27. Juli 2023
Mit dem Vorschlag von Carola Rackete als Spitzenkandidatin für die Europawahl rückt die Spaltung der Linken nochmals näher. Doch weder eine Bewegungspartei noch eine Liste Wagenknecht weckt Hoffnung auf eine starke sozialistische Kraft.
Mit der Aufstellung der Aktivistin will die Parteiführung der LINKEN ein Zeichen setzen.
IMAGO / Christian SpickerDas Schlimmste könnte bald endlich vorüber sein: Seit der Ankündigung der Linkspartei-Vorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan, dass die Zukunft ihrer Partei »eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht« sei, ist klar, dass die Tage der LINKEN, wie sie seit Mitte der 2000er Jahre existiert, gezählt sind. Wagenknechts Anhängerinnen und Anhänger äußern ihren Wunsch nach einer Spaltung seit Monaten immer offener, aber mit dem einstimmigen Beschluss des Parteivorstands im vergangenen Monat und der anschließenden Bekanntgabe der Kandidaturen der Seenotretterin Carola Rackete und des Sozialmediziners Gerhard Trabert für das Europaparlament in der vergangenen Woche ist der Bruch, der sich mindestens seit 2015 abzeichnet, in greifbare Nähe gerückt.
Eine solche Spaltung wäre nicht ohne Risiken, von denen das größte darin besteht, dass 2025 keine Partei links von der SPD mehr im Bundestag vertreten sein wird. Aber in gewisser Weise wäre sie auch eine Erleichterung. Die Atmosphäre in der Partei ist seit Jahren vergiftet. Keine der beiden Seiten führt auch nur annähernd einen konstruktiven Dialog und jede gibt der anderen die Schuld an den Schwierigkeiten der Partei. Das voraussichtliche Ausscheiden des Wagenknecht-Flügels würde beiden Seiten die Möglichkeit geben, sich auf ihre jeweiligen politischen Projekte zu konzentrieren und diese an ihren eigenen Erfolgen zu messen, anstatt den angeblichen Verfehlungen ihrer Gegenüber die Schuld am eigenen Scheitern zu geben.
Aber was genau sind diese Projekte? Wie, wenn überhaupt, werden sie sich vom Kurs der heutigen Linkspartei unterscheiden? Und haben sie eine realistische Chance, die Stagnation des letzten Jahrzehnts zu überwinden?
Sicherlich würde die Unabhängigkeit beiden Formationen helfen, ihre jeweilige politische Ausrichtung zu klären, aber nach Jahren der Selbstzerfleischung und Selbstblockade täten sie dies aus einer Position der Schwäche heraus. Darüber hinaus könnten ihre undeutlichen politischen Konturen und ungelösten inneren Widersprüche in Zukunft durchaus weitere Spaltungen provozieren. Alles ist besser als die Sackgasse der letzten Jahre, aber eine mögliche Erholung wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Im schlimmsten Fall gelingt es keiner Seite, sich aus der selbstauferlegten Abwärtsspirale zu befreien, und die politische Linke in der Bundesrepublik könnte um Jahrzehnte zurückgeworfen werden.
Die Pressekonferenz von letzter Woche, auf der die Kandidatur von Rackete und Trabert bekannt gegeben wurde, war eindeutig ein kalkulierter Schachzug. Die Wahl von Rackete im Besonderen und die Rhetorik drumherum setzt den politischen Kurs fort, der zuvor mit ihren Vorgängern Katja Kipping und Bernd Riexinger verbunden war. Janine Wisslers jüngste Ankündigung, die LINKE soll sich mehr für soziale Bewegungen öffnen, ist praktisch identisch mit Kippings damaliger Aussage, die Partei solle »erste Adresse« sein für »junge Leute, die die Welt verändern wollen«. Um diese (gar nicht so neuartige) Ausrichtung zu unterstreichen, folgte auf die Pressekonferenz zur Europawahl eine weitere auf dem unmittelbar neben dem Karl-Liebknecht-Haus gelegenen Rosa-Luxemburg-Platz, auf der »Bewegungsaktive«, das heißt Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Klima- und Menschenrechts-NGOs, »ihre Erwartungen an die Partei, ihre Wünsche und Kritik zum Ausdruck brachten«.
