25. August 2022
Nietzsche bleibt ein Gegner des Sozialismus. Das heißt aber nicht, dass er immer nur falsch lag.
Edvard Munch, »Friedrich Nietzsche« (1906), Ausschnitt
Wikimedia Commons.Friedrich Nietzsche war ein erklärter Feind des Sozialismus. Man muss hinzufügen, dass er sich nicht besonders eindringlich mit ihm beschäftigt hat. Aber von diesem Umstand sollten wir uns nicht täuschen lassen: Er hätte den Sozialismus auch dann verachtet, wenn er seine Theorien in- und auswendig gekannt hätte.
Sicher, irgendwie steht Nietzsche vor dem gleichen Problem wie die von ihm verhassten Sozialistinnen und Sozialisten: Auch er strebt nach gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen der Mensch sein volles Potenzial ausschöpfen kann. Aber wer tut das nicht? Entscheidend ist, wie das gelingen soll. Und da liegt der Unterschied auf der Hand: Während der Sozialismus darauf zielt, die Klassengesellschaft zu überwinden, bietet Nietzsche zufolge nur die Herrschaft über andere einen gangbaren Weg zur Selbstentfaltung. Daher setzt Nietzsche seine Zukunftshoffnung in die Herrschenden – im Idealfall eine eingesessene Aristokratie, die vom verderblichen Einfluss des Pöbels gänzlich unberührt ist. Der Sozialismus dagegen baut auf die Emanzipation der Unterdrückten, auf dass die freie Entfaltung kein Privileg der Wenigen sei.
Nietzsche bewirbt sich also nicht gerade auf einen Ehrenplatz in linken Bibliotheken. Aber haben wir nicht schon genügend tote Genossinnen und Genossen in unseren Bücherregalen? Ab und zu kann man auch von Gegnern etwas lernen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums etwa haben in den letzten Jahrzehnten einige vergleichsweise clevere Rechte die Schriften des Marxisten Antonio Gramsci für sich entdeckt. Werfen ihnen ihre Kameraden vor, sie würden linkem Gedankengut auf den Leim gehen? Das kann schon sein. Aber damit hätten sie unrecht.
Selbstverständlich ist eine Theorie immer auch mit Ideologie versetzt – zumal, wenn sie von Politik und gesellschaftlichem Wandel handelt. Wäre außer Ideologie nichts an ihr dran, könnte man sie aber höchstens als »Theorie« in Anführungszeichen gelten lassen. Ordentliche Theorien hingegen enthalten zwischendrin auch Einsichten über bestimmte Sachverhalte: Auch Rechte erfahren bei Gramsci etwas über kulturelle Hegemonie. Und so können auch Linke von Nietzsche etwas über den Zugang zu Macht lernen.
Nietzsche ist ein Bildner von Archetypen. Er verdichtet das komplexe kulturelle und historische Material so lange, bis handliche Figuren dabei herauskommen, mit denen er monumentale Konflikte ausagieren kann. In seiner Genealogie der Moral heißen diese Archetypen »Herrenmoral« und »Sklavenmoral«. Im Kern handelt es sich dabei um zwei entgegengesetzte Verhaltensweisen zur Macht: einerseits einen starken Willen, sich Macht anzueignen und sie anzuwenden, andererseits eine Strategie, diesen Willen zur Macht zu untergraben.
Bei Nietzsche sind diese Verhaltensweisen mit Klassenstandpunkten vermengt. Die Herrschenden haben Macht und idealisieren ihren Einsatz. Die Versklavten hingegen haben keine und greifen daher zu einem Trick, mit dem sie ihren Unterdrückern deren eigene Herrschaft madig machen wollen: Sie stellen Besitz und Gebrauch von Macht als verwerflich dar und erheben stattdessen ihre eigene Machtlosigkeit zum Ideal.
Die historisch erfolgreichste Anwendung dieses Tricks ist für Nietzsche das Christentum, dessen Heilsbotschaft er wie folgt paraphrasiert: »die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein giebt es Seligkeit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!«
»Auch die herrschenden Klassen bedienen sich der ›Sklavenmoral‹, wenn sie eine andere gesellschaftliche Kraft in der Ausübung ihrer Macht hemmen wollen.«
Nietzsche gesteht zwar, dass er diese wertebasierte Kriegsführung um einiges gewitzter und interessanter findet als das stumpfe Draufschlagen der weltlich Mächtigen – die Geschichte der Menschheit wäre »eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist«. Schwerer wiegen für ihn aber die Verheerungen, die der Siegeszug der »Sklavenmoral« am Menschen angerichtet habe: Mit dem Machtwillen sei auch das Streben gelähmt worden, immer höhere Gipfel der menschlichen Entwicklung zu erklimmen; das Ergebnis sei eine Kultur der Mittelmäßigkeit.
