09. März 2021
Die US-amerikanische Linke erlebt ein Comeback. Aber um weiter an Einfluss zu gewinnen, muss sie ihre Strategie überdenken.
Die 1982 gegründeten DSA zählen mittlerweile über 90.000 Mitglieder.
Im Jahr 2015 fand der zweijährliche landesweite Kongress der Democratic Socialists of America (DSA) in einem kleinen christlichen Erholungszentrum in West-Pennsylvania statt. Der gesamte Kern der Organisation war anwesend – einschließlich Mitarbeiterinnen, offiziellen Delegierten und Beobachtern kamen trotzdem nicht mehr als zweihundert Menschen zusammen. Die meistdiskutierten Themen waren die Zugehörigkeit der DSA zur Sozialistischen Internationale und Berichte, wonach jemand auf der Versammlung die Nonnen des Zentrums mit Atheismus belästigt habe. In den Medien wurde über den Kongress so gut wie gar nicht berichtet.
Fünf Jahre später sind die DSA und die breitere Linke zu einer bedeutenden Kraft im politischen Gefüge der USA geworden. Politikerinnen und Politiker, die sich als demokratische Sozialisten bezeichnen, bekommen eine Menge mediale Aufmerksamkeit. Über das gesamte Land verteilt wurden Hunderte von ihnen in verschiedene Ämter gewählt, die Organisation ist heute 100.000 Mitglieder stark und die landesweiten Kongresse der DSA werden inzwischen live auf dem US-Fernsehsender C-SPAN übertragen.
Mit Joe Biden an der Spitze einer höchstwahrscheinlich schwachen und ineffektiven Regierung hat die noch immer kleine, aber wachsende sozialistische Bewegung der USA eine echte Chance, Einfluss auszuüben. Welche Lehren sollte die Bewegung aus dieser kurzen Periode auf der nationalen politischen Bühne ziehen? Und wie lässt sich der Organisationsprozess unter diesen neuen Bedingungen öffentlicher Anteilnahme am effektivsten vorantreiben?
Klassenformierung – die Erzeugung einer kollektiven Identität mit einer Vielzahl von Einzelpersonen – ist das Fundament jeder wirkungsvollen sozialistischen Bewegung. Trotz aller ideologischen Differenzen sind sich wohl alle US-amerikanischen Sozialistinnen und Sozialisten darin einig, dass Klassenformierung notwendig ist – es fragt sich nur, wie sich dieser Prozess am besten befördern lässt. Die jüngsten Erfahrungen lassen aber den Schluss zu, dass eine groß angelegte Klassenformierung in der absehbaren Zukunft vor allem über Wahlkampagnen laufen wird.
Während Wahlkämpfen – insbesondere bei der Präsidentschaftswahl – beschäftigen sich die durchschnittlichen US-Amerikaner so viel mit Politik wie sonst nie. So verhält es sich in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern mit repräsentativen Regierungen und allgemeinem Wahlrecht schon seit langem. Aber die strategische Bedeutung von Wahlkämpfen für den demokratischen Sozialismus hat nur deshalb derart zugenommen, weil Massenorganisationen und Gewerkschaften an Größe und Strahlkraft eingebüßt haben. Die Hindernisse für die Organisierung am Arbeitsplatz haben dadurch seit den 1980er Jahren massiv zugenommen.
Der Niedergang der organisierten Arbeiterbewegung und der weitgehende Zerfall proletarischer Communities haben zur Folge, dass nur wenige Arbeiterinnen und Arbeiter in der Lage sind, effektive kollektive Aktionen am Arbeitsplatz oder in ihren Gemeinden zu organisieren. Außerhalb von Wahlkampagnen sind die Möglichkeiten, ein Massenpublikum dauerhaft zu erreichen und zu politisieren, begrenzt – und jene Aktionsformen, die zur Verfügung stehen, sind typischerweise defensiv und beschränken sich auf radikale Ausdrucksformen der Interessengruppen-Politik. Unter diesen Voraussetzungen spielen Wahlen und Reformen eine wichtige Rolle, um die Arbeiterklasse als politisches Subjekt wiederzubeleben und ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Arbeiterinnen und Arbeiter auch außerhalb der Wahlarena wieder im Klassenkampf engagieren können.
