10. Mai 2021
Statt »blühender Landschaften« folgten nach der Wende Massenentlassungen und der Ausverkauf der DDR. Als Helmut Kohl heute vor 30 Jahren siegessicher auf dem Marktplatz in Halle auftritt, schlägt ihm der Protest der Bevölkerung entgegen.
Die Folgen von Kohls marktradikaler Schocktherapie wirken bis heute nach.
Am 10. Mai 1991 wird Bundeskanzler Helmut Kohl (1930-2017) auf dem Marktplatz von Halle aus einer Menschenmenge heraus mit Eiern und Tomaten attackiert. Vor diesem Geschehnis am späten Nachmittag hatte der Bundeskanzler am gleichen Tag die großen Chemiestandorte in Bitterfeld und Schkopau besucht, wo es um das ökonomische Überleben der ehemaligen Kombinate ging, die inzwischen von der Treuhandanstalt verwaltet wurden. Nicht nur in Halle-Neustadt – der ehemaligen »Stadt der Chemiearbeiter« – hingen vom Überleben dieser Betriebe zahlreiche Existenzen ab. Kohl hatte sich auf seiner Visite optimistisch über den Erhalt der Standorte geäußert, allerdings einen drastischen Personalabbau als Voraussetzung angekündigt.
Zum Abschluss des Besuchs wollte er in Halle vor dem Rathaus, wie die Tagesschau berichtete, »doch noch einige Hände schütteln«. Und dann das! »Eier und Tomaten flogen, der Bundeskanzler verlor seine Geduld und die Beherrschung, und die Sicherheitsbeamten verloren die Kontrolle.« Anstatt unter schnell aufgespannten Regenschirmen, wie von den Werfern angenommen, Zuflucht zu nehmen, stürmte der massige Kohl auf die Demonstranten zu, die er auch an Größe weit überragte. Letztlich schützte der Metallzaun wohl eher die Jungsozialisten vor dem direkten Zugriff des CDU-Politikers, so dass sie sogar noch einige Wirkungstreffer aus der unerwarteten Nahdistanz anbringen konnten.
Der Kanzler selbst äußerte sich in einer späteren Pressekonferenz dazu schlagfertig: »Da ich nicht die Absicht habe – wenn jemand vor mir steht und mich bewirft – davonzulaufen, bin ich eben auf die Menschen zu. Und da hat ein Gitter dazwischengestanden. Und das war von Nutzen«. Obwohl die Polizei über die vorhandenen Videoaufnahmen den Jurastudenten und Juso-Vizechef von Halle Matthias Schipke als Akteur identifizierte und kurzzeitig festnahm, gab es trotz des großen Medienechos aufgrund einer fehlenden Anzeige letztlich keine juristischen Konsequenzen.
Der hallische Marktplatz wurde an jenem Maitag 1991 aber keineswegs zum ersten Mal zu einem Ort, an dem Politiker öffentlich geschmäht werden. Schon anderthalb Jahre zuvor, am 6. November 1989, war an gleicher Stelle der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Hans-Joachim Böhme (1929-2012) bei einem unbeholfenen Dialogversuch mit oppositionellen Demonstrantinnen und Demonstranten gnadenlos ausgepfiffen und sogar bespuckt worden. Und auch Kohl selbst hatte bereits am 27. August 1990 gemeinsam mit dem DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere (CDU) an einer Wahlkampfveranstaltung vor über 20.000 Menschen teilgenommen, die laut Mitteldeutscher Zeitung (seit 17. März 1990 als Nachfolgerin der bisherigen Freiheit) »wiederholt durch Zwischenrufe, Beifall, Pfiffe, Sprechchöre sowie in Richtung Tribüne geworfene Tomaten und Eier unterbrochen wurde«.
Auf der teilweise durch »tumultartige Szenen« unterbrochenen Veranstaltung hatte der Bundeskanzler im August 1990 noch »all diejenigen [verurteilt], die unentwegt die Kosten der deutschen Vereinigung ins Spiel brächten und zu keinerlei Solidarität bereit seien. Trotz einer Talsohle werde es durch die soziale Marktwirtschaft aufwärts gehen«.
