22. Oktober 2020
Donald Trump kündigte an, die Briefwahlergebnisse bei den US-Wahlen möglicherweise nicht anzuerkennen. Seither ist erneut die Debatte entbrannt, ob die USA in den Faschismus rutschen. Doch ist dieser Begriff wirklich anwendbar?
Donald Trump bei einer Rede am 23. Juni 2020.
Ob sich die gegenwӓrtige Lage in den USA als Faschismus beschreiben lässt, ist nicht so leicht zu beantworten. Den Begriff inflationär zu verwenden, um reaktionӓre Gegner zu kennzeichnen, verharmlost die faschistische Gefahr. Das galt schon für die Weimarer Republik, als Kommunisten die Brüning-Regierung (1930–32) als faschistisch bezeichneten und damit den Unterschied zwischen parlamentarischen und diktatorischen Formen bürgerlicher Herrschaft einebneten – und schlimmer noch, als sie die Sozialdemokraten, mit denen sie ein antifaschistisches Bündnis hätten bilden müssen, als »Sozialfaschisten« bekämpften. Ähnliches taten auch die Sozialdemokraten, als sie die Kommunisten als »rot lackierte Nazis« denunzierten.
Trotzdem sollten wir den Begriff nicht auf die spezifischen Umstände der faschistischen Regime in Europa und Japan beschrӓnken. Dies birgt die Gefahr, die (neo-)faschistischen Tendenzen des 21. Jahrhunderts nicht identifizieren zu können. Schon in den 1930er Jahren warnten Antifaschisten in den USA, der einheimische Faschismus trete dort als »Amerikanismus« zutage: symbolisiert durch die amerikanische Flagge und mit dem Appell an die Freiheit und die Bewahrung der Verfassung. Wieder anders ist das Erscheinungsbild in unserer Epoche des High-Tech Kapitalismus, dessen Ideologien von der Digitalisierung mitsamt ihren »Shitstorms« geprӓgt sind. Der Geschichtswissenschaftler Enzo Traverso schlӓgt daher vor, Faschismus als »transhistorischen Begriff« zu verwenden, der über die Epoche, die ihn gebar, hinausweist.
Die Frage ist weniger, ob es sich beim Trumpismus »noch« um Rechtspopulismus oder »schon« um (Neo-)Faschismus oder Proto-Faschismus handelt, sondern vielmehr ob sich in Amerika gegenwärtig eine Faschisierung beobachten lässt. Der Vorteil des Begriffs der »Faschisierung« liegt darin, dass er die Aufmerksamkeit auf Prozesse und Dynamiken innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft richtet.
Blicken wir versuchsweise auf zwei klassische Erklärungsansätze zurück: Der Generalsekretär der Komintern Georgi Dimitroff definierte im Jahr 1935 den Faschismus als »offen terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Komintern-Konzepten benannte Dimitroff damit den Unterschied zwischen Parlamentarismus und faschistischer Diktatur, und ӧffnete (wenn auch zu spät) den Weg für eine breite Volksfrontpolitik. Aber die Definition ließ die soziale Zusammensetzung der faschistischen Massenbewegungen, ihre populistische Dynamik und die Anziehungskraft ihrer Ideologien unberücksichtigt. Der Faschismus erschien als bloßes Instrument des Finanzkapitals, als bewusste Manipulation von oben und ohne eigene Dynamik.
Die soziale Basis der faschistischen Bewegung wurde wiederum von konkurrierenden »Bonapartismustheorien« thematisiert. So verwies hier etwa Trotzki auf das inkohӓrente Klassenbewusstsein des Kleinbürgertums und Thalheimer auf die »Deklassierten aller Klassen«. Diese mehrstimmige Interpretation beruhte auf Marx’ Analyse des bonapartistischen Regimes von Napoleon III: Zum einen auf der darin artikulierten These des »Gleichgewichts zwischen den um die Macht kӓmpfenden Klassen« und zum anderen auf der Annahme, dass sich der Staat gegenüber allen Klassen »verselbständigt«, einschließlich gegenüber der Bourgeoisie, die, »um ihren Beutel zu retten«, in Kauf nimmt, dass »die Krone ihr abgeschlagen und das Schwert, das sie beschützen solle, zugleich als Damoklesschwert über ihr eigenes Haupt gehängt werden müsse«.