Auf Twitter und in Teilen der Medienlandschaft wurde die Ankündigung von Rackete als ein »Coup« beschrieben. Mit der Rekrutierung einer bekannten parteilosen Aktivistin sende die Parteiführung ein klares Signal, dass sich das Blatt gewendet habe, und lade Sympathisanten und ehemalige Mitglieder ein, zur LINKEN zurückzukehren. Zumindest im Moment sieht es so aus, als hätten die führenden Köpfe des schwächelnden Ostflügels der Partei, wie unter anderem Dietmar Bartsch, ihren Segen gegeben. In diesem Sinne scheint sich ein neues strategisches Zentrum, wie es von Parteimitgliedern seit langem gefordert wird, abzuzeichnen. Aber repräsentieren die »Bewegungsaktiven«, die auf der Pressekonferenz sprachen, wirklich eine verlässliche Wählerbasis?
Der Vorstand der Partei scheint deren Überleben darauf zu setzen, dass Aktivistinnen und Aktivisten, die in der Lage sind, punktuell große Demonstrationen zu organisieren, ein kohärentes gesellschaftliches Milieu darstellen, das langfristig an die Partei gebunden werden kann. Doch Unteilbar und Fridays for Future, um zwei oft zitierte Beispiele zu nennen, waren alles andere als kohärent. Beide mobilisierten für fortschrittliche Ziele – eine humane Migrationspolitik und dringend notwendige Klimaschutzmaßnahmen – aber ihre Klassenzusammensetzung und parteipolitischen Loyalitäten sind höchst heterogen. Einige, vielleicht sogar viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer könnten wahrscheinlich davon überzeugt werden, von Zeit zu Zeit die Linkspartei zu wählen. Aber da es sich im Wesentlichen um vorübergehende Wahlverwandtschaften und nicht um Klassenfraktionen oder zusammenhängende gesellschaftliche Blöcke handelt, ist es gelinde gesagt ein schwieriges Unterfangen, aus diesen Bewegungen eine stabile gesellschaftliche Basis zu schaffen, wie es frühere linke Massenparteien getan haben.
Zu den soziologischen Realitäten, die die »Bewegungsorientierung« erschweren, kommt noch die Frage der politischen Konjunktur hinzu. Denn die Europawahl kommt zu einer Zeit, in der »die Bewegungen« selbst ebenfalls in einer Sackgasse stecken: Die Klimamobilisierungen der letzten Jahre, die zu den größten der Welt gehörten, konnten die Ampelkoalition nicht dazu bewegen, den ökologischen Umbau zu beschleunigen. Tatsächlich scheint Robert Habeck von seinem Versprechen, bis 2038 aus der Kohlekraft auszusteigen, abzurücken, woran auch die zunehmend verzweifelten Taktiken einiger Teile der Klimabewegung nichts ändern konnten.
Trotz der erfolgreichen Mobilisierungen von Unteilbar für eine humane Migrationspolitik unterstützt eine von den Grünen und der SPD geführte Regierung die drakonischen Asylreformen der EU, während Nancy Faeser Deals mit autoritären Regierungen in Nordafrika schließt, um Migrantinnen und Migranten in Zukunft weit von der europäischen Grenzen fernzuhalten. Das Bündnis selbst hat sich 2022 sang- und klanglos aufgelöst, nachdem »die Dynamik verloren gegangen« war. Jetzt, da eine rechte Asylpolitik tatsächlich umgesetzt wird, scheint es nicht möglich zu sein, diese Dynamik wiederherzustellen.
