27. Februar 2023
Heute vor dreißig Jahren starb einer der wichtigsten ostdeutschen Historiker: Manfred Kossok. Sein Werk bietet noch immer eine einzigartige Perspektive auf die Geschichte der Revolution.
Auf Kossoks Monumentalwerk prangt Jean-Baptiste Regnaults allegorische Darstellung des revolutionären Aufrufs »Freiheit oder Tod«.
Public DomainIn Tyrannos – Revolutionen der Weltgeschichte ist ein herausragendes Werk des marxistischen Historikers Manfred Kossok und ein wichtiger Beitrag zur Geschichtswissenschaft. 1989 in Leipzig erschienen, interpretiert das Buch die Zeit vom 15. bis zum späten 19. Jahrhundert als Epoche einer permanenten Revolution – von den Hussiten bis zur Pariser Kommune, von der »Morgenröte des Kapitalismus« über die Glorreiche Revolution bis hin zur Universalisierung und Globalisierung des bürgerlichen Fortschritts, getragen durch die politisch-soziale Revolution in Frankreich und die industrielle in England.
Der Autor war einer der angesehensten Historiker der DDR. Auch im Ausland genoss Kossok einen exzellenten Ruf; er hatte Gastprofessuren in Lateinamerika, Frankreich und den USA inne. Sein wichtigstes Anliegen war die Beschreibung von revolutionären Zyklen. Es ging ihm darum, das »im Verlauf der Geschichte wechselnde quantitative und qualitative Verhältnis von Revolution und Reform« herauszuarbeiten. Der »Revolutionszyklus« ist für Kossok ein »universalhistorischer Gesamtzyklus«, der die Dialektik von Revolution und Reform widerspiegelt. Selbst Konservative konnten sich durch ihn gezwungen sehen, zu »Testamentvollstreckern der Revolution« zu werden. »So hat die List der Geschichte auch die Revolutionen nicht verschont«, schließt Kossok das einführende Kapitel seines Monumentalwerkes.
War es auch keine List der Geschichte, so könnte man es aber als Ironie der Geschichte betrachten, dass zeitgleich mit dem Erscheinen der Revolutionen der Weltgeschichte im Jahr 1989 die Revolution begann, die den Staatssozialismus in ganz Osteuropa zu Fall brachte. Als SED-Mitglied, Leiter des Instituts für allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Karl-Marx-Universität Leipzig und Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR war Kossok ohne jeden Zweifel Teil der »sozialistischen Intelligenz«, deren Aufgabe eigentlich darin bestand, die damaligen Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren.
Die dabei bis zur »Selbstaufgabe geübte Disziplin« war auch Kossok nicht fremd. Noch im Epilog der Revolutionen der Weltgeschichte etwa beteuert er, dass mit der russischen Oktoberrevolution »der endgültige Durchbruch der proletarischen Revolution und damit die Grundlegung einer neuen Epoche der Weltgeschichte« erfolgte. Wer Kossok allerdings aufgrund solcher Aussagen für einen marxistisch-leninistischen Ideologen hält, der im Sinne der Staatsdoktrin dogmatisch auf einem mechanischen Geschichtsverständnis und starren historischen Gesetzmäßigkeiten besteht, liegt grundfalsch.