Das hielt die im Dezember 1990 gesamtdeutsch wiedergewählte christlich-liberale Koalitionsregierung unter Führung von Kanzler Kohl und dem aus Halle stammenden Vizekanzler und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1927-2016) allerdings nicht davon ab, die deutsche Einheit auf Kosten der Solidargemeinschaften der Arbeitslosen- und Sozialversicherung durch »die überproportionale Belastung der Unterschichten« – wie es Gerhard Ritter in Der Preis der deutschen Einheit formuliert – zu finanzieren und auf eine Besteuerung größerer Vermögen zu verzichten.
Die patriotische Solidarität hielt sich auch in Grenzen bei der vor allem von der FDP geforderten unbedingten Anwendung des formaljuristischen Prinzips »Rückgabe vor Entschädigung« bei offenen Vermögensfragen. Diese Regelung bevorzugte bei der Verteilung der zuvor volkseigenen Immobilien die alten (West-) Eigentümer und bedeutete oft eine Enteignung der von Arbeitslosigkeit bedrohten ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürger von ihren zumeist gepachteten Häusern und Grundstücken. »Unversöhnlich«, so berichtete Der Spiegel im Juni 1992, »stehen sich zu Hunderttausenden alte und neue Besitzer gegenüber. Die einen verlangen ihr von Bonn verbrieftes Recht auf den alten Besitzstand, die anderen verteidigen ihr während des Sozialismus erworbenes Eigenheim.« Darüber hinaus erwies sich diese Lösung als ein ernsthaftes Hindernis für zügige Investitionen in die ostdeutsche Infrastruktur.
Im ungünstigsten Fall waren zahlreiche hallische Demonstrantinnen und Demonstranten vom 6. November 1989 im Mai 1991 trotz DM-Konto und eventuellem Westauto von Entlassung und einige sogar von Enteignung bedroht. In Die Ostdeutschen und die Demokratie charakterisiert der Soziologe Wolfgang Engler die soziale und politische Konstellation in Ostdeutschland folgendermaßen:
»Kaum war das primäre Ziel des ostdeutschen Aufbruchs erreicht, verbriefte Grundrechte und elementare Freiheiten für jedermann, verloren Millionen von Ostlern den wirtschaftlichen und sozialen Halt. Bestimmungsgewinn in politischer und rechtlicher Hinsicht und sozialökonomischer Bestimmungsverlust gingen Hand in Hand. Der Boden, auf dem man sich bewegte, gab nach, und genau das untergrub die Identifizierung mit dem Rahmen, in dem man sich bewegte. Ohne Kenntnisnahme dieses Grundwiderspruchs wird die gesamte nachfolgende Entwicklung unverständlich«.
Hinzu kam im konkreten Fall von Halle noch, dass manch kritische Intellektuelle, die am 6. November 1989 die Abrechnung mit der SED-Bezirksleitung begrüßt hatten, inzwischen von der pauschalen »Abwicklung« (d.h. Schließung und Entlassung der Mitarbeiter ohne jede persönliche Evaluation) der im weitesten Sinne gesellschaftswissenschaftlichen Institute der Martin-Luther-Universität betroffen waren und damit ihre Arbeit und oft auch den Lebenssinn verloren hatten. Die Vorgänge an der Universität sind für das Verständnis der hallischen Attacke auf den Bundeskanzler vor allem deshalb nicht unwesentlich, weil es sich bei den Eierwerfern hauptsächlich um die Mitglieder der Juso-Hochschulgruppe handelte. Diese hatte sich zuvor aktiv an den Protesten gegen die pauschale Entlassung der von »Abwicklung« betroffenen Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen beteiligt, die zum Jahreswechsel 1990/91 ebenso wie in Berlin und Leipzig auch in Halle zu einer studentischen Besetzung des Rektorats geführt hatte.
Wie der Jurastudent Schipke sahen damals viele Studierende ihr oft erst 1990 unter gänzlich neuen Bedingungen aufgenommenes Studium (freie Studienwahl ohne Zugangsbeschränkung, neue Studiengänge etc.) bedroht, was erheblich zu ihrer Politisierung beitrug. Auch die neu gegründeten Studentenräte beharrten gegen die schematische Übernahme des westdeutschen Universitätssystems auf einem gewissen 1989/90 entwickelten ostdeutschen Eigensinn. All dies mag bis zum Mai 1991 zu einer emotionalen Aufladung gerade im Hochschulmilieu beigetragen haben, aus der heraus die Protestaktion gegen Kohl am 10. Mai 1991 entstand.