Daher bleibt Nietzsche bei allen anerkennenden Worten, die er für die »Sklavenmoral« übrig hat, letztlich doch Antichrist und Antisozialist. Auch den Sozialismus betrachtet er nämlich als eine Form der »Sklavenmoral«, wenn auch nur als einen billigen Abklatsch.
Nietzsche war zwar ein Zeitgenosse von Karl Marx und Friedrich Engels. Direkt auf sie bezogen hat er sich aber nicht. Wenn er sich den Sozialismus vorknöpft, dann »den Sozialismus« im Allgemeinen. Dieser sei feindselig gegenüber dem Großen und Besonderen im Menschen und wolle alle gleich klein machen. Mit seiner These, dass der Gerechtigkeitsgedanke auf Ressentiment basiere, ist Nietzsche zum Stichwortgeber für die bürgerliche Presse und abendliche Polit-Talkshows geworden, die Umverteilungsforderungen immer wieder als »Neiddebatte« diffamieren.
Wer nur die berühmte Eröffnungspassage des Kommunistischen Manifests kennt, in der das »Gespenst des Kommunismus« die »Mächte des alten Europa« das Gruseln lehrt, könnte in der Tat meinen, der Marxismus funktioniere wie die Geister in Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte: Er würde die kaltherzigen Kapitalisten heimsuchen, die nicht einmal zu Weihnachten einen Groschen für die Armen übrig haben, und ihnen die schaurigen Folgen ihres Handelns vor Augen führen, sodass ihre Herzen erweichen und sie ihren Reichtum teilen. Die Pointe der Einleitung des Manifests ist aber ganz im Gegenteil, dass das Gespenstische nicht die richtige Form für die kommunistische Bewegung sei. An seine Stelle müsse eine Organisation treten, die den Herrschenden ihre Herrschaft nicht verleidet, sondern sie aufhebt.
Marx und Engels sprechen zwar auch von einem Sozialismus, der Schmählieder auf die Kapitalisten singt und ihnen unheilvolle Prophezeiungen ins Ohr raunt, »mitunter die Bourgeoisie ins Herz treffend durch bitteres, geistreich zerreißendes Urteil«. Damit beschreiben sie aber nicht ihren eigenen, sondern den »feudalistischen« beziehungsweise »christlichen Sozialismus«. Und für deren Vertreter haben sie nichts als bitteren Spott übrig: »Den proletarischen Bettelsack schwenkten sie als Fahne in der Hand, um das Volk hinter sich her zu versammeln. So oft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihrem Hintern die alten feudalen Wappen und verlief sich mit lautem und unehrerbietigem Gelächter.«
Zumindest für den marxistischen Sozialismus scheint die »Sklavenmoral« also nicht das Mittel der Wahl zu sein. Mit einer Wendung, die genauso gut von Nietzsche stammen könnte, bezeichnen Marx und Engels den Moralismus an anderer Stelle abschätzig als »Machtlosigkeit in Aktion«.
Die kleine Polemik auf den schlecht geschauspielerten Sozialismus der Aristokratie korrigiert Nietzsches Auffassung aber noch in einer anderen Hinsicht: Sie macht deutlich, dass es sich bei der »Sklavenmoral« um ein frei verfügbares rhetorisches Mittel handelt – nicht um den natürlichen Ausdruck eines Klassenstandpunkts, wie es das Etikett unterstellt. Auch die herrschenden Klassen bedienen sich dieser Strategie, wenn sie eine andere gesellschaftliche Kraft in der Ausübung ihrer Macht hemmen wollen. In dem im Manifest beschriebenen Fall hatten die Fürsten und Priester natürlich nicht im Sinn, die Arbeiterklasse zu einer selbständigen Macht aufzubauen. Sie fürchteten nur, dass das aufstrebende Bürgertum ihnen mit dem gesellschaftlichen Reichtum davonlaufen würde, und wollten ihm ein bedürftiges Proletariat ans Bein ketten.
Marx hatte ein Faible für diese Sorte Cringe, bei der sich Angehörige der herrschenden Klassen im für sie ungewohnten Gestus sozialer Anklage versteigen. So führt er im Kapital nebenbei vor, dass sich auch das Bürgertum keineswegs zu fein ist für die »Sklavenmoral« (wobei er diesen Begriff natürlich selbst nicht verwendet).
Dort gibt er wieder, wie sich der von ihm lakonisch als »Fabrikphilosoph« apostrophierte Chemieprofessor Andrew Ure über die britischen Factory Acts von 1833 beschwerte – eine Reihe von Gesetzesinitiativen, die der Ausbeutung der Arbeitenden in der Industrie Grenzen setzen sollten. Ure wollte der Arbeiterbewegung unterjubeln, sie sei moralisch auf Abwege geraten. Auf einmal würde sie sich nämlich für eine Form der Sklaverei einsetzen: »die Sklaverei der Fabrikakte«, die den armen Fabrikanten die Freiheit und das Bürgerrecht nahm, die bei ihnen beschäftigten Männer, Frauen und Kinder bis zu fünfzehn Stunden am Tag in der Baumwollverarbeitung aufzureiben.