Die Transformation der existierenden Organisationen der Arbeiterbewegung in den USA bleibt natürlich weiterhin eine Notwendigkeit. Wie die Lehrerstreiks im Jahr 2018 gezeigt haben, kann Klassenformierung auch heute noch auf anderen Wegen als über Wahlen vorangetrieben werden. Am effektivsten ist es aber, wenn sich die Organisierung am Arbeitsplatz und die Mobilisierung im Wahlkampf gegenseitig befeuern – so geschehen bei Formationen wie »Union Members for Bernie« oder den »Educators for Jabari«, einer Basisgruppe, die sich für die Wahl ihres Lehrerkollegen Jabari Brisport in den Senat des Bundesstaats New York einsetzte. Bisher beeinflussen diese Bemühungen nur relativ wenige Menschen, doch im Zusammenspiel mit einer fortschreitenden Klassenformierung in den kommenden Wahlkämpfen könnten sie an Bedeutung gewinnen.
Die Debatte darüber, ob solche Wahlkämpfe unter dem Banner der Demokratischen Partei geführt werden sollten oder nicht, ist die vielleicht hartnäckigste Kontroverse innerhalb der US-Linken. Wie die meisten Jacobin-Autoren stand auch ich tendenziell den Argumenten gegen eine taktische Nutzung der Demokratischen Partei näher – aber das änderte sich, als sich die animierende Wirkung der Wahlkampagnen von Bernie Sanders zeigte. Die politischen Entwicklungen der letzten Jahre haben die Frage der Demokratischen Partei zumindest für den Moment effektiv beigelegt. Ob es uns gefällt oder nicht: Linke Organizer werden sich die Vorwahlen der großen Parteien zunutze machen, solange es sie gibt und dieses Vorgehen Früchte trägt.
Das Establishment der Demokratischen Partei hatte auf nationaler Ebene noch genügend Einfluss, um die Vorwahlkampagne von Bernie Sanders im Jahr 2020 zu schlagen. Auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene halten sich die ausgehöhlten traditionellen Parteiorganisationen aber oft nur noch mit Müh und Not am Leben. Sie sind in vielen Fällen unfähig, sich und ihre Amtsinhaberinnen gegen progressive Herausforderer zu verteidigen. Auch fehlt ihnen die Kraft, linke Politikerinnen und Politiker abzusetzen, nachdem diese einmal im Namen der Demokraten Wahlen gewonnen haben.
Jeder gangbare Weg hin zu einer Transformation des Parteiensystems der USA und einer neuen Partei der Arbeiterklasse führt durch den Konflikt innerhalb der Demokratischen Partei hindurch. Die US-Politik ist gegenwärtig auf die nationale Ebene fokussiert und zudem stark polarisiert, was den politisch-ideologischen Raum für unabhängige Parteien auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene – mit Ausnahme einiger Ortschaften mit unparteilichen Wahlen – effektiv verschließt.
An diesem Punkt sollte klar sein, dass die einzige durchführbare politisch-strategische Orientierung für Sozialistinnen und Sozialisten in den USA gegenwärtig das ist, was der Staatswissenschaftler Ralph Miliband als »marxistischen« oder »linken Reformismus« bezeichnete. Während die DSA aufgestiegen sind, haben sich die leninistischen und trotzkistischen Strömungen erschöpft. Dass sie sich nicht aus ihrer politischen Irrelevanz befreien können, liegt auch daran, dass ihre strategische Ausrichtung mit den politischen und sozialen Bedingungen des fortgeschrittenen, wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie unvereinbar ist. Ihre Abneigung gegen Wahlen und das dogmatische Sektierertum bezüglich der Demokratischen Partei schränken sie im US-Kontext noch zusätzlich ein.