Die Revolutionen der Weltgeschichte waren Kossoks Lebensthema. 1930 in Breslau geboren, überlebte er »die Hölle des Umsiedlungslagers von Lamsdorf/Lambinowice mit 2000 Gefährten von ursprünglich 8000«. Nachdem er das Abitur nachgeholt hatte, studierte er in Leipzig bei so wichtigen Gelehrten wie Ernst Bloch, Hans Mayer und vor allem Walter Markov. Während die beiden erstgenannten sich in den Westen absetzten, ging Markov, genau wie sein »Meisterschüler« Kossok, einen anderen Weg. Zwar wurde Markov, wegen »titoistischer Tendenzen« aus der SED ausgeschlossen, konnte aber seine Arbeit an der Universität fortsetzen. Gemeinsam initiierten Markov und Kossok – der bereits 1963 zum Professor berufen wurde – den Arbeitskreis vergleichende Revolutionsgeschichte, der die Leipziger Schule der Revolutionsforschung begründete. Die Revolution ist bei Kossok nie auf die kurze Zeitspanne beschränkt, in der sich entscheidet, wer die Macht im Staat für sich reklamieren kann. Wichtiger war ihm der »Begriff der Revolution im weiteren Sinne«, der »den ungleich länger andauernden Gesamtprozess der Durchsetzung und Konsolidierung der neuen Gesellschaftsordnung« beschreibt. Hier konnte Kossok direkt an Marx anschließen, bei dem es bereits im berühmten »Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie« heißt, dass mit einer »Epoche sozialer Revolution« nicht nur die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft, sondern »der ganze Überbau« umgewälzt wird – und zwar, abhängig von den jeweiligen Umständen, »langsamer oder rascher«. Für Kossok war klar: »Revolution – das heißt eine besondere Qualität, eine besondere Form, ein besonderes Moment historischer Entwicklung. Als Zäsur, Weichenstellung, Knoten- und Wendepunkt der Geschichte«. Nichts lag Kossok ferner als ein deterministisches Revolutionsverständnis. »Revolution, das heißt Sein und Handeln an den Schnittpunkten der Weltgeschichte«.
Ein besonderes Augenmerk legte Kossok in seiner Analyse auf die »heroischen Illusionen«, die zu jeder revolutionären Epoche gehören. Dieser »utopische Überschuss«, der »visionäre Anspruch«, die »Träume der Zukunft«, die der revolutionären Epoche zu eigen sind, sind alles, nur keine Phantasterei. Sie bilden ein konstitutives Element für das notwendige Bündnis aus »Hegemon« und »Triebkräften«, das jeder Revolution zugrunde liegt. »Jede große historische Umwälzung ist von einem ganzen Komplex heroischer Illusionen geprägt. Es sind dies keine chimärischen Vorstellungen, sondern Leitideen, die gleichsam in die Zukunft weisen und damit ungeahnte Energien freilegen, denen ein brüchig gewordenes und seiner Legitimation verlustig gegangenes Regime in der Regel nicht zu widerstehen vermag«. Um diesen bedeutenden subjektiven Faktor der Revolution zu unterstreichen, bezog sich Kossok vor allem auf die Frühschriften von Marx.
Seine Vorstellung der Weltgeschichte entlehnte Kossok ebenfalls bei Marx. »Weltgeschichte existierte nicht immer; die Geschichte als Weltgeschichte Resultat« heißt es in einem schönen Marxschen Aphorismus in den Grundrissen. Gemeinsam mit Friedrich Engels hatte dieser bereits in der Deutschen Ideologie festgestellt, dass es die industrielle Revolution und der Weltmarkt waren, die die Weltgeschichte erst hervorbrachten, da sie jedes Individuum »in der Befriedigung seiner Bedürfnisse von der ganzen Welt abhängig machte und die bisherige naturwüchsige Ausschließbarkeit einzelner Nationen vernichtete«. Hierauf bezog sich Kossok, wenn er feststellte, dass »erst mit der Entfaltung des Kapitalismus in Europa« im Zusammenspiel mit »einer Welle von Revolutionen« die erste Gesellschaftsformation entstand, »deren Dynamik den ganzen Erdball umfasste«. Natürlich ging er hierbei von der Dominanz Europas aus, beziehungsweise der kapitalistischen Produktionsweise, die dort ihren Ursprung nahm.
