01. Juni 2023
Der politische Kurs, für den Hans Peter Doskozil steht, hat die SPÖ in die Krise manövriert. Warum Andi Babler der Partei wieder eine Aufgabe geben könnte.
Andi Babler will der SPÖ ihren Anstand zurückgeben.
Foto: © Andreas Babler»Es geht um unsere Würde« – mit diesen Worten hat Andi Babler am 23. März via Twitter seine Kandidatur für Parteivorsitz der SPÖ bekanntgegeben. So simpel diese Botschaft auch sein mag, sie hat für große Euphorie gesorgt.
Während Andi Babler – bislang Bürgermeister von Traiskirchen, einer mittelgroßen Stadt mit knapp 19.000 Einwohnerinnen und Einwohnern in Niederösterreich – vom politmedialen Komplex in Österreich jede Chance auf einen Sieg abgesprochen wurde, hat er mit nur rund 2 Prozent Abstand den zweiten Platz hinter Hans Peter Doskozil belegt und zog an der Parteichefin Pamela Rendi-Wagner vorbei. Nun kommt es zur Kampfabstimmung zwischen Babler und dem Vertreter des pragmatischen Flügels, der sich auch für rechtspopulistische Anbiederungen nicht zu schade ist.
Kommen wir zurück zu den Worten von Andi Babler: »Wir sind da für die Leute, die Angst vor der nächsten Strom- und Mieterhöhung haben. Für die Leute, die von allen anderen Parteien gesagt bekommen, dass sie weniger wert sind. Die Sozialdemokratie ist dazu da, genau diesen Leuten Würde und Respekt zu geben. Dafür brauchen wir selbst Würde und Respekt – und den will ich uns allen wieder geben.« Babler bekräftigt immer wieder, dass sich niemand als Bittsteller fühlen sollen muss, sondern dass jeder und jedem ein menschenwürdiges Leben zusteht. Zum anderen betont er, dass auch die Partei selbst an Würde verloren hat.
Die Fehler der SPÖ wurden nicht erst von einer unsicheren Pamela Rendi-Wagner begangen, die erst durch ihren Amtsantritt als Ministerin unter Christian Kern in die Sozialdemokratische Partei eingetreten ist – und auch nicht erst von ihrem Vorgänger, dem CEO-Kanzler Christian Kern. Dieser hatte der SPÖ mal eben einen im Hinterzimmer erarbeiteten »Plan A« vorgesetzt, der de facto ein neues Programm darstellte, das in seinen Positionen teilweise diametral den Grundsätzen der Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie widersprach. Auch dessen Vorgänger – der Langzeitkanzler Werner Faymann, der den Spitznamen »Schweigekanzler« trägt – hatte die hermetische Abschottung der Parteigranden von ihren Mitgliedern, die die SPÖ bis heute auszeichnet, bereits perfektioniert. Der Raubbau an der Würde der Partei hat mit der Missachtung der Interessen der eigenen Leute schon Jahrzehnte zuvor begonnen. Bereits in der Ära von Franz Vranitzky, ab dem Jahr 1986, wurde das einst so stolze Profil der Partei schrittweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Das Problem der heutigen SPÖ besteht nicht nur darin, dass sie es nicht mehr schafft, ihre eigenen Forderungen »richtig zu kommunizieren«, auch wenn ihr das von den meisten Journalistinnen und Kommentatoren attestiert wird. Vielmehr werden der Partei ihre Forderungen nicht mehr geglaubt. Zudem wird den Parteigranden inzwischen selbst von den eigenen Leuten das ernsthafte Interesse an der Durchsetzung ihrer Forderungen abgesprochen. Denn die leiden nicht erst seit der Corona-Pandemie unter Jobs, die sie krank machen und in die Armut treiben. Und sie haben auch nicht erst seit den massiven Teuerungen der letzten zwölf Monate Angst davor, ihre Mieten oder Kreditraten nicht mehr bezahlen zu können.
»Wie glaubhaft sind die Rufe nach Vermögenssteuern, wenn diese in einer Regierung mit rotem Bundeskanzler abgeschafft wurden?«
Schon vor Corona war die soziale Ungleichheit in Österreich extrem, die Lohnentwicklung unter den Beschäftigten gespalten und eine soziale Absicherung bei Weitem nicht für alle in greifbarer Nähe. Rund ein Drittel aller Arbeitenden war schon vor Beginn der 2020er Jahre prekär beschäftigt, der Armutsgrenze erschreckend nahe und hatte den gefürchteten »sozialen Abstieg« in Wirklichkeit bereits hinter sich. Schließlich ist das Versprechen des Aufstiegs durch Leistung von eben jenen verhindert worden, die es am lautesten propagiert haben. Doch diese traurige Tatsache wird bis heute von den verantwortlichen Parteigranden, die die SPÖ repräsentieren, nicht anerkannt, was mitunter darin begründet ist, dass diese selbst maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass dieses Versprechen unerfüllt bleibt.
