05. März 2021
In der Pandemie hatten wir kein Pech. Die politische Klasse des Landes hat versagt.
Angela Merkel während einer Pressekonferenz am 10.2.2021.
Deutschland ist größer als Israel, kleiner als die USA, föderaler als Großbritannien, zentralistischer als die Schweiz, reicher als Serbien und ärmer als die Vereinigten Arabischen Emirate. Was uns dieser Tage fehlt ist weder Geld, noch Wissen. Selbst an ausreichend Impfstoff mangelt es gerade nicht. Das einzige, was uns wirklich ausgegangen ist, sind die guten Ausreden. Die deutsche Gesellschaft, pandemiemüde und konfliktscheu, hat sich mit der Unausweichlichkeit einer dritten Infektionswelle abgefunden, die anderswo ausbleiben wird.
Nüchtern betrachtet und allgemein gesprochen ist unser Lebensstandard nicht schlecht und wir könnten es uns leisten, einfach weiter Geld auf Probleme zu werfen. Doch dass wir Corona nicht in den Griff bekommen haben, ist kein primär monetäres Problem. Es gab in der Geschichte wohl kaum eine Regierung, die bei der Bewältigung von sozialen Problemen so viel finanziellen Spielraum hatte, wie die von Angela Merkel. Das politische Versagen während der Pandemie hat eine tiefere Dimension.
Jenseits des bloßen Geldes spielen deutsche Regierungen seit Jahrzehnten im easy mode. Naturkatastrophen bleiben trotz Klimakrise beherrschbar, soziale Konflikte eskalieren nicht so weit, dass sie die Administration einer Industriegesellschaft ernsthaft beeinträchtigen würden. Das Ausmaß der Armut und Not ist gerade so hoch, dass es sich noch ignorieren lässt. Die Betroffenen leiden im Stillen, Diskriminierte wurden bestenfalls belächelt, ohne ernsthaft Ärger zu machen. Währenddessen sind deutsche Produkte weltweit gefragt und deutsche Exporte dank Währungsunion künstlich verbilligt.
Erkauft hat uns das unter anderem ein weiterhin relativ funktionierendes Bildungs-, Forschungs- und Verwaltungswesen. Die Bundesrepublik hätte allemal die staatlichen Kapazitäten, um das Coronavirus mit links zu bewältigen. Das hätte auch in unser Selbstbild als hocheffizienter Overachiever gepasst, und so hat es über den Sommer ja auch funktioniert. »How Germany got coronavirus right« titelte die Financial Times noch im Juni. Und auch wenn Linken und Liberalen Nationalstolz fremd oder zumindest peinlich ist, wurden solche Lobesbekundungen achselzuckend und wie selbstverständlich hingenommen. Unsere Erste-Welt-Probleme hatten wir hier schließlich im Griff – bis im Oktober und November die Fallzahlen stärker explodierten, als sich irgendjemand vorstellen konnte, und über den Winter tausende Menschen grundlos starben, während in Ländern wie Vietnam oder Neuseeland, wo konsequenter vorgegangen wurde, die Infektionszahlen einstellig blieben.
Man sollte Corona nicht verharmlosen oder herunterspielen und doch ist klar, dass es so weit niemals hätte kommen müssen und dass wir diese Herausforderung als Gesellschaft nicht ansatzweise gemeistert haben. Das liegt ganz sicher nicht an den Beschäftigten im Gesundheitswesen, deren Arbeitsalltag schon vor der Pandemie von Überlastung und Überarbeitung geprägt war. Auch die zuständigen Behörden haben die aktuelle Lage nicht vordergründig zu verantworten. Deutschlands Versagen in der Pandemie ist dem politischen Spitzenpersonal anzulasten.
Um die Pandemie hierzulande außer Kontrolle geraten zu lassen, brauchte es keinen aufgeblasenen Boris Johnson und auch keinen empathielosen Narzissten wie Donald Trump. Es reichten eine Handvoll störrischer Landesfürsten und autoritärer Kultusminister, die in Angst vor Bild und BDI regieren, anstatt verantwortungsvolle, weitsichtige Entscheidungen zu treffen, und ein hoffnungslos überforderter Gesundheitsminister, der Corona lieber ignoriert, um Spenden einzusammeln. Angeführt werden sie von einer Bundeskanzlerin, die ihnen intellektuell zwar oft voraus ist, im Kern aber nach derselben Maßgabe handelt.
Die eine große Fehlentscheidung bei der Pandemiebekämpfung gab es nicht. Es waren die vielen kleinen Schludrigkeiten und die extreme Kurzsichtigkeit der Entscheidungsträger, die konsistent in Wochen statt in Monaten dachten, und uns so in diese Situation gebracht haben. Noch nicht einmal die Logistik der Impfstoffverteilung – ein Problem, das seit Monaten erwartbar war – wurde ansatzweise ernst genommen. Entsprechende detaillierte Vorbereitungen hätte man schon im November treffen können.
Einer zunehmend ermüdeten, verängstigten Bevölkerung hätte eine langfristige, klar kommunizierte und bundesweit koordinierte Strategie durch den Herbst und Winter geholfen. Pragmatische, nachbarschaftliche Lösungen hätten viele der Betreuungsprobleme lösen können, wenn die Politik ein Minimum an Koordinationsarbeit geleistet hätte. Vor allem aber hätte es für Arbeitslose und Selbständige, die mit Einnahmeausfällen zu kämpfen haben, schnelle, niedrigschwellige und unbürokratische Hilfen geben müssen. Mit Ausnahme der USA gibt es keine Regierung auf der ganzen Welt, die dafür so viele finanzielle Möglichkeiten hat wie die deutsche, die Geld zu negativen Zinsraten leiht. Die Eitelkeit der Landesminister, die politische Schwäche der Kanzlerin und der unsolidarische Sparzwang, der auf einer Angst gründet, dass es »den Falschen« einmal zu gut gehen könnte, haben die Umsetzung notwendiger Maßnahmen verhindert.
Uns selbst kollektiv auf die Schulter zu klopfen ist unser liebster nationaler Zeitvertreib. Wir bauen die weltbesten Verbrennungsmotoren und belächeln mögliche Alternativen so lange, bis sie plötzlich unseren Wohlstand gefährden. Wir beglückwünschen uns jahrzehntelang für unsere Erinnerungskultur, bis es in Polizei und Militär vor gewaltbereiten Rechtsextremen nur so wimmelt und uns auffällt, dass Nazis Jahr für Jahr dutzende unserer Mitmenschen ermorden. Beim Klimaschutz verspielen wir günstige Ausgangsbedingungen und einen frühen Vorteil durch bräsige Selbstgefälligkeit und hirnrissige, medial konstruierte Kontroversen über Nebensachen. Wir glauben, wir könnten unsere zivilisatorischen Errungenschaften mit einem kaputtgesparten Sozialstaat und einer zerfallenden Infrastruktur erhalten, Korruption sei bei uns kein Problem, weil sie bestenfalls in Untersuchungsausschüssen und praktisch nie vor Gericht landet. Wir leben von der Substanz, überschätzen uns um Längen.
Nichts davon ist in Stein gemeißelt. Ein deutsches Wesen, einen nationalen Charakter gibt es nicht, und niemand ist »von Natur aus« konservativ, arrogant oder unterwürfig. Wir müssen lernen, die politische Klasse wieder ernsthaft herauszufordern. Ein Anfang könnte sein, für Versagen und Missmanagement keine Ausreden mehr zu akzeptieren.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.