Eine rein nationale Geschichtsschreibung lag Kossok dabei genauso fern wie eurozentristische Betrachtungen. Stets ging es ihm um die Verflechtung der europäischen Entwicklung mit den anderen Erdteilen. »Ungeachtet der Dominanz Europas beschränkte sich das historische Geschehen nicht auf eine Weltgeschichte Europas, in deren Optik sich die außereuropäische Welt auf eine Objektfunktion reduzierte«. Bereits in seiner Studienzeit in den 1950er Jahren forschte er zur Geschichte Lateinamerikas und dessen Unabhängigkeitsrevolutionen. Wenn später die Französische Revolution zum Dreh- und Angelpunkt seiner vergleichenden Revolutionsgeschichte wurde, dann nicht, weil sie reduktionistisch zum Modell erklärt wurde – es gibt keine Modelle für Revolutionen –, sondern aufgrund ihrer »zentralen Stellung im Gesamtzyklus der bürgerlichen Revolutionen«. Die Französische Revolution war eben nicht nur eine französische; als Leitrevolution der Epoche verkörperte sie eine welthistorische Wende. Aus globaler Perspektive ging es Kossok darum, die regionalen und nationalen Geschehnisse unterschiedlicher Form und Intensität universal fassbar zu machen. »Zum Wesen der Weltgeschichte gehört ihre Unteilbarkeit als Menschheitsgeschichte«.
Kossok konnte als Historiker vergleichsweise frei arbeiten und dabei von einem undogmatischen Revolutionsverständnis ausgehen. Dennoch gab es auch für den renommierten Historiker in der DDR klare Grenzen der ideologisch akzeptablen Forschung. Nicht zufällig drehte sich seine vergleichende Revolutionsgeschichte fast ausschließlich um den von ihm ausgemachten bürgerlichen Revolutionszyklus, der sich vom 15. bis ins späte 19. Jahrhundert entfaltete. Seine Forschung endete dort, wo sie politisch erst richtig spannend geworden wäre: bei der russischen Revolution von 1917. Diese Grenze konnte er mit seinem Forschungsprogramm unmöglich überschreiten, ohne entweder der blinden Systemapologie zu verfallen oder in Misskredit zu geraten.
Noch 1988 erklärte er die Oktoberrevolution zum »endgültigen Durchbruch der proletarischen Revolution«. Doch seine Methode der vergleichenden Revolutionsforschung wollte – oder durfte – er auf diese »neue Epoche der Weltgeschichte« nicht anwenden. Zumindest nicht bis 1989. Darüber nachgedacht haben muss er allerdings viel. Denn bereits im Februar 1990 hielt er in einem Artikel fest: »Es ist Zeit, die gesicherten Erkenntnisse der vergleichenden Revolutionsforschung auch auf die Geschichte des Sozialismus anzuwenden.«
Für jemanden, der sich Zeit seines Lebens wissenschaftlich mit Revolutionen beschäftigte, muss es wohl eine merkwürdige Erfahrung gewesen sein, sich plötzlich inmitten einer solchen wiederzufinden. Kossok scheint das Ende der DRR mit gemischten Gefühlen miterlebt zu haben: »Das Ergebnis von 1989 steht fest: Die Revolution hatte die richtigen Verlierer, aber auch die falschen Gewinner.« Für Kossok stand fest: »Nie vor der neuzeitlichen Geschichte sind eine Idee und eine Bewegung, die auf die Befreiung des Menschen ausgerichtet waren, bei dem Versuch der gesellschaftlichen Verwirklichung so nachhaltig, so tragisch und zugleich so jämmerlich unheroisch gescheitert.« Wichtig für die Analyse des »deformierten Sozialismus« waren ihm zunächst dessen gesellschaftliche Voraussetzungen, die er für die bürgerlichen Revolutionen ausgiebig als »Beziehung von Kontinuität und Bruch« beschrieben hatte. »Keine Revolution, auch nicht die radikalste, setzt eine Stunde Null in der Geschichte«. Die »Universalisierung von Geschichte« fand bekanntlich unter europäischer Hegemonie statt und bestehende Entwicklungsunterschiede institutionalisierten sich dabei zu »permanenter Unterentwicklung«. Der gemeinsame Nenner der erfolgreichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts war, dass keine von ihnen in den Zentren der kapitalistischen Produktionsweise stattgefunden hatte, vielmehr waren sie »peripheren Charakters«. Das Revolutionsjahr 1989 musste man deshalb von 1917 aus denken – das kurze 20. Jahrhundert war der »Aufstand der Peripherie gegen das Zentrum«.
