrahlung verloren, und mit ihr die ausschlaggebende Verbindung zu den Menschen, über die er herrschte. In den nachfolgenden Jahrzehnten beschleunigte sich dieser Prozess der Entheiligung durch die Verbreitung subversiver Literatur, welche den königlichen Hof verunglimpfte und Führungsfiguren wie Ludwig XVI. und Marie Antoinette als sexuell verdorbene Perverse darstellte. Inmitten dieses intellektuellen Gärungsprozesses, der wirtschaftlichen Stagnation und der unnachgiebigen politischen Unruhen erlebten die französischen Beherrschten ein, wie es die Historikerin Sarah Maza ausdrückte, »akutes Gefühl der moralischen Leere und des sozialen Zerfalls«. Sie fühlten sich »verlassen und haltlos in einer Welt« ohne ihr »traditionelles sakrales Zentrum«.
Als Ludwig XV. seine Fähigkeit einbüßte, grundlegende Staatsfunktionen gekonnt auszuüben, zerfiel auch die symbolische Legitimation der Bourbonen-Dynastie – und mit ihr das System, über das sie herrschte.
»In jenem Moment wurde er zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, ganz klar. Dieser Moment sollte jene Menschen glücklich machen, die gehofft hatten, dass er vereinen würde, dass er in irgendeiner Form präsidial werden würde.«
Der Moment, von dem hier gesprochen wird, trug sich im späten Februar 2017 zu. Donald J. Trump, ehemaliger Moderator der Fernsehsendung The Apprentice, hatte in seiner Rolle als frisch gewählter Präsident gerade seine Antrittsrede gehalten. Die Aussage stammt vom liberalen CNN Kommentator und früheren Berater der Obama-Regierung Van Jones. Er bezog sich dabei auf jenen Moment in der Rede, als Trump einem Navy Seal, der bei einem Angriff im Jemen gestorben war, seine Anerkennung zukommen ließ und seiner Witwe Respekt zollte.
Auch wenn es unerträgliches Expertengerede war, hatte Jones mit seinem Kommentar in diesem Kontext versehentlich doch eine wichtige Beobachtung artikuliert. Schließlich war die Operation im Jemen doch die erste von Trump als Commander in Chief des US-Militärs. Sie kostete nicht nur das Leben des Navy Seal William Ryan Owen. Auch 14 vom Pentagon als »Kämpfer« bezeichnete Menschen wurden getötet, ebenso wie zehn Frauen und Kinder. Schlimmer noch: Einige Kommentatorinnen und Kommentatoren des Mainstreams bezeichneten die Operation als eine militärische Niederlage. Und Trump hatte die Verantwortung für Owens Tod auf seine Generäle abgeladen.
Mit dem Lob für den Respekt, den Trump in seiner Rede gezeigt hatte, deutete Jones also seine Erleichterung an. Es schien, als könne der unerwartete neue Anführer des Landes doch ausreichend »präsidial« erscheinen. Es hatte sich gezeigt, dass er in der Lage war, als Anführer dieses imperialen Gemetzels aufzutreten, und für diese Taten im nationalen Fernsehen anschließend zuckersüße Worte zu finden. Zuvor hatte Jones das Ergebnis der Wahlen im November noch als »Whitelash gegen ein sich veränderndes Land« angeprangert. Nun versuchte er Trost in der überstrapazierten Gewissheit zu finden, dass es den Anschein machte, als könne Trump allen Zweifeln zum Trotz doch die symbolische Funktion des US-Präsidenten ausfüllen.
Doch abgesehen von Jones zurecht verspottetem Kommentar gelang es Trump nie, jene »präsidiale« Aura zu projizieren, auf welche die vielen traumatisierten Bewohnerinnen und Bewohner des administrativen Washingtons in den ersten Monaten seiner Regierung gehofft hatten. Trump setzte auf seine politischen Stärken und spielte weiterhin die Rolle des postmodernen karnevalesken Marktschreiers, die er sich zuvor im Fernsehen angeeignet hatte. Höchstmotiviert beleidigte er seine Gegnerinnen und Gegner, attackierte scheinbar neutrale Persönlichkeiten und brach tagtäglich die Regeln der Höflichkeit. (Besonders erbost waren seine liberalen und zentristischen Kritikerinnen und Kritiker darüber, dass er weiterhin suchtartig Fernsehen schaute und nicht damit aufhörte, in seinem eigenen berühmt-berüchtigten Jargon zu tweeten.)