Man braucht aber keine zweihundert Jahre zurückzublicken, um solche Obskuritäten zu finden. 2019 dachte die linke US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez in einem Interview laut darüber nach, dass man bei extrem hohen Einkommen jeden Dollar oberhalb einer Marke von 10 Millionen im Jahr zu 70 Prozent besteuert könnte – da fuhr offenbar der aus dem Grab geschreckte Geist des alten »Fabrikphilosophen« in den Körper des einflussreichen Republikanischen Lobbyisten Grover Norquist. Dieser sinnierte daraufhin auf Twitter: »Sklaverei ist, wenn dein Besitzer 100 Prozent deiner Produktion wegnimmt. … Was ist das Wort für die Enteignung von 70 Prozent?«
»Eine Linke, die ihren schmerzlichen Mangel an Macht – im Staat zum Beispiel – in freiwilligen Verzicht umdeutet, beraubt sich nur selbst des Willens und der Mittel, etwas an ihrer Lage zu verändern.«
Diese Fälle drängen sich wegen ihrer Wortwahl geradezu auf, um als Indizien für eine »Sklavenmoral« der Herrschenden zu dienen. Das Phänomen ist aber viel größer und verbreiteter als diese besonders durchsichtigen Beispiele. Es findet sich immer dann, wenn jene Herrscher über globale Unternehmensimperien, die es nach Aussage ihrer Werbeabteilungen persönlich in der Hand haben, unsere Lebenswelt um eine neue, digitale Dimension zu erweitern oder die Menschheit zu einer interplanetaren Spezies zu machen, plötzlich zu kleinen, hilflosen Wesen mutieren, denen man bloß kein Haar krümmen darf, sobald jemand vorschlägt, die Steuern für Unternehmen und Reiche anzuheben.
Solange Linke nur darüber reden, Vermögen umverteilen zu wollen, werden sie als Verlierer dargestellt, die den Erfolgreichen ihren Saus und Braus missgönnen. Sobald sie aber selbst politische Erfolge verbuchen können und auch nur ansatzweise die Macht erlangen, ihren Willen in die Tat umzusetzen, schlägt der Diskurs um: Dann sind sie auf einmal herrschsüchtige Despoten, die ihre unverdiente Macht missbrauchen, um den armen Unternehmern das Leben noch schwerer zu machen, als sie es ohnehin schon haben. Das eine Mal wird der Linken »Sklavenmoral« unterstellt, das andere mal selbst zu diesem Mittel gegriffen, um sozialistische Politik zu delegitimieren.
Sozialistinnen und Sozialisten sollten daher cool bleiben, wenn ihnen in der Welt, bei Markus Lanz oder auf Twitter diese oder jene Tendenzen nachgesagt werden. Und wir dürfen uns nicht einreden, irgendetwas Nennenswertes verändern zu können, ohne uns die Hände mit Macht schmutzig zu machen. Eine Linke, die ihren schmerzlichen Mangel an Macht – im Staat zum Beispiel – in freiwilligen Verzicht umdeutet, beraubt sich nur selbst des Willens und der Mittel, etwas an ihrer Lage zu verändern.
Nietzsche hat Recht: Es ist Unsinn, den Mächtigen die Ausübung ihrer Macht vorzuwerfen. Eine Kapitalistin, die die Möglichkeit hat, Zehntausende Arbeitskräfte auszubeuten und Regierungen mit der Androhung von Kapitalflucht zum Spuren zu bringen, wird diese auch nutzen – das ist ganz selbstverständlich. Erklärungsbedürftig wäre es im Gegenteil, wenn sie freiwillig auf den Gebrauch dieser Macht verzichtete.
Die Machtausübung von Kapitalisten zu delegitimieren, kann ein Moment linker Strategie bilden. Es kann aber nicht das Ziel sein, ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen. Dass heute selbst die schmutzigsten Ölkonzerne mit pathetischen Erklärungen ihrer Nachhaltigkeitsziele aufwarten können und sich die globale Wirtschaftselite alljährlich im Schweizer Luftkurort Davos zum kollektiven mea culpa versammelt, beweist hinreichend, dass der Kapitalismus auch mit schlechtem Gewissen hervorragend weiter funktioniert. Die Lösung kann nur sein, den Herrschenden ihre Macht streitig zu machen.
Die Stärke der Gegenseite ist immer nur ein Abbild der eigenen Schwäche. Es nützt nichts, sich seine Widersacher schwächer zu wünschen, als sie sind. Der einzige Ausweg besteht im Aufbau eigener Macht.
Thomas Zimmermann ist Print Editor bei JACOBIN.