»Die zukünftige Linkspartei wird, wenn es beim Bewegungskurs bleibt, von einer fragilen Wählerkoalition abhängen, deren Abstimmung vor allem von moralischer Überzeugung und taktischen Erwägungen bestimmt wird.«
Ob in Berlin oder anderswo – einzelne soziale Bewegungen haben hier und da kleine Erfolge errungen. Insgesamt scheint der »Neustart« in der Linkspartei sich aber auf eine Koalition von Gruppen zu verlassen, die hilflos vor größeren gesellschaftlichen Umwälzungen stehen, die sie nicht beeinflussen können. Wisslers Formulierung, die LINKE wolle ein »Pol der Hoffnung« sein, spiegelt (wenn auch unbewusst) diese Hilflosigkeit wider: Weder die Partei noch die mantraartig beschworenen »Bewegungen« sind derzeit auf dem aufsteigenden Ast. Aber wenn sie sich zusammentun – so offenbar das Kalkül – kommen sie vielleicht immerhin auf 5 Prozent und retten damit, was noch zu retten ist.
Diese Rechnung könnte durchaus ausreichen, um die Linkspartei vor dem wahlpolitischen Aus zu bewahren. Die allgemeine Bereitschaft von Grünen und SPD, ihren letzten Rest an Glaubwürdigkeit über Bord zu werfen, um die Regierung zusammenzuhalten, haben der LINKEN etwas Raum eröffnet, in dem sie zumindest einen Teil dieser Wählerschaft eventuell zu sich rüberziehen kann. Dies wird die Partei jedoch nicht auf eine solide Basis für die Zukunft stellen. Die kulturell und materiell gebundene Wählerbasis im Osten galt lange Zeit als »Lebensversicherung«, auf die die Linkspartei zählen konnte. Doch sie ist inzwischen Geschichte. Die zukünftige Linkspartei wird, wenn es beim Bewegungskurs bleibt, von einer fragilen Wählerkoalition abhängen, deren Abstimmung vor allem von moralischer Überzeugung und taktischen Erwägungen bestimmt wird. Sollten zum Beispiel die Grünen im nächsten Wahlkampf unerwartet linke Töne von sich geben, könnte diese Koalition recht schnell auseinanderfliegen.
Auf der anderen Seite des Grabens muss Sahra Wagenknechts Flügel endlich entscheiden, ob ihre politische Zukunft in einer eigenständigen Formation liegt. Trotz ihrer anhaltenden Beliebtheit sowohl in einem Teil der Mitgliedschaft als auch in der Bevölkerung sind ihre Anhängerinnen und Anhänger innerhalb des Parteiapparats seit Jahren isoliert und seit dem letzten Parteitag im Vorstand überhaupt nicht mehr vertreten. Obwohl Wagenknecht öffentlich beteuert, dass sie sich noch nicht entschieden hat, ob sie eine neue Partei gründen will, bereitet ihr innerer Kreis einen solchen Schritt aktiv vor und kontaktiert beispielsweise LINKE-Funktionäre im ganzen Land, um sich nach Interesse ihrerseits zu erkundigen.
Wie und ob diese Partei wirklich kommen wird, bleibt jedoch ungewiss, da sich die zentralen Figuren über Einzelheiten bemerkenswert bedeckt halten. Gerüchte, dass zumindest manche eine »Kaderpartei« anstreben, und Wagenknechts eigene öffentliche Äußerungen, dass eine Parteigründung auch schwierige Leute anziehen könnte, deuten darauf hin, dass es sich nicht um ein weiteres Projekt wie das gescheiterte Aufstehen, sondern um eine kompaktere Formation handeln wird. Statt einer Mailingliste mit 100.000 Adressen und wenig organisatorischer Infrastruktur an der Spitze ist eine viel kontrolliertere, kopflastige Operation zu erwarten, die alles auf Wagenknechts Popularität als Eintrittskarte für politische Relevanz setzt.