Die Tatsache, dass sich die Aktion tief im ikonischen Gedächtnis der sogenannten Wendezeit eingrub, verdankte sich dem großen Medienecho. Nachdem die Tagesschau am selben Abend mit einem Filmbeitrag über das Geschehen in Halle berichtet hatte, schien es, als hätte die Öffentlichkeit nur auf ein solches Ereignis gewartet. Freilich waren die Interpretationen höchst verschieden. Für die von der Bild-Zeitung angeführte Boulevardpresse personifizierte Schipke die »Schande von Halle«, in der sich linker Extremismus mit einer unverbesserlichen Sehnsucht nach der DDR im Motiv des »Jammer-Ossis« verband. Dies passte in das offiziell gepflegte konservativ-nationalistische und wirtschaftsliberal unterfütterte Politikbild, wonach die »Friedliche Revolution« in der DDR mit dem Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 beendet war.
Kohl selbst sprach von einem »schäbigen Kapitel hallescher Gastfreundschaft« und zugleich – als traue er den Hallenserinnen und Hallensern einen solch radikalen Frevel gar nicht zu – von einem »transportablen Pöbel«, der auf politischen Krawalltourismus schließen lasse. Franz Müntefering verurteilte im Namen der SPD die »extremistischen Ausschreitungen« der eigenen Jugendorganisation, fügte aber hinzu, dass das eigentliche »dicke Ei« den überzogenen Illusionen geschuldet sei, die Kohl 1990 mit dem voraussetzungslosen und daher irreführenden Wahlslogan von den »blühenden Landschaften« zum bloßen Zwecke des eigenen Machterhalts erzeugt hatte.
Der persönlich eher zurückhaltende Schipke wurde in der Folge zu einem begehrten Gast in den Talkshows, wo – etwa in Friedrich Küppersbuschs populären Politmagazin ZAK im Westdeutschen Rundfunk (WDR) – das Ereignis ausgiebig besprochen wurde. So reihte sich die Tat ein in den Kontext des 1967 geplanten Pudding-Attentats der Kommune I und die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld 1968 dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) wegen seiner NSDAP-Vergangenheit gegeben hatte.
Hinzu kam auch das gellende Pfeifkonzert, das Helmut Kohl am 10. November 1989 beim Absingen der Nationalhymne am Berliner Rathaus Schöneberg entgegenschlug, als die linksalternative West- und Ostberliner Opposition erstmals gemeinsam politisch aktiv wurde. Aber auch die terroristischen Attentate der Roten Armee Fraktion (RAF) vom November 1989 und April 1991, die zur Ermordung von Alfred Herrhausen (Vorstandssprecher der Deutschen Bank) und Detlev Karsten Rohwedder (Präsident der Treuhandanstalt) führten, gehörten zur politischen Assoziationskette des kollektiven Gedächtnisses. Sie wurden 1992 von dem populären Ost-Musiker Gerhard Gundermann (»Terminator II«) in einigen Versen aufgegriffen:
»Durch ihre Edelstahlkarossen, kommt man nur mit Spezialgeschossen. Wir hoffen hier und in Halle, werden die Eier niemals alle«
Anstatt des undankbaren »Jammer-Ossis«, dem die staatliche Einheit und die Marktwirtschaft geschenkt wurden, steht in dieser Kontextualisierung der demokratische Widerstand in der politischen Kontinuität von 1968 und 1989 im Vordergrund. In diesem Sinne ließ sich der hallische Eierwurf als Signal für den möglichen Ausbruch aus der national-konservativen Politikerzählung mit wirtschaftsliberaler Grundtönung deuten, in der die ostdeutsche Demokratiebewegung mittlerweile weitgehend passiv gefangen war.
Um zu verstehen, dass eine mit solchen politischen Hoffnungen verbundene Wahrnehmung damals nicht völlig aus der Luft gegriffen war, braucht nur an die tiefe politische Krise der Kanzlerschaft Kohls vom Sommer 1989 erinnert zu werden, in der es faktisch um das politische Überleben eines gescheiterten Politikers ging, dessen Ablösung durch Lothar Späth innerhalb der CDU bereits weitgehend beschlossene Sache war. Im Zuge der neuen Ereignisse im Osten im Anschluss an die Grenzöffnung in Ungarn, die für den Machterhalt Kohls entscheidend waren, bestand das Horrorszenario für die regierende CDU/FDP-Koalition 1989/90 in der konkreten Möglichkeit eines Zusammengehens der rot-grünen Opposition in der alten Bundesrepublik mit der revolutionär-demokratische Bewegung in der DDR, in der bekanntlich ursprünglich das reformsozialistische »Neue Forum« und die neu gegründete Sozialdemokratie (SDP) den politischen Ton angegeben hatten.