Beide Thesen bedürfen einer Differenzierung. Schon beim Aufstieg des historischen Faschismus waren die Arbeiterbewegungen in Italien und Deutschland weitgehend besiegt bzw. wegen ihrer Zersplitterung nicht handlungsfӓhig. Und in den USA kann angesichts des dramatischen Niedergangs der Gewerkschaftsbewegung seit Beginn der 1980er Jahre kaum von einem »Gleichgewicht« der Klassen gesprochen werden. Andererseits zeigen die Erfolge der Bernie-Sanders-Kampagnen sowie die jüngste Wiederbelebung gewerkschaftlicher Kämpfe, dass wir es nicht einfach mit einem Rechtsruck, sondern mit einer Polarisierung der sozialen Krӓfte zu tun haben. Die Verselbstӓndigungsthese kӧnnte man in gewisser Weise darin bestätigt sehen, dass sich Donald Trump 2016 zunӓchst gegen die ökonomischen, politischen und ideologischen Eliten behauptete, die in ihrer Mehrheit eher auf die »gemäßigten« republikanischen Kandidaten und dann auf Hillary Clinton setzten. Unterstützt wurde Trump dabei vor allen Dingen von den weißen Mittelklassen, die ihren ӧkonomischen Status und ihre sozialen Privilegien bedroht sahen.
Doch dann wurde Trump sehr schnell von der transnationalen Bourgeoisie »eingehegt«. Wie der Sozialwissenschaftler Ingar Solty gezeigt hat, ist Trumps Regierung gespickt mit Vertretern des (Wall-Street-)Finanzkapitals, des fossilen Kapitals und des mit der Rüstungsindustrie verflochtenen Außenpolitik-Establishments. Seine Steuerpolitik, die Deregulierung der Finanzwirtschaft und des Energiesektors, Privatisierung und Sozialabbau sind laut Solty »Ausdruck einer direkten Kapitalherrschaft über die Arbeit«.
Lässt sich der Trumpismus also doch eher mit Dimitroffs Definition des Faschismus als einer Herrschaft der »reaktionärsten, am meisten chauvinistischsten, am meisten imperialistischen« Kapitalfraktionen greifen? Tatsache ist jedoch: diese Fraktionen waren in den US-Regierungen durchgӓngig vertreten. Auch dass die sozialpolitischen Kompromissbildungen des Fordismus rückgängig gemacht und parlamentarische Verfahrensregeln »postdemokratisch« ausgehebelt werden, ist mitnichten eine Eigenart des Faschismus, sondern lediglich Merkmal eines »normal« funktionierenden Neoliberalismus. So musste im Zuge dieser großkapitalistischen »Einhegung« gerade der explizit rechtsradikal-faschistoide Steve Bannon im August 2017 seinen Hut nehmen.
Trumps permanente Konflikte mit der Militӓrführung sowie mit dem CIA und FBI zeigen, dass er außerdem die repressiven Staatsapparate (noch) nicht auf Linie gebracht hat. Man mag an dieser Stelle einwendend auf die rassistische Polizeigewalt verweisen. Von einer »offen terroristischen Diktatur« im Sinne Dimitroffs lässt sich dennoch nicht sprechen. Nahezu die Hӓlfte der Bundesstaaten werden von den Demokraten regiert. Außer Fox News sind die meisten großen Medien gegen Trump und die massiven Angriffe auf linke, vermeintlich »anti-amerikanische Propaganda« in Schulen und Universitäten zeigen, dass der Trumpismus hier Gefahr wittert. »Bringing into line« lautet das offensichtliche politische Credo der Trump-Regierung – doch aller angestrengten Versuche zum Trotz kann von einer »gleichgeschalteten« Gesellschaft noch nicht die Rede sein.
Den klassischen Definitionen nach lässt sich die Trump-Regierung also nicht als faschistisch bezeichnen. Umso wichtiger ist es, die Tendenzen der Faschisierung zu identifizieren. Hierzu wären die vielfältigen Faschismustheorien hinzuzuziehen, die sich konkreter mit den Krӓfteverhältnissen im Staat befassen und sich auf autoritäre Verschiebungen in den Denkmustern, den ideologischen Diskursen sowie in den sozialpsychologischen Dispositionen konzentrieren. Ich beschränke mich auf einige Aspekte der aktuellen Lage in den USA.
Seit der Wirtschaftskrise 2007–08 ist das US-Imperium in Bedrängnis geraten: Global haben die USA in der Hochtechnologiekonkurrenz mit China merklich an Status eingebüßt, und im Inneren durchleben sie eine Repräsentiationskrise, in der sich große Teile der Bevölkerung politisch nicht mehr vertreten fühlen. Dies kann grundsӓtzlich auch linken Bewegungen neue Spielrӓume eröffnen, aber bisher profitiert vor allem der Politikertyp des »starken Mannes«, der abseits der etablierten Partei- und Kommunikationsstrukturen das »Volk« gegen die »Elite« mobilisiert – zu der er in der Regel selber gehӧrt.