Diese Wette ist auch gar nicht so abwegig. Umfragen bestätigen regelmässig Wagenknechts Position als eine der beliebtesten Politikerinnen in Deutschland. Eine neuere deutet darauf hin, dass eine von ihr geführte Partei bei den Landtagswahlen in Thüringen im nächsten Jahr den ersten Platz belegen könnte, und eine andere Umfrage vom Juni zeigte, dass 19 Prozent der Wählerinnen und Wähler sich zumindest vorstellen könnten, für eine Wagenknecht-Partei zu stimmen.
»Es ist eine Sache, einem Meinungsforscher am Telefon zu sagen, dass man eine theoretische Wagenknecht-Partei wählen würde, aber eine ganz andere, am Wahltag für eine relativ unbekannte Politikerin zu stimmen, die zufällig mit Deutschlands polarisierendstem Talkshowgast auf einer Wahlliste steht.«
Angesichts der Tatsache, dass die Linkspartei seit Jahren bei 4 oder 5 Prozent dümpelt, klingen diese Zahlen erstmal ermutigend. Vor allem der Gedanke, dass Wagenknecht der AfD einen bedeutenden Teil ihrer Basis entziehen könnte, ist angesichts des derzeitigen Aufschwungs der Rechten durchaus erleichternd. Allerdings waren nicht alle Umfragen so positiv: Eine aktuelle YouGov-Umfrage ergibt, dass nur 2 Prozent der Wählerinnen und Wähler bereit wären, bei einer Bundestagswahl für Wagenknecht zu stimmen. Darüber hinaus bleibt weiterhin unklar, ob sie selbst tatsächlich für die neue Partei in den Wahlkampf ziehen oder nur als symbolische Galionsfigur dienen würde.
Abgesehen von den methodischen Schwierigkeiten, die Unterstützung für eine hypothetische Partei zu messen, deuten die Spekulationen über Wagenknechts Umfragewerte auf ein tiefer liegendes Problem hin: Das Projekt hängt nämlich ganz von ihrer Entscheidung ab, sich zur Wahl zu stellen oder nicht, und leidet unter einem eklatanten Mangel an prominenten Persönlichkeiten hinter ihr – wohl noch mehr als ihre derzeitige Partei, die ebenfalls Schwierigkeiten hat, neue Führungspersönlichkeiten vom Kaliber ihrer Gründergeneration hervorzubringen.
Sollte sie kandidieren, kann Sahra Wagenknecht nicht jedes Rennen bestreiten, und das allein reicht schon aus, um die Genauigkeit dieser Umfragen erheblich in Zweifel zu ziehen. Es ist eine Sache, wenn ein frustrierter Mitte-Rechts-Wähler einem Meinungsforscher am Telefon sagt, dass er eine theoretische Wagenknecht-Partei wählen würde, aber eine ganz andere, am Wahltag die Partei zu wechseln, um für eine relativ unbekannte Politikerin zu stimmen, die zufällig mit Deutschlands polarisierendstem Talkshowgast auf einer Wahlliste steht. Sollte sie sich dafür entscheiden, nicht selbst zu kandidieren, sondern lediglich das Aushängeschild der neuen Partei zu werden, wird es wahrscheinlich viel schwieriger sein, diese frühen Umfragewerte in tatsächliche Wahlergebnisse umzuwandeln – geschweige denn, diese Ergebnisse in eine landesweite politische Organisation zu verwandeln. Unterm Strich ist es daher wahrscheinlicher, dass zuerst eine Wagenknecht-Liste zur Europawahl antreten wird, deren Abschneiden dann als Lackmustest für die Gründung einer Wagenknecht-Partei fungieren wird.
