18. April 2024
Édouard Louis wurde gefragt, ob jemand ohne persönliche Erfahrung mit Homophobie eines seiner Bücher als Theaterstück inszenieren könne. In seiner Antwort spricht er sich dagegen aus, Identitäten als etwas zu betrachten, das einige exklusiv besitzen.
Édouard Louis ist Autor mehrerer Bücher, die vielfach übersetzt, inszeniert und verfilmt worden sind.
Gestern schrieb mir ein Regisseur, der eines meiner Bücher als Theaterstück adaptieren möchte. Er sagte, er sei nicht sicher, ob er meine Geschichte legitimerweise und authentisch wiedergeben könne. Schließlich sei er ja heterosexuell, und ich schriebe als schwuler Mann über Homosexualität. Hier ist, was ich geantwortet habe – ich glaube, es ist eine gute Idee, das öffentlich zu teilen. Hiermit erkläre ich ein für alle Mal, wie ich über diese Fragen denke.
1. Du hast immer das Recht, zu tun, was Du willst, und niemand kann Dir vorschreiben, was Du tun darfst oder nicht tun darfst. Menschen, die sich für links halten, aber eine Grenze ziehen, wer reden darf und wer der den Mund halten soll, sind rechts.
2. Erfahrung ist nicht gleich Wahrheit. Erfahrung kann eine wichtige Quelle sein, sie kann helfen, aber sie ist nie eine Garantie. In meinem Leben habe ich immer wieder homophobe Schwule kennengelernt, ich habe rassistische nicht-weiße Personen getroffen und misogyne Frauen. Erfahrung schützt niemanden vor Ideologien. Die Frage ist daher nie, wer spricht, sondern was gesagt wird.
Es geht um den Inhalt Deines Diskurses. Die Frage ist: Sagst Du etwas, das homosexuellen Menschen hilft, oder etwas, das sie beleidigt? Sagst Du etwas, das Menschen aus der Arbeiterklasse unterstützt, oder etwas, das sie noch unsichtbarer macht? Etwas, das ihnen Waffen an die Hand gibt, oder etwas, das ihre Unterdrückung reproduziert?
3. Wer Identität als etwas betrachtet, das nur einer bestimmten Menschengruppe zugeordnet werden kann, ist kapitalistisch. Damit ist man Teil der kapitalistischen Unterdrückung. Solche Menschen sprechen über Identität wie über Privateigentum – mein Haus, mein Auto, mein Portemonnaie, meine Identität, meine Queerness.
Das ist ein Fehler. Meine Identität gehört nicht mir. Sie gehört Dir genauso wie sie mir gehört. Meine Homosexualität ist nichts, was ich persönlich besitze, also kann jeder darüber sprechen. Noch einmal: Die einzig wichtige Frage ist, was gesagt wird – und nicht von wem.
»Wenn ich Dir 50 Euro oder Dein Land wegnehme, hast Du es nicht mehr. Aber wenn ich Deine Geschichte nehme, hast Du sie immer noch.«
4. Ich glaube nicht an das Konzept der Aneignung, weil ich nicht an Eigentum glaube. In jedem Fall würde ich lieber in einer Gesellschaft der Diebe leben als in einer Gesellschaft der Grundbesitzer. Ich verehre Jean Genet mehr als Steve Jobs.
Natürlich weiß ich, dass Großgrundbesitzer in der Vergangenheit nur Großgrundbesitzer werden konnten, weil sie gestohlen haben. Es gibt also eine Verbindung zwischen den beiden, eine komplexe Verbindung. Doch symbolische Güter wie Sprache funktionieren nicht auf die gleiche Weise wie Geld oder Land. Wenn ich Dir 50 Euro oder Dein Land wegnehme, hast Du es nicht mehr. Aber wenn ich Deine Geschichte nehme, hast Du sie immer noch.
Sprache kann man nicht teilen – sie vermehrt sich, im Gegensatz zu materiellen Dingen. Deshalb sind in der Kunst und Literatur die Verlierer der Geschichte am Ende immer die Gewinner. Diejenigen, denen alles genommen wurde, sind diejenigen, die am Ende zu Wort kommen. Sie sind es, die Schönheit schaffen, denn Sprache kann man nicht stehlen, zumindest nicht für immer. Sie taucht immer wieder auf.