Die gesamte Vereinigungspolitik der Regierung Kohl/Genscher kann deshalb auch unter dem Gesichtspunkt des eigenen Machterhalts betrachtet werden. Dies reicht vom politisch erfolgreichen Aufbau der »Allianz für Deutschland« (AfD) aus CDU, DSU und »Demokratischem Aufbruch« vor den März-Wahlen in der DDR, des Danaergeschenks der hastigen und ökonomisch verheerend geplanten Einführung der Währungsunion bis hin zum unbedingten Vollzug der staatlichen Einheit vor den Bundestagswahlen im Dezember 1990. Als Krönung der neoliberalen »Schock-Strategie« fungierte die radikale Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt.
Trotz oder gerade vielleicht wegen des Übergreifens der ostdeutschen Transformationskrise auf Gesamtdeutschland im Zuge der verfehlten Finanzierung der Einheitskosten über die Sozialkassen mauserte sich die Bundesrepublik allerdings langfristig zum neoliberalen Musterschüler Europas. Wie Gerhard Ritter in Der Preis der deutschen Einheit schreibt, führte »die Überlastung der Sozialversicherungen, denen gesamtgesellschaftliche Aufgaben aufgebürdet wurden«, über »die damit bewirkte starke Erhöhung der gesetzlichen Lohnnebenkosten« direkt in die sozialökonomische Problemlage hinein, in der nach der Jahrtausendwende die neoliberalen »Hartz-Reformen« bzw. die »Agenda 2010« unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder entstanden. Die politisch-moralischen Spätfolgen dieser Politik beschäftigen das Land heute noch.
Wenn daher die Satire-Zeitschrift Titanic ab 1991 sehr erfolgreich Poster und Postkarten verkaufte, auf denen der Kanzler den hallischen Demonstrantinnen und Demonstranten mit großen Schritten entgegeneilt, und sie mit der ironischen Überschrift »Aufeinander zugehen!« versah, dann schwang darin die Lesart einer alternativen Vereinigung mit. Statt der konservativ-liberalen Vereinnahmung, in der eine revolutionär-demokratische Volksbewegung auf magische Weise in eine politisch passive Bevölkerung transformiert wurde, wäre aus revolutionärer Perspektive auch eine demokratisch-kämpferische Einheit gegen realsozialistischen Machtmissbrauch und neo-kapitalistische Oligarchie möglich gewesen. Im heute merkwürdig utopisch wirkenden Pfeifkonzert aus politisch versammelten West- und Ost-Berlinern am 10. November 1989 vor dem Rathaus Schöneberg war diese politische Einheit zumindest akustisch kurz präsent.
Von hier aus hätte möglicherweise zusammenwachsen können, was politisch im Sinne Willy Brandts zusammengehört. So jedoch endete der revolutionäre »Exodus« aus der «ägyptischen Gefangenschaft« von 1989 – wie mit der biblischen Revolutionsmetaphorik von Michael Walzer und Gunnar Hindrichs formuliert werden kann – zunächst nicht mit der vollendeten Landnahme im »gelobten Land«, sondern blieb weitgehend auf halbem Wege beim »Tanz um das goldene Kalb« in der Wüste Sinai stecken. Die Eier vom hallischen Marktplatz wären in dieser Beschreibung Symbole für die revolutionäre Schande eines gebrochenen »Bundes«, dessen uneingelöstes Versprechen der Freiheit im aktuellen Unbehagen an der Politik noch präsent ist.
Eine frühere und ausführlichere Version des Textes erschien in »Stadtgeschichte auf Fotografien. Halle (Saale) im 20. Jahrhundert«, herausgegeben von Daniel Watermann und Susanne Feldmann (Mitteldeutscher Verlag, 2020).
Axel Rüdiger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig (Japanologie) und Lehrbeauftragter für politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Halle. Dort hat er im November 1989 mit Gleichgesinnten einen Freiheitsbaum gepflanzt.
Axel Rüdiger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig (Japanologie) und Lehrbeauftragter für politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Halle. Dort hat er im November 1989 mit Gleichgesinnten einen Freiheitsbaum gepflanzt.