Von Beginn trat Donald Trump als Anwӓrter auf die Reorganisation des bürgerlichen Lagers an. In Gestalt des brutal-rücksichtslosen Bau-Moguls verkörpert er die kapitalistische Logik der Herrschaft des Stärkeren und stellt sich gegen die traditionellen (neo-)liberalen Politiker. Wie die durch Covid-19 hervorgerufene Massenarbeitslosigkeit, Wohnungs- und Gesundheitskrise diese populistische Dynamik beeinflussen wird, ist noch nicht absehbar. Aber auch wenn Trump jetzt scheitern sollte, wird das politische Begehren nach einem charismatischen Krisenretter andauern und sich spӓtestens bei den Wahlen 2024 zurückmelden.
Gleichzeitig lässt sich eine Intensivierung eines weißen Rassismus beobachten. Aufgrund der durch die Sklaverei geprӓgten US-Geschichte richtet sich dieser – anders als beim (prä-)faschistischen Antisemitismus in Europa – in erster Linie gegen die afroamerikanische Bevölkerung. Dieser Rassismus ist bekanntlich nicht nur ein Bewusstseinsphänomen, sondern »struktureller« Natur: Er organisiert die gesellschaftliche Arbeitsteilung so, dass Afro-Amerikanerinnen und Afro-Amerikaner die am meisten Prekarisierten innerhalb der Arbeiterklasse sind und den relativ hӧchsten Anteil der Opfer polizeilicher Gewalt und der Gefӓngnispopulation darstellen.
Eine zweite Achse der White Supremacy ist die gegen Immigrierende gerichtete Fremdenfeindlichkeit, deren rassistische Stoßrichtung von Trump akzentuiert wird, wenn er z.B. verkündet, er hätte lieber mehr Zuwanderung aus Norwegen und weniger aus »Dreckslöchern« wie Haiti und Afrika. Eine dritte Komponente bildet eine seit 9/11 dramatisierte Islamophobie, mit der die Bedrohungsӓngste der Bevölkerung gebündelt werden.
Keiner dieser Strӓnge ist neu, aber neuartig ist die Intensität, mit der sie verknüpft, verallgemeinert und verschwӧrungs-mythologisch aufgeladen werden, wie etwa durch die »digitale Trump-Armee« QAnon. Aktuelles Beispiel ist die Denunziations-Kampagne gegen die nichtweißen demokratischen Sozialistinnen des »Squad«, und hier besonders gegen die Muslimin Ilhan Omar – bei einer Wahlkampfveranstaltung skandierte Trumps-Anhängerschaft: »Send her back« (to Somalia).
Vergleichbar mit dem historischen Faschismus verbreiten sich rassistische und autoritäre Einstellungen zunehmend in Teilen des repressiven Staatsapparats wie z.B. der Homeland Security, der Einwanderungsbehörde (ICE) und in der stark militarisierten Polizei. Die Polizeigewalt gegenüber Afro-Amerikanerinnen und Afro-Amerikanern hat sich im Verlauf der Black-Lives-Matter-Proteste nach dem Polizeimord an George Floyd noch gesteigert, mit zahlreichen Verletzten und Verhaftungen (darunter auch mehr als 50 Journalistinnen und Journalisten).
Neu ist auch die von Trump gegen den Willen der demokratischen Gouverneurinnen und Bürgermeister angeordnete Entsendung der Nationalgarde und die groß inszenierte Androhung des »Law-and-Order-Prӓsidenten«, gegen die »Aufstӓnde« das Kriegsrecht (Insurrection Act) einzusetzen. Zwischen und innerhalb der verschiedenen Staatsapparate verschieben sich die Krӓfteverhältnisse von rechtsstaatlichem zu gewaltmäßigem Vorgehen. Das zeigt sich etwa in den Entführungen von Demonstrierenden in nicht gekennzeichneten Fahrzeugen der Nationalgarde sowie im jüngsten Skandal, um die Zwangssterilisationen, die in US-amerikanischen Auffanglagern an migrantischen Frauen vollführt wurden.
Die unter anderem von Nicos Poulantzas für den historischen Prӓfaschismus festgestellte Verlagerung von Parteien zu paramilitärischen Milizen ist ebenfalls in den USA zu beobachten. Kürzlich marschierten sie schwer bewaffnet gegen Black-Lives-Matter-Demonstrierende und Linke auf. Dabei kommt es immer wieder auch zur Zusammenarbeit mit der Polizei.