Folgende Merkmale schreibt Kossok den peripheren Revolution zu: Erstens ihre geographisch-strukturelle Lage »im System der internationalen Arbeitsteilung«, also in der »Sub- oder Halbperipherie« des globalen Hegemonialsystems. Zweitens den Charakter von »Nachholrevolutionen«, die den »Anschluss an die westlich-europäische Entwicklung« versuchten. Zum dritten brachte keine von ihnen »eine Revolutionierung der Produktivkräfte« hervor. Unter staatlicher Verwaltung wurden diese lediglich quantitativ ausgebaut beziehungsweise überhaupt erst geschaffen, womit der Staatssozialismus als »Entwicklungsdiktatur« in Erscheinung trat, um eine verspätete »traditionelle Modernisierung« zu vollziehen. Viertens folgte hieraus, dass der gesamte Staatssozialismus ein »bemerkenswertes Demokratiedefizit« aufwies. Die außerökonomische Gewalt prägte das politische System und die gesellschaftlichen Beziehungen durch und durch.
Das »historische Kernproblem« sah Kossok in der Tatsache, »dass keines der sozialistischen Länder die Phase des Citoyen, das heißt der erfolgreichen bürgerlichen Revolution, mit einem zumindest zeitweilig und partiell realisierten Emanzipationsanspruch durchlaufen hat«. Anders ausgedrückt: »Es gehört zur Tragik des deformierten Sozialismus, dass er das in den Traditionen von 1789, 1793 und 1848 begründete universale und allgemeinmenschliche Wertesystem nicht aufnahm, um ihm eine neue historische Dimension im Sinne der Mehrheit zu geben. […] Diesen Anspruch, eine Demokratie zu verkörpern, die die bürgerliche Demokratie nicht beseitigte, sondern im Sinne Hegels aufhob und erweiterte, hat der Sozialismus bis heute nicht erfüllt«.
Dieses Spannungsverhältnis von Kontinuität und Bruch führte im Falle Russlands dazu, dass sich der »feudale russische Gospodin [Herr] in den diktatorisch geführten Genossen verwandelte«. Dies prägte auch die Staaten und Gesellschaften Mittel- und Osteuropas deutlich, denen der Staatssozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg oktroyiert wurde. Auch wenn die Oktoberrevolution zur Leitrevolution des 20. Jahrhunderts wurde, gelang es ihr nicht, »ins Zentrum des bürgerlichen Kosmos« vorzustoßen«. Sie erschütterte durchaus auch die Zentren und »revolutionierte die politische Weltkarte«. Trotzdem blieb die »sozialistische Revolution« ein »peripheres Phänomen«, im »Gegensatz zum Anspruch der Oktoberrevolution als Ausgangspunkt der Weltrevolution«. Dieser Anspruch entpuppt sich heute mehr und mehr als Tragödie, führte er doch dazu, dass die Wörter Sozialismus und Kommunismus noch immer »in der Substanz diskreditiert« sind. Dies erinnert an Rosa Luxemburg, die bereits 1917 ihre Kritik an den Bolschewiki darauf zuspitzte, dass diese aus ihrer Not eine Tugend machten, und ihre von den Bedingungen aufgezwungene Taktik zur allgemeingültigen Theorie erhoben.
Was Luxemburg bereits 1917 bemängelte, blieb, in den Worten Kossoks, »situationsbestimmend«. Die »Gewalt wurde nicht nur der ›Geburtshelfer‹ (Marx) der neuen Gesellschaft, sie blieb ihre entscheidende Stütze«. Trotz aller wirtschaftlichen Erfolge und beeindruckenden Wachstumsraten blieb der Staatssozialismus unfähig, dass »allgemein-menschliche Demokratie- und Wertesystem« aufzunehmen, geschweige denn ihm »eine neue historisch-soziale Dimension im Interesse der Mehrheit zu geben« – entgegen seines postulierten Anspruchs. Einmal mehr deutlich wurde dies in der Revolution von 1968 – der weltweiten Forderung nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Gelang es der kapitalistischen Produktionsweise, diese Forderungen zu integrieren und sogar produktiv zu verwerten, reagierten die Machthaber des Staatssozialismus hingegen einmal mehr mit bloßer Repression.