Für Sozialistinnen und Sozialisten stellt sich im Zusammenhang mit der sich abzeichnenden Spaltung die Frage, ob eine der Geschiedenen das Potenzial hat, ein zunehmend zersplittertes linkes Lager zu konsolidieren und tiefere Wurzeln in den vergleichsweise großen und mächtigen Gewerkschaften des Landes zu schlagen. Auch hier sind die unmittelbaren Aussichten entmutigend.
Die Entscheidung, Carola Rackete zu nominieren, dürfte zumindest oberflächlich den Kernvorwurf Sahra Wagenknechts bestätigen, dass sich die Linkspartei sukzessive von ihrer Kernwählerschaft, der »traditionellen« Arbeiterklasse, entfernt und stattdessen progressiven Wählerinnen und Wählern aus der urbanen Mittelschicht zuwendet.
Es ist keineswegs so, dass die Partei aufgehört hat, über soziale Fragen zu diskutieren – erst diese Woche haben Martin Schirdewan und Gregor Gysi eine Reihe von Vorschlägen zur Bewältigung der Lebenshaltungskostenkrise durch eine Reichensteuer vorgelegt. Aber über die letzten zehn Jahre hat die LINKE in der Tat ihre Rhetorik und ihr Auftreten gravierend geändert und tritt zunehmend als Partei der sozialen Bewegungen auf und weniger als Partei der arbeitenden Menschen.
Die Parteiführung bestreitet diesen Vorwurf und pocht darauf, verschiedene gesellschaftliche Konfliktlinien »zusammendenken« zu wollen. Doch diese abstrakt richtige Aussage geht an dem Kern der Sache vorbei. Sicherlich können und müssen sozialistische Parteien Positionen zu allen möglichen Themen entwickeln. Die Frage ist eher, wie man diese Positionen kommuniziert, welche man in den Vordergrund stellt, und wie man sich gesellschaftliche Veränderung vorstellt. Entscheidet man sich für eine Selbstdarstellung als Partei der Weltverbesserer und des moralischen Gewissens, oder als eine Partei der Abgehängten, Abgegessenen und Entrechteten? Ob bewusst oder unbewusst, die Linkspartei scheint sich fürs Erstere entschieden zu haben.
»Anstatt die Formeln früherer Projekte der europäischen Linken nachzuahmen, sollte die Linke innerhalb und außerhalb der LINKEN einen genaueren Blick auf den schlafenden Riesen in ihrem eigenen Hinterhof werfen: die organisierte Arbeiterbewegung.«
Die bisherige Erfahrung weist in die Richtung, dass große Teile der alten Wählerbasis der LINKEN diese Wandlung nicht abkaufen, wie das katastrophale Abschneiden unter Arbeiterinnen und Gewerkschaftern bei der letzten Bundestagswahl zeigte. Selbst in Berlin, einer Stadt, die sich wie keine andere für eine »Bewegungsorientierung« eignet, hat die Partei bei den letzten Wahlen heftige Einbußen in ihren historischen Hochburgen im Osten erfahren, die ihre Zuwächse im Westteil der Stadt einfach nicht aufwiegen konnten. Man muss kein promovierter Politikwissenschaftler sein, um zu ahnen, dass diese Entwicklung nicht nur daran liegt, dass das prominenteste Mitglied der Partei sie regelmäßig öffentlich schlecht redet.
Doch wenn Wagenknecht zutreffend ein Abdriften der Linkspartei von der Arbeiterbewegung feststellt, überzeugt ihr Lösungsvorschlag ebenfalls nicht. In den Medien wird sie oft als radikale Kritikerin dargestellt, in Wirklichkeit wäre Wagenknechts Politik aber im linken Flügel der SPD in den 1980er Jahren zu Hause gewesen. Ihre wirtschaftspolitischen Positionen stimmen weitgehend mit denen der Gewerkschaften überein, fallen mitunter aber auch hinter diese zurück, wenn sie über die viel zu hohen Schuldenberge, die Wärmepumpe oder Niedrigzinsen als Enteignung der Mittelschicht herzieht.