Vor und seit den Wahlen von 2016 hat es parteiübergreifende Gegenreaktionen gegeben, was vor allen Dingen darauf zurückzuführen ist, dass Trump eine Bedrohung für das Amt und den Ruf des Präsidenten darstellt. Es ist bezeichnend, dass die moralische und ideologische Empörung gegenüber dieser endlosen Fixierung auf seine Persönlichkeit und sein Temperament in den Hintergrund tritt. Sowohl Hillary Clinton als auch Jeb Bush, zwei von Trumps lautesten und ineffektivsten politischen Gegnerinnen, entschieden sich dazu, ihren eigenen Charakter zum zentralen Thema ihrer Kampagnen zu machen. Ihre anschließenden Niederlagen hielten andere jedoch nicht davon ab, ihrem Beispiel zu folgen. Das liegt einerseits sicherlich an der beharrlichen Inkompetenz von Trumps Gegnern aus dem politischen Mainstream. Diese Strategie könnte aber auch darauf zurückzuführen sein, dass der US-amerikanischen Elite indirekt die symbolische Störung bewusst ist, die Trumps fortwährende Präsenz im Oval Office darstellt.
Als Symbol, welches die US-amerikanische politische Ordnung absegnet, fußt die Präsidentschaft notwendigerweise auf einer Reihe von Mythen, und damit das Amt diese Wirkung nicht einbüßt, müssen diese aufrechterhalten werden: der Mythos der persönlichen Tugend, der technokratischen Kompetenz, der demokratischen Gleichheit – und vor allem – der Mythos der Leistungsgesellschaft, der zufolge die Besten unweigerlich an die Spitze kommen. Auch wenn sich die Wut des Mainstreams gegenüber Trump oftmals in die Sprache des Anstands kleidet, so lässt sich im Subtext auch immer herauslesen, dass die Präsidentschaft mit ihm herabgesetzt wurde und durch ihn jeder dieser grundlegenden Mythen umgestoßen wird.
Technokratische Kompetenz? Vor 2016 hatte Trump nie ein politisches Amt innegehabt und mehr gescheiterte Unternehmungen zu verzeichnen als wirkliche Erfolge. Demokratische Gleichheit? Trump genießt offensichtlich die Hierarchie und wurde mitunter auch dafür berühmt, Leuten im amerikanischen Fernsehen theatralisch zu verkünden: »Du bist gefeuert!« Persönliche Tugenden? Sein Privatleben war seit Jahrzehnten ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse und es fällt schwer, sich auch nur jemanden vorzustellen, der rachsüchtiger ist als Donald Trump. Zusammengenommen ist es Trump gelungen, die Erzählung der Leistungsgesellschaft in den USA des 21. Jahrhunderts als jene Lüge offenzulegen, die sie eigentlich ist. Er hat bewiesen, dass Reichtum tatsächlich über allem steht – Talent, Professionalität und persönliche Tugenden sind in Wirklichkeit nicht die Voraussetzungen, um höchste Ämter zu bekleiden.
Vielleicht beginnt man sich nun zu fragen, ob das Ganze nicht eine einzige Lüge ist, wenn sich der Anführer des Imperiums so offensichtlich als wichtigtuerischer Blender bloßstellt. Wie Jodi Dean 2016 schrieb:
»Donald Trump durchkreuzt den ideologischen Nebel der US-Politik und legt die dahinterliegende Wahrheit offen. Andere Kandidaten appellieren an eine fiktive Einheit oder geheuchelte moralische Integrität. Er wiederum stellt die Macht der Ungleichheit zur Schau. Geld erkauft Zugang – warum sollte man das leugnen? Diese Wendung stellt die Wahrheit der wirtschaftlichen Ungleichheit unter Beweis: Höflichkeit ist etwas für die Mittelschicht, ein normativer Käfig für die Wut der Besitzlosen und die Verachtung der Besitzenden. Die 0,1 Prozent hingegen müssen sich darum nicht scheren.«
Die symbolische Störung, die Trump erregt hat, ist daher Ausdruck der weitreichenderen Krise einer Gesellschaft, deren strukturierende Mythen sich mehr und mehr von der gelebten Erfahrung der allermeisten Menschen, abseits einer privilegierten Minderheit, entfernt haben. Angesichts des Niedergangs des Imperiums, der stockenden Lebensstandards, der kulturellen Polarisierung, der wirtschaftlichen Krisen und der verknöcherten politischen Institutionen bieten die US-amerikanischen Eliten weiterhin nur die alten Märchen an: die nationale Besonderheit und die bessere Zukunft, die hinter dem Horizont auf uns wartet. Mit Joe Biden hoffen Demokratinnen und Demokraten, Liberale und ihre konservativen Verbündeten jenes tadellose Bild des Amtes wiederherzustellen, welches Trump besudelt hat. Fälschlicherweise halten sie ihn für die Ursache der Missstände des Landes, statt für das bloße Symptom, das er eigentlich ist.
Sollte Biden am 03. November gewinnen, so könnte es ihm für einen kurzen Moment gelingen, jene symbolische Aura anzunehmen, welche das Establishment des Zwei-Parteien-Systems verlangt. Doch zur Zeit seiner Amtsübernahme wird das Land zweifellos noch kranker sein als jenes, welches die Wahl Donald Trumps überhaupt erst ermöglicht hatte. Unwahrscheinlich, dass der Glanz lange halten wird.
Luke Savage ist fester Autor bei Jacobin.