12. August 2021
Vor über hundert Jahren entwarf der Agrarökonom Alexander Tschajanow eine »bäuerliche Utopie«. Seine Vision: Agrarsozialismus.
Führende Narodniki wie Pjotr Lawrow (links) erarbeiteten Ideen für eine »sanftere« Industrialisierung.
Alexander Tschajanow (1888–1937) war ein russischer Agrarökonom, Sozialanthropologe, Historiker, Wegbereiter der »Peasant Studies« und hinterließ neben seinem wissenschaftlichen Werk auch Erzählungen, Kurzromane, Theaterstücke und Gedichte. Einer dieser Romane trägt den Titel Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920) und erzählt die Geschichte von Alexej Kremnew, der sechszig Jahre in die Zukunft reist und ins Jahr 1984 versetzt wird – wo er sich in der »Sowjetischen Bauernrepublik« wiederfindet. Dort wird er zunächst für einen Besucher aus dem Ausland gehalten und macht sich erstaunt mit den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen im »Land der bäuerlichen Utopie«, das auf dem Territorium Sowjetrusslands entstanden ist, vertraut.
Tschajanows Werdegang ist typisch für linke, unabhängige Intellektuelle im revolutionären Russland jener Zeit: Tschajanow, der sich bereits vor der Revolution einen Namen als Agrarwissenschaftler gemacht hatte, beteiligte sich als einer der führenden Köpfe der Genossenschaftsbewegung aktiv am revolutionären Prozess. In der 1920er Jahren war er wie viele andere parteilose »Spezialisten« im sowjetischen Staatsapparat tätig. Tschajanow arbeitete im Volkskommissariat für Landwirtschaft und im Gosplan, dem zentralen wirtschaftlichen Planungsgremium der Sowjetunion.
In diesen Jahren fiel er mit seiner Kritik an repressiven staatlichen Maßnahmen gegenüber der Bauernschaft auf. In Folge wurde er 1930 verhaftet, da ihm vorgeworfen wurde, eine terroristische Vereinigung bilden zu wollen – nämlich die »Werktätigen Bauernpartei«, eine Untergrundorganisation, die von den Organen der Staatssicherheit frei erdacht wurde.
Die Erfindung von diversen »Parteien« und geheimen Organisationen war in den 1930ern ein beliebtes Mittel des Innenministeriums, um Oppositionelle oder einfach nur nicht-konforme Intellektuelle, die in der Realität nichts miteinander zu tun hatten, in einem gemeinsamen Prozess verurteilen zu können – so geschehen etwa beim Schachty-Prozess oder den Schauprozessen gegen die »Industriepartei« und den »Block der Rechten und Trotzkisten«. Nach mehreren Jahren in Gefängnissen und Verbannung wurde Tschajanow 1937 zum Tode verurteilt und erschossen. Erst 1987 wurde er rehabilitiert.
Auch wenn Tschajanow nie Mitglied einer politischen Partei war, steht sein Denken in der Tradition des russischen Sozialismus, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte und meist mit den »Narodniki« – im Deutschen etwa »Volkstümler« oder »Volksfreunde« – in Verbindung gebracht wird. In der wissenschaftlichen Literatur werden die »Narodniki« oft auch als »Populisten« beschrieben, treffender wäre es allerdings, sie als »Agrarsozialisten« zu bezeichnen.
Am Beginn dieser Strömung steht das Werk Alexander Herzens (1812–1870). In seiner Jugend Linkshegelianer mit starkem Interesse an materialistischer Naturphilosophie, emigrierte Herzen 1847 wegen politischer Verfolgung nach Westeuropa, wo er mit den führenden Köpfen der europäischen sozialistischen Bewegung Bekanntschaft machte. Die Verbindung des westlichen (Früh-)Sozialismus mit Kenntnissen der eigentümlichen russischen Verhältnisse haben in Russland einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der sozialistischen Theorie und Praxis ausgeübt. Herzen begründete eine Strömung, die später in den Werken führender Theoretiker der Narodniki wie Nikolai Tschernyschewski (1828–1889), Pjotr Lawrow (1823–1900), Nikolai Michailowski (1842–1904) und Viktor Tschernow (1873–1952) weiterentwickelt wurde und sich am Vorabend der Russischen Revolution politisch in mehreren Parteien konstituierte. Die größte und bedeutendste unter ihnen war die Partei der Sozialisten-Revolutionäre.
Von Beginn an hatte der russische Sozialismus in seiner Frontstellung gegen das zaristische Regime einen starken antiautoritären Einschlag und bedeutend auf den Anarchismus eingewirkt – Michail Bakunin war zeit seines Lebens mit Herzen befreundet und verkehrte mit ihm in gemeinsamen Diskussionszirkeln, Pjotr Kropotkin engagierte sich in seiner Jugend ebenfalls in einem illegalen Narodniki-Zirkel. Während Marxistinnen und Marxisten in Westeuropa die soziale Basis für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft im Proletariat sahen, stützten sich die Agrarsozialistinnen und Agrarsozialisten auf Formen bäuerlicher Selbstverwaltung und handwerklicher Kooperation, die sogenannten Artels.