Dennoch widmet sie den Gewerkschaften bei ihren öffentlichen Auftritten auffallend wenig Aufmerksamkeit. Vergeblich sucht man im Internet nach Fotos von Wagenknecht bei einem Streikposten oder im Gespräch mit den »normalen Leuten«, die die Parteiführung ihrzufolge ignoriert. Stattdessen kritisiert sie, zumindest in den letzten Jahren, lieber Pandemiemaßnahmen der Regierung oder ihr Verhalten zum Krieg in der Ukraine. Und während sie ihren früheren Genossinnen und Genossen vorwirft, sie würden die arbeitenden Menschen entfremden, indem sie sich realen oder imaginären Kulturkämpfen anpassen, wählt sie selbst zunehmend den umgekehrten Weg, indem sie eben diesen Kulturkämpfen immer mehr Aufmerksamkeit widmet, offenbar in dem Glauben, dass die Arbeiterklasse durch Polemiken gegen »Wokeness« dauerhaft für linke Politik zurückgewonnen werden kann.
Indem Sahra Wagenknecht unverblümt polarisierende Positionen vertritt, erzielt sie massive Aufmerksamkeit und wird zum Identifikationspunkt für frustrierte Menschen über Parteigrenzen hinweg. In ihren Medienauftritten und ihrem wöchentlichen Newsletter tauchen zwar immer wieder Brot-und-Butter-Themen auf. Sie gehen aber – wie übrigens auch bei ihren Gegnern im Parteivorstand – in einer längeren Liste von Kritikpunkten an der Regierung, politischen Forderungen und kulturkämpferischen Aussagen auf. Eine übergreifende, systematische Kritik am Kapitalismus als System oder die Berufung auf ein Subjekt – wie die organisierte Arbeiterbewegung – , das einen koordinierten Angriff auf dieses System starten könnte, fehlt weitgehend.
Linke in Deutschland befinden sich also in einer Zwickmühle. Weder die Linkspartei in ihrer jetzigen Form noch eine Wagenknecht-Partei, sollte sie zustande kommen, bieten besonders vielversprechende Aussichten für den kurz- bis mittelfristigen Aufbau einer sozialistischen Massenbewegung. Trotz ihrer Anfänge in den westdeutschen Gewerkschaften ist es der Linkspartei in den fast zwei Jahrzehnten ihres Bestehens nicht gelungen, ihre gewerkschaftliche Basis zu erhalten, geschweige denn auszubauen. Und Wagenknecht und ihre Anhängerschaft – obwohl sie durchaus bei einer breiten Schicht von Wählerinnen und Wählern aus der Arbeiterklasse beliebt sind – haben kaum eine nennenswerte organisatorische Basis. Diese beschränkt sich weitgehend auf die Bundestagsfraktion der Partei und ein schwindendes Netzwerk von Sympathisanten im Parteiapparat. Eine talentierte Gruppe könnte Sahra Wagenknechts Popularität vielleicht nutzen, um eine Arbeiterpartei aufzubauen, so wie es Sozialistinnen und Sozialisten in den USA mit den Bernie-Sanders-Kampagnen versuchten. Aber angesichts der ernüchternden Bilanz von Aufstehen sind Zweifel durchaus angebracht.
Über die letzten zwei Jahrzehnte sind viele »Bewegungsaktive« in ganz Europa zu der Erkenntnis gelangt, dass Protest nicht ausreicht, und haben begonnen, ihre Bemühungen in die Gründung neuer politischer Parteien zu stecken oder zu versuchen, historische linke Parteien wie die Labour Party in Großbritannien umzugestalten. In der LINKEN scheint das Gegenteil zu passieren: Die Partei strebt nun den Schulterschluss mit der »linken Zivilgesellschaft« an – ein vager Begriff, der alles vom Paritätischen Wohlfahrtsverband bis hin zu NGOs für Flüchtlingsrechte und Fridays for Future umfasst.