Man muss der aufstrebenden »Basisorganisation« in der US-Linken zugute halten, dass sie viele der Probleme der älteren leninistischen Linken zu vermeiden weiß. Einzelpersonen und Organisationen, die dieser Richtung angehören, sind an der nutzenbringenden Organisierung von Arbeiterinnen und Mietern im ganzen Land beteiligt. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird auch sie wegen ihrer faktischen Wahlkampf-Feindlichkeit, ihrem Beharren auf »Doppelmacht«-Strategien und ihrer Neigung zum Katastrophismus marginal bleiben.
Basis-Organizer bestreiten nicht die Notwendigkeit einer politischen Partei oder der Teilnahme an Wahlen, aber sie neigen dazu, das aktive Ausfechten von Wahlkämpfen in eine unbestimmte Zukunft zu verschieben, in der die Millionen Unorganisierten bereits organisiert worden sind. Das Problem dabei ist, dass es eine solche Zukunft ohne den Wahlkampf niemals geben wird. Wenn man eine abstrakte Stufenfolge vorgibt, in der zuerst die Basis aufgebaut und dann die Wahlarena betreten werden soll, übersieht man die entscheidende Rolle, die Wahlkampagnen und politische Reformen im Prozess der Klassenformierung spielen – zumal in unserer heutigen Zeit.
Am Ende werden die Basis-Organizer wahrscheinlich in dem gefangen bleiben, was der walisische Marxist Raymond Williams »militanten Partikularismus« nannte: eine lokal begrenzte und auf eine verengte Strategie festgelegte organisatorische Praxis, die allem taktischen oder rhetorischen Radikalismus seiner Vertreterinnen und Vertreter zum Trotz nicht zu einer breiteren politischen Bewegung führt. In diesem Sinne stößt sie an dieselben Grenzen wie die meisten Formen der Gewerkschaftsbildung und des Community-Organizings, die nicht ideologisch überzeichnet sind.
Selbst wenn wir in den kommenden Jahren den Zusammenbruch des Staates oder des gesamten Systems erleben sollten – eine Möglichkeit, die viele überzeugte Basis-Organizer als gegeben ansehen –, dann werden sie wohl kaum dazu in der Lage sein, diese Situation zu nutzen. Denn aufgrund ihres Partikularismus bleiben sie viel zu klein und zu isoliert: Warum sollten sich die Menschen in ihrer Verzweiflung an Organisationen wenden, von denen sie noch nie etwas gehört haben?
Dass der revolutionäre Sozialismus es nicht geschafft hat, selbst inmitten großer kapitalistischer Krisen stärker zu werden, unterstreicht, wie vergeblich dieser Ansatz ist und wie verfallen seine Strukturen sind. Aber nur weil der »marxistische Reformismus« der einzige Weg ist, der uns zur Verfügung steht, bedeutet das nicht, dass dieser frei von Schlaglöchern, Serpentinen und anderen Verkehrsteilnehmern ist, die uns von der Fahrbahn abdrängen und von der Klippe stürzen wollen.
In den USA hat es sich inzwischen eingebürgert, die Biden-Regierung als die dritte Amtszeit von Barack Obama zu bezeichnen. Doch während das Establishment der Demokratischen Partei am liebsten die ganze Band wieder zusammenbringen würde, um noch einmal die alten Hits zu spielen, hat sich seit 2016 zu viel verändert, als dass eine einfache Rückkehr zum Status quo ante möglich wäre.
Unter vier Jahren Donald Trump hat sich die Rechte weiter radikalisiert. Und erstmals seit Jahrzehnten gibt es in den USA eine Linke, die zählt. Wir haben die Möglichkeit und die Verantwortung, die Konturen der Welt nach der Pandemie mitzugestalten. Aber wir werden nur dann erfolgreich sein, wenn wir die richtigen Lehren aus dem letzten halben Jahrzehnt ziehen – und auch entsprechend handeln.
Chris Maisano ist Redakteur der US-amerikanischen Ausgabe von JACOBIN und Mitglied der Democratic Socialists of America.
Chris Maisano ist Redakteur bei Jacobin und Mitglied der Democratic Socialists of America.