Deshalb kommen die größten Autorinnen und Literaten – oder eine große Mehrheit von ihnen – aus unterdrückten Bevölkerungsschichten. Deshalb sind die größten Schriftstellerinnen und Schriftsteller Toni Morrison, Annie Ernaux, James Baldwin, Swetlana Alexijewitsch, Jamaica Kincaid, Yiyun Li, Tash Aw.
5. Wir sprechen hier über Theater. Im Theater geht es um die Schönheit, enteignet zu werden. Wenn Du ein Stück über mein Leben adaptierst, nimmst Du ein Stück meines Lebens. Ich werde enteignet – und das ist eine gute Sache.
Denn ich habe mir mein Leben nicht ausgesucht. Ich habe mir nicht ausgesucht, schwul zu sein, zur Arbeiterklasse zu gehören oder in einer bestimmten Welt geboren zu sein. Weil ich es mir nicht ausgesucht habe, ist es auch wichtig, dass jemand anderes meine Geschichte für mich und an meiner Stelle erzählen kann. Wir sollten das Recht haben, nicht den früheren Schmerz oder die Gewalt zu ertragen, die wir uns nicht ausgesucht haben – das Recht, dass jemand anderes das für uns tut.
Menschen, die sich für progressiv halten, uns aber zwingen, über das zu sprechen, was wir erlebt haben (und nur darüber), sind gewalttätig. Sie wollen, dass wir mit unserem Mund weitertragen, was wir bereits mit unserem Körper, mit unserem Fleisch, gegen unseren Willen ertragen haben. Sie wollen nicht, dass wir daraus aussteigen.
Zum Beispiel Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben: Viele von ihnen wollen nicht darüber reden. Sie wollen es nicht noch einmal erleben, indem sie darüber reden, sie wollen nicht die Regie übernehmen. Jemanden zu haben, der in ihrem Namen spricht, ist eine Befreiung. Für mich war es eine Befreiung.
Ich habe ein Buch über Vergewaltigung geschrieben. Thomas Ostermeier hat es für das Theater adaptiert. In den letzten Jahren habe ich mich nicht stark genug gefühlt, um über dieses Thema zu sprechen. Es tut weh. Jedes Mal, wenn Thomas es tut, muss ich es nicht machen. Das ist positive Aneignung, positive Appropriation. Es ist die Art von Aneignung, die denjenigen, die leiden, das Privileg des Schweigens gibt.
»Wir haben ein Grundrecht auf Ruhe und deshalb auch ein Grundrecht darauf, dass andere Menschen in unserem Namen sprechen.«
6. Das erinnert mich an Leute, die sich beschweren, dass Homosexuelle immer weniger politisch engagiert seien. Vor ein paar Monaten sagte jemand zu mir: »Wenn Du zur Pride gehst, siehst Du da immer weniger Schwule; die wollen jetzt alle ein Haus kaufen und einen Hund haben«. Aber warum sollte es die Aufgabe von Schwulen und Lesben sein, zu kämpfen? Warum können nicht andere für uns kämpfen, an unserer Stelle?
Wir haben in unserem Leben schon so viel und so oft gelitten. Warum sollen wir erneut leiden, indem wir kämpfen? Kämpfen ist anstrengend. Kämpfen verursacht Schmerz, macht Dich verwundbar und macht Dich (wieder) zur Zielscheibe.
Politik erzeugt Erschöpfung, Anspannung und Angst, und als homosexuelle Menschen sind wir bereits erschöpft von unserem Alltagsleben, von den Beleidigungen in unserer Kindheit und von der Ablehnung, die wir erfahren haben. Wir haben ein Grundrecht auf Ruhe und deshalb auch ein Grundrecht darauf, dass andere Menschen in unserem Namen sprechen.
Natürlich möchte ich, dass Menschen kämpfen. Ich kämpfe, ich versuche zu kämpfen, ich schreibe – das ist das, was ich tue. Doch das ist etwas, das ich selbst entscheiden will und nicht etwas, das mir andere Menschen aufgrund meiner Identität aufzwingen können.