»Auf jeden Fall bewies der ›parasitäre Kapitalismus‹ eine für den dogmatischen Marxismus unbegreifbare Reaktionsfähigkeit«. Für Kossok war es kein Zufall, dass es dem Staatssozialismus nicht gelang, »die wissenschaftlich-technische Revolution der siebziger und achtziger Jahre zu meistern«. Spätestens damit aber schlitterte der »deformierte Sozialismus« in die offene Krise. »Die für das bisherige Systemverständnis verwendeten Begriffe ›Kommandosozialismus‹ oder ›Stalinismus‹ beschreiben die Symptome, ohne die tieferen Ursachen des Scheiterns vor der Geschichte freizulegen«. Was 1917 als »eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte« beginnen sollte, kam bereits wenige Jahrzehnte später an sein Ende.
Mit dem Ende der DDR wurde auch das Ende der vergleichenden Revolutionsforschung in Leipzig eingeleitet. Kossoks Institut wurde »abgewickelt«. Daran änderten auch die zahlreichen Protestbriefe aus dem In- und Ausland nichts. Lediglich seine Vorlesungen durfte er als Resultat der Protesten weiter halten, was von den Studierenden mehr denn je honoriert wurde. »Nicht die Anerkennung der Tatsache, dass das historische Schicksal der DDR besiegelt war […] sondern die Art und die Folgen des Anschlusses machen das Problem aus«, kritisierte Kossok den Umgang mit dem Vermächtnis des deutschen Staatssozialismus. Dass Kossok einem kritisch-emanzipatorischem Marxverständnis verpflichtet gewesen war, nützte ihm in der Abwicklungsorgie der Wendejahre ebenso wenig, wie eine positive Evaluation seiner Arbeit durch den Wissenschaftsrat.
So bitter die Abrechnungen und Ausgrenzungen im Wissenschaftsbetrieb nach 1989 für ihn persönlich auch gewesen sein müssen, so sehr gewinnen seine Schriften und Arbeiten nach dem Ende der DDR noch einmal an Qualität. Das marxistisch-leninistische Dogmensystem hatte er zwar durch seine kreative Methode durchaus von innen ausgehöhlt und sich immer wieder bis an seine Grenzen vorgetastet, aber bis 1989 letztlich doch nie verlassen.
Nach der Wende schrieb er entschieden freier. Dies betrifft vor allem die bereits zitierten Überlegungen zu peripheren Revolutionen ebenso wie seine Veröffentlichungen 1992, zum 500. Jahrestag des »Entdeckungsjahres« Amerikas. Dabei stellte er die Frage nach der Parallelität und Verknüpfung historischer Entwicklungen in den Vordergrund und weigerte sich, das Jahr 1492 bloß als »Columbusjahr« anzusehen. Auch seine selbstkritischen Gedanken über die eigene Rolle im DDR-Staat – das »Gehäuse der selbstverschuldeten Unmündigkeit« – sowie überhaupt seine kritischen Gedanken zu den Entwicklungen im wiedervereinigten Deutschland verdienen eine erneute Rezeption.
Es ist beachtlich, was Kossok in der kurzen Zeit, die ihm nach der Wende noch verblieb, zustande brachte. Als die DDR als Staat ihr Ende fand, war Kossok bereits schwer erkrankt. Er verstarb mit nur 62 Jahren im Februar 1993. Während man die meisten von Kossoks Schriften heute nur noch in Bibliotheken und Antiquariaten findet – dies gilt leider selbst für die im Jahr 2000 vom Leipziger Universitätsverlag aufgelegten Ausgewählten Schriften in drei Bänden – liegt seit 2016 ein kleines Büchlein mit dem Titel Sozialismus an der Peripherie vor, in dem seine späten Schriften zusammengestellt und hervorragend kontextualisiert wurden.