Dies spiegelt gewissermaßen Entwicklungen in der europäischen Linken in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren wider, als traditionelle linke Parteien versuchten, sich als »Parteien der Bewegungen« und als »parlamentarische Stimme der Straße« neu zu erfinden. Die Energie der Antiglobalisierungs- und Antikriegsbewegung trug einige von ihnen in die Parlamente, aber erreichte selten mehr als das. Das damals erfolgreichste Beispiel, die italienische Partei della Rifondazione Comunista, fristet schon seit den späten 2000er Jahren eine Randexistenz.
Die Finanzkrise von 2008 und die politischen Erschütterungen, die sie auslöste, schienen eine Gelegenheit zu bieten, die Öffentlichkeit entlang von Klassenlinien neu zu polarisieren und eine breite gesellschaftliche Koalition gegen die Reichen zu schmieden, die die Krise mitverursacht hatten und weiterhin von ihr profitierten, während der Rest unter ihr litt. Aus Frustration über das schleppende Tempo der neuen linken Parteien bauten politische Unternehmer wie Pablo Iglesias oder Jean-Luc Melénchon neue Formationen auf, die scheinbar über Nacht beeindruckende Wahlerfolge erzielten. Auch diese hatten jedoch Schwierigkeiten, ihr Momentum in dauerhafte Organisationsstrukturen umzusetzen. Sowohl Podemos als auch La France insoumise haben sich seitdem auf traditionellere Parteistrukturen zubewegt, um dieses Problem zu beheben. Sahra Wagenknecht scheint nun in eine ähnliche Richtung zu denken, allerdings in einer Zeit, in der die Klassenfragen vom Krieg in der Ukraine zumindest partiell überschattet werden und die politische Dynamik der extremen Rechten zuspielt.
Irgendwie hat man das Gefühl, das alles schonmal gesehen zu haben. Verstrickt in ihren eigenen Widersprüchen, versucht die deutsche Linke, halbherzig und fünf Jahre zu spät, Erfolgskonzepte aus dem Ausland zu importieren. Doch anstatt die Formeln früherer Projekte der europäischen Linken nachzuahmen, sollte die Linke innerhalb und außerhalb der LINKEN einen genaueren Blick auf den schlafenden Riesen in ihrem eigenen Hinterhof werfen: die organisierte Arbeiterbewegung.
Sozialisten pochen auf die Schlüsselrolle der Arbeiterklasse nicht aufgrund irgendwelcher ästhetischer Vorlieben oder um Klimaaktivistinnen mit Hochschulabschluss zu nerven, sondern aus der simplen Einsicht, dass ihre Rolle im Produktionsprozess und die Fähigkeit, diesen Produktionsprozess lahmzulegen und damit auch Profite zu unterbinden ihr ein erhebliches Machtpotenzial gibt, dem auch die größte Massendemonstrationen vor dem Brandenburger Tor nicht das Wasser reichen kann. Auch in der vergleichsweise ruhigen Bundesrepublik war dieses Potenzial kürzlich zu sehen, als die Streikwelle im vergangenen Frühjahr Lohnerhöhungen für Beschäftigte in mehreren Sektoren durchsetzte, was im Alltag von Millionen von Menschen einen spürbaren Unterschied macht.
Dieses Potenzial ist aber erstmal nur Potenzial, und die Linke in Deutschland ist zugegeben Lichtjahre davon entfernt, mit der großen Mehrheit dieser Klasse überhaupt in Kontakt zu stehen, geschweige denn sie in eine politische Massenbewegung zu kanalisieren. Doch dies zu tun bleibt nach wie vor die beste Chance, nicht nur eine Regierung zu bilden, sondern die Staatsmacht für einen grundlegenden sozialen Wandel zu nutzen. Wer über den Kapitalismus hinaus will, kommt an dieser Mammutaufgabe nicht vorbei.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.