Die Weigerung des Prӓsidenten, sich vom Terror neofaschistischer Gruppen zu distanzieren (»Fine people on both sides«, also etwa »Es gibt in beiden Lagern gute Leute«) und seine Aufforderung an die Miliz der »Proud Boys«, sich für den Kampf gegen die Antifa »bereitzuhalten« (»Stand back and stand by«), markieren eine nun auch öffentlich zur Schau gestellte Verzahnung zwischen Regierung und neofaschistischen Stoßtrupps. Kurz nachdem Trump die Teilnehmenden einer Demonstration gegen den Covid-19-Lockdown über Twitter dazu aufrief, die demokratisch regierten Staaten Michigan, Minnesota und Virginia zu »befreien«, drangen Schwerbewaffnete in das Regierungsgebäude von Minnesota ein. Den Plan einer rechtsradikalen Terrorgruppe, die demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer zu entführen und in der Mitte des Lake Michigan auszusetzen, konnte das FBI noch frühzeitig aufdecken. Die Lage ist auch wegen der hohen Waffendichte in der Bevӧlkerung brandgefährlich.
Die Faschisierungstendenzen erfahren eine Verallgemeinerung durch die Ankündigung Trumps, die Briefwahl bei den anstehenden Prӓsidentschaftswahlen wegen angeblicher Fälschungen nicht anzuerkennen. Damit stellt er den Wahlausgang selbst und das Prinzip des demokratisch legitimierten Amtswechsels infrage. Parallel wurden seit einigen Jahren verstӓrkt Wahllokale in armen und afro-amerikanischen Gemeinden geschlossen. Trumps Appell an seine Wählerschaft, mehrfach abzustimmen, ist eine Aufforderung zu einer kriminellen Handlung. Die Ankündigung, seine Anhӓnger würden sich als Wahlbeobachter betӓtigen, kommt einer Einschüchterung der Wählerinnen und Wähler gleich und kann zu unzӓhligen teils juristischen, teils handgreiflichen Kӓmpfen um Wahllokale und Auszӓhlungsverfahren führen.
Ziel ist offensichtlich, ein Chaos zu erzeugen, um die Wahlen zu torpedieren. So könnte Trump erwirken, dass die Briefwahl-Auszählung nach dem 3. November durch die dann noch eindeutigere konservative Mehrheit des Obersten Gerichts gestoppt wird.
Die Argumentation, man kӧnne den Trumpismus wegen fehlender »Gleichschaltung« und anderer Merkmale nicht als Teil einer Faschisierung kennzeichnen, ist in mehrfacher Hinsicht irreführend. Diese Ansicht legt einen unangemessenen »totalitären« Maßstab an, der auch den Unterschieden zwischen dem italienischen und deutschen Faschismus sowie ihren verschiedenen Phasen nicht gerecht wird. Dabei wird außerdem übersehen, dass Trump bei einer zweiten Amtsperiode aller Voraussicht nach die autoritäre Umformung noch weiter treiben wird.
Es sollte nicht vergessen werden, dass auch im italienischen Faschismus zwischen Mussolinis Regierungsantritt 1922 nach dem »Marsch auf Rom« und dem Mord am sozialistischen Politiker Giacomo Matteotti im Juni 1924 das parlamentarische System noch nicht abgeschafft worden war. Erst nach der durch den Mord ausgelösten Staatskrise ließ Mussolini sich zum Duce ganz Italiens ausrufen und die Oppositionsparteien verbieten. Im Jahr des Verbots der Kommunistischen Partei 1926 wurde auch Antonio Gramsci unter Verletzung seiner parlamentarischen Immunität verhaftet und für die verbleibenden elf Jahre seines Lebens eingesperrt. Auch wenn die konkreten Formen sich ändern: solche und andere historische Parallelen auszuschließen, wäre voreilig. Jetzt kommt es darauf an, die drohende Faschisierung durch breite antifaschistische Bündnisse zu verhindern.
Jan Rehmann (Dr. Habil) ist Visiting Professor for Critical Theory and Social Analysis am Union Theological Seminary in New York City und Privatdozent an der Freien Universität, Berlin. Er ist Redakteur im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM) und in »Das Argument«. Von ihm erschienen unter anderem »Postmoderner Links-Nietzscheanismus: Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion« (aktualisierte und erweiterte Neuauflage, 2021) und »Theories of Ideology. The Powers of Alienation and Subjection« (2013).