Politisch ist es Kossok hoch anzurechnen, dass er sich vom Zeitgeist der frühen 1990er Jahre nicht aus der Fassung bringen ließ. Für diesen hatte er nur Spott übrig: »Ende des Sozialismus, Ende des Marxismus, Ende der Utopie, Ende der Revolution« und, nicht zu vergessen, »das Ende aller Enden – das Ende der Geschichte«. Entgegen diesem Unfug war ihm klar, dass das Ende des Ost-West-Konfliktes »die existenziellen Probleme der Menschheit nicht nur nicht gelöst« habe, sondern »erst in ihrer vollen Schärfe hervortreten« lasse.
Kossok verstand, dass die damals erst anrollende neue Welle der Globalisierung die vorhandenen Probleme der Menschheit verschlimmern würde: die sozialen Zerwürfnisse – gerade in globaler Perspektive betrachtet – wie auch, ganz besonders, die ökologischen Verwüstungen. Zu denken gab ihm der Club of Rome, der bereits 1972 auf die Grenzen des Wachstums verwiesen hatte und zwanzig Jahre später unter den Titel The First Global Revolution nachlegte. »Während also die Revolution aus tradiertem alternativem Denken verschwindet, ist es der Club of Rome, der seine Weltanalyse von 1992 unter das Thema Global Revolution stellt und damit den Weg skizziert, der für eine Bewältigung der allgemeinen Zivilisationskrise eingeschlagen werden muss.«
Folgende Zeilen aus einer seiner letzten Schriften lesen sich geradezu wie ein Vermächtnis und sollten uns heute nur allzu bekannt vorkommen: »Der sich global abzeichnende Zwang der Umstände zeigt an, dass die Menschheit ohne Umkehr keine Überlebenschance mehr hat. Unsere bisherigen Vorstellungen von Fortschritt und Wohlstand haben ausgedient«. Dass Kossok den sich global abzeichnenden ökologischen Zwängen nicht durch moralische Predigten von Verzicht beikommen wollte, sollte sich von selbst verstehen.
Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind von so gewaltigem Ausmaß, dass sie sich durch individuelle Verhaltensänderungen oder zaghafte, graduelle Reformen nicht lösen lassen werden. Doch auch die Revolutionen sollte man sich Kossok zufolge nicht als Staatsstreich, mit dem plötzlich alle Widersprüche einfach verschwinden, vorstellen, sondern als revolutionäre Epochen. »So bilden Revolutionen ein immenses soziales Laboratorium: Alte Gesellschaftssysteme versinken, ihre tragenden Klassen teilen dasselbe Schicksal oder durchlaufen eine radikale Metamorphose«. Bescheidenheit ist hier fehl am Platz. Es braucht revolutionäre Träume, Ideen und Visionen von einer anderen Zukunft. »Nur der utopische Überschuss, der visionäre Anspruch, ein Stück Zukunft in die Gegenwart zu holen, gebiert überhaupt historische Bewegung«.
Im Epilog der Revolutionen der Weltgeschichte schreibt Kossok hierzu: »Sich der Revolution zuzuwenden bedeutet, am Zeitgeschehen weder vorbeigehen noch vorbeidenken zu können. […] Revolutionsgeschichte entspricht dem eigentlichen Anliegen historischen Denkens: Mit der Frage nach dem Woher und Wofür auch die des Wohin zu beantworten, Geschichte in Gegenwart zu sehen, Gegenwart als Geschichte nach- und vorzudenken«. Sein Werk kann uns heute bei der Wiederentdeckung dieses Bewusstseins helfen.
Anmerkung zum Text: Fast alle Kossok-Zitate aus der Zeit vor 1990 stammen aus »Revolutionen der Weltgeschichte«. Alle Zitate aus dem Zeitraum 1990-1993 stammen aus »Sozialismus an der Peripherie«.
Christian Hofmann veröffentlichte 2022 gemeinsam mit Philip Broisted die Edition »Linke Klassiker« zum Thema »PLANWIRTSCHAFT: Staatssozialismus, Arbeitszeitrechnung, Ökologie« sowie 2020 »Goodbye Kapital« im PapyRossa-Verlag.