Ich denke gerade beim Schreiben vor allem an meine Homosexualität. Doch ich glaube, dass das, was ich sage, auch für andere Menschen gilt. Meine Mutter ist eine Frau aus der Arbeiterklasse und sie will nicht über Armut reden, sie will keine politische Diskussion darüber führen, sie ist zu erschöpft von fünfzig Jahren Armut. In dem Arbeitermilieu, in dem ich aufgewachsen bin, sagten die Leute oft, die linken Parteien würden sie ignorieren: »Niemand redet über uns.« Sie sagten nicht: »Wir wollen reden.« Sie sagten: »Niemand redet über uns.«
Viele Menschen, die viel gelitten haben, wollen, dass andere Menschen reden. Es ist ein Hirngespinst des Kleinbürgertums, zu glauben, dass jede Person davon träumt, über sich selbst zu sprechen und diesen neuerlichen Schmerz zu all den anderen Formen des Schmerzes hinzuzufügen, die er oder sie bereits durchgemacht hat. Das Problem mit der heutigen Politik ist, dass sie mehr und mehr von dieser Bourgeoisie kontrolliert wird und diese Menschen denken, ihre herbeifantasierte Welt sei die reale Welt.
7. Wenn homo- oder transsexuelle Personen über sich selbst sprechen wollen, sollten sie das tun können. Wenn Menschen aus der Arbeiterklasse über sich selbst sprechen wollen, sollten sie das auch tun können. Es stimmt, dass wir lange zum Schweigen gebracht wurden; dass wir von vielen zur Karikatur gemacht und verspottet wurden. Aber das ist ein anderes Thema: Denn das sollte andere Menschen nicht vom Sprechen abhalten und davon, ihre Meinung zu sagen.
Wenn man Menschen neue Rechte gibt, wie zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, bedeutet das nicht, dass man andere Menschen dieses Rechts beraubt. Das ist ebenfalls ein konservativer Drang. Alle rechten Politikerinnen und Politiker spielen mit dieser Idee: Sie sind der Ansicht, man müsse gewissen Menschen ihrer Rechte berauben, um das Leben anderer Menschen zu verbessern. Das ist eine Lüge.
»Wir leben in einer gemeinsamen Welt und alles gehört Allen.«
8. Wenn Du Fragen oder Zweifel hast, kannst Du natürlich homosexuelle Menschen in Deinem Umfeld fragen. Das ist immer Teil unserer Arbeit. Das ist Kunst. Das ist ein kollektiver Prozess. Es geht darum, sich auszutauschen und zu versuchen, die Wahrheit zu finden.
Selbst ich habe Angst, nicht fair zu sein, nicht gerecht zu sein, zu vereinfachen oder zu karikieren, wenn ich über einen Schwulen oder irgendeine andere Figur oder über meine Mutter schreibe. Oder dass ich einen wichtigen Punkt übersehe. Ich frage deswegen meine Freundinnen und Freunde. Sie lesen meine Arbeit noch einmal, sie machen Vorschläge. Manchmal mache ich auch Fehler, wenn ich über Homosexualität schreibe – obwohl ich selbst schwul bin.
Denn Erfahrung ist nicht alles. Deshalb wird es Dir ähnlich ergehen, wenn Du ein Stück mit einer schwulen Figur inszenierst, auch wenn Du selbst heterosexuell bist. Du wirst arbeiten, Kunst schaffen. Du wirst reden. Du wirst Fehler machen. Du wirst versuchen, diese Fehler zu korrigieren. Egal, woher Du kommst; egal, was in Deinem Pass steht; egal, mit wem Du nachts schläfst.
Denn nochmals: Das einzig Wichtige ist, was Du sagen willst – und ich bin mir sicher, dass Du emanzipatorische Dinge sagen und ausdrücken willst.
Niemand kann Dir vorschreiben, über was Du sprichst und über was Du nicht sprechen darfst. Denn wir leben in einer gemeinsamen Welt und alles gehört Allen.
Ich hoffe, diese Worte geben Dir Kraft.
Ich wünsche Dir einen wunderschönen Tag,
Édouard
Édouard Louis ist Schriftsteller und linker Intellektueller. Sein Debütroman »Das Ende von Eddy« erschien 2015. Zuletzt wurde 2021 »Die Freiheit einer Frau« bei Fischer veröffentlicht.