Denn der Verlust des breiten sozialen Wohlstands hat in Österreich mit der Abnahme von anständig bezahlten und solide abgesicherten Jobs begonnen, also mit einer fehlgeleiteten Entwicklung am Arbeitsmarkt, die unter der Regierungsmacht der SPÖ politisch geschaffen wurde. Wie soll ein SPÖ-Politiker heute glaubhaft kritisieren, dass sich die Zahl der Leiharbeiterinnen seit 2004 um 92 Prozent erhöht hat, wenn die Arbeitskräfteüberlassung in ihrer heutigen Form von SPÖ-Politiker Ferdinand Lacina 1989 selbst geregelt wurde? Wie soll eine SPÖ-Politikerin die Zunahme von Minijobs im gleichen Zeitraum um 62 Prozent anprangern, wenn sie diese 1998 selbst gesetzlich festgeschrieben hat? Wie glaubhaft sind Forderungen nach dem Verbot von Scheinselbstständigkeit, wenn diese im Jahr 1997 unter einer Gewerkschafterin als Arbeits- und Sozialministerin in dieser Breite erst ermöglicht wurde? Wie glaubhaft sind die Rufe nach Vermögenssteuern, wenn diese in einer Regierung mit rotem Bundeskanzler mit der Begründung abgeschafft wurden, dass sie ohnehin nichts einbringen würden? Wie sehr können Wählerinnen und Wähler darauf vertrauen, dass es der SPÖ mit der Wiedereinführung von Erbschaftssteuern ernst ist, wo es doch eine SPÖ-Regierung war, die dafür verantwortlich ist, dass seit 2008 kein einziger Cent an Steuern für Schenkungen oder Erbschaften mehr abgegeben werden musste?
Es sind die gleichen Personen, die sich dem »dritten Weg« in der Sozialdemokratie nach dem Vorbild von Blair und Schröder verschrieben haben, die noch heute die SPÖ kontrollieren. Die Führung des Parteiapparats unterliegt immer noch Funktionärinnen und Funktionären, die sich nicht nur nicht vom Neoliberalismus, sondern erst recht nicht von ihrer eigenen Machtposition trennen wollen. Der Kadavergehorsam, das Mauern, das Ausgrenzen der Mitglieder, der Unwille zur Öffnung der Partei und die Ablehnung der Mitbestimmung durch die Mitglieder geht damit natürlich einher. Wer in der Partei mitbestimmen will, hat vorher etwas zu sein; wer keine Funktion besetzt, darf nicht mitbestimmen. Wem das Recht zur Mitbestimmung genommen wird, dem wird auch die Würde genommen. Dieses System, das Cliquen, Apparatschiks und Karrierismus fern von Ideologie und Zielen erzeugt, ist einer sozialdemokratischen Partei unwürdig.
Mit diesen Personen und der Parteistruktur, die von ihnen geschaffen wurde, kann die SPÖ ihre Glaubwürdigkeit nicht wieder herstellen. Doch nach den gleichen Prinzipien agiert nun Hans Peter Doskozil, der seine laufenden Angriffe auf Rendi-Wagner einst damit begründete, dass er die Partei durch einen Mitgliederentscheid demokratisieren wolle und nun selbst verhindert hat, dass es zu einer Stichwahl zwischen ihm und Babler kommt. Schließlich wusste auch er, dass er bei einer Abstimmung unter den Mitgliedern nur hätte verlieren können. Nicht nur weil die Basis der Partei viel linker ist als ihre Kader, sondern auch weil er sich durch seine Positionen den Ärger von Gewerkschaft, Frauen- und Jugendorganisationen der Partei zugezogen hat. Er verspricht sich unter den SPÖ-Funktionärinnen und -Funktionären bessere Chancen und hat damit vermutlich Recht. So besteht die kleine Gruppe der Unterstützer, die er um sich schart, aus ein paar Dutzend männlicher Funktionsträger aus der zweiten Reihe einiger Bundesländer.
»Babler gibt einer verkrusteten Partei, die für nichts mehr steht, wieder eine würdevolle Aufgabe zurück.«
Die Partei zeichnet sich in ihrer eigenen Struktur dadurch aus, dass sie Menschen sagt, wie sie zu sein haben, damit sie »aufsteigen« können. Damit wird nicht nur den Einzelnen die Verantwortung für ihre fremd verschuldete schlechte Lage zugeschrieben, sondern auch die Würde abgesprochen, weil sie sich in dieser Lage befinden. Das macht die Kampfabstimmung um den Vorsitz auf dem kommenden Parteitag umso brisanter. Andi Babler, der selbst keine Funktion besitzt, die es ihm bisher erlaubt hätte, für den Parteivorsitz zu kandidieren, steht dazu, Marxist zu sein, und traut sich, offensichtliche Ungerechtigkeiten anzusprechen, anstatt sich aus taktischen Gründen zurückzuhalten. Er macht aus einer Gruppe von Vereinzelten eine gemeinsame Klasse und gibt einer verkrusteten Partei, die für nichts mehr steht, wieder eine würdevolle Aufgabe zurück.
Veronika Bohrn Mena war zehn Jahre lang in der Gewerkschaft für prekäre Beschäftigung zuständig, ist Sachbuchautorin und hat 2021 die gemeinnützige Bundesstiftung COMÚN gegründet.