Entgegen dem weitverbreiteten Missverständnis wurde das traditionelle bäuerliche Leben von den Narodniki keineswegs romantisiert oder verherrlicht. Wer einen Eindruck davon bekommen will, was russische Sozialistinnen und Sozialisten von religiös übertünchten, patriarchalen Lebensformen und Familienstrukturen hielten, kann dies in Tschernyschewskis Roman Was tun? nachlesen oder auch direkt bei Herzen, der in seinen Memoiren Folgendes schrieb:
»Weder die byzantinische Kirche noch der Facetten-Palast können etwas zur künftigen Entwicklung der slawischen Welt beitragen. Die Rückkehr zum Dorf, zum Arbeiter-Artel, zur Gemeindeversammlung, zum Kosakentum – das ist eine andere Sache; aber diese Rückkehr darf nicht dazu führen, daß dies alles in unbeweglichen asiatischen Kristallisationen erstarrt, sondern sie muß die Prinzipien, auf denen diese Institutionen beruhen, entwickeln, freilegen … Das bloße Vorhandensein bestimmter Grundlagen der Lebensweise reicht nicht aus. In Indien existiert bis heute und seit Urzeiten die dörfliche Flurgemeinschaft, die der unseren sehr ähnlich ist und auf der Aufteilung der Äcker beruht; die Inder sind damit jedoch nicht weit gekommen. Einzig das machtvolle Denken des Westens, das mit seiner langen Geschichte in enger Verbindung steht, ist imstande, die Samenkeime zu befruchten, die in der patriarchalischen slawischen Lebensform schlummern. … Despotismus oder Sozialismus – es gibt keine andere Wahl.«
Die kapitalistische Industrialisierung betrachteten die Agrarsozialistinnen und Agrarsozialisten sehr skeptisch. Fabrikarbeit sei entfremdete Arbeit, die menschliche Tätigkeiten zergliedere, atomisiere und damit gerade nicht zu einer vollumfänglichen Entwicklung des Individuums führe, sondern zu seiner Reduzierung auf eine mechanische Einzelfunktion im Produktionsprozess. Auch demokratische Mitbestimmung war in ihren Augen im Rahmen der industriellen Arbeitsorganisation nur begrenzt möglich. In innersozialistischen Debatten im ausgehenden 19. Jahrhundert hielten sie den reformorientierten, »ökonomistischen« Marxistinnen und Marxisten vor, Russland werde sich aufgrund seiner Position an der weltkapitalistischen Peripherie niemals zu einem Industrieland nach westlichem Vorbild entwickeln, sondern stets in seiner Rolle als Rohstofflieferant und Absatzmarkt für westliche Industriestaaten verbleiben.
Gegen den revolutionär orientierten Marxismus in seiner bolschewistischen Ausprägung betonten sie den »subjektiven Faktor«, die Rolle der Kultur und der bereits vorhandenen sozialen und ökonomischen Strukturen. Sie verwiesen darauf, dass die Verwandlung der Gesellschaft in eine große Fabrik, die von einem zentralen Büro nach einem einheitlichen Plan verwaltet wird, nicht mit ihrem Verständnis gesellschaftlicher Selbstverwaltung vereinbar sei und dem Sozialismus daher auch nicht den Weg ebnen würde. Sie selbst befürworteten eine langsamere, »sanftere« Industrialisierung – also die Ausnutzung technischer Errungenschaften unter Beibehaltung und Weiterentwicklung bestehender kooperativer und demokratischer Strukturen. Inwiefern dieser Entwicklungsweg am Anfang des 20. Jahrhunderts realisierbar war, lässt sich rückblickend schwer sagen. Doch Tschajanows »bäuerliche Utopie« eröffnet uns einen Blick in die visionären Träume des russischen Sozialismus.
Tschajanows Held Alexej beginnt seine Reise im Jahr 1924 – einem Jahr, das noch in der Zukunft lag, als der Autor seinen Roman verfasste. In Tschajanows Romanwelt hat die kommunistische Weltrevolution zu diesem Zeitpunkt bereits gesiegt. Alexej arbeitet als Abteilungsleiter beim Weltvolkswirtschaftsrat und wird durch eine Zeitreise, deren Gründe nicht näher erklärt werden, aus seinem grauen weltkommunistischen Alltag herausgerissen und in das Jahr 1984 katapultiert, das vorher schon Jack London und später George Orwell als schicksalsträchtig erschien. Als ihm ein Geschichtsbuch in die Hände fällt, erfährt Alexej, dass die kommunistische Eintracht nicht lange gehalten hat. Wegen Streitigkeiten über die Verteilung der Kohle aus dem Saarland bricht ein neuer deutsch-französischer Krieg aus. Dieser zieht auch andere Länder in seinen Sog und verändert die sozialen und politischen Systeme auf der ganzen Welt:
»Nach sechsmonatigem Blutvergießen wurde durch die vereinten Bemühungen Amerikas und des Skandinavischen Bundes der Friede wiederhergestellt, jedoch um den Preis einer Aufteilung der Welt in fünf geschlossene volkswirtschaftliche Systeme: das deutsche, das englisch-französische, das amerikanisch-australische, das japanisch-chinesische und das russische. Jedes isolierte System erhielt in allen Klimazonen verschiedene territoriale Anteile, die einen rundum vollkommenen Aufbau des volkswirtschaftlichen Lebens garantierten, und in der Folgezeit begann jedes System unter Aufrechterhaltung eines gegenseitigen kulturellen Austausches ein in seiner politischen und wirtschaftlichen Ordnung völlig andersartiges Leben. In England-Frankreich artete die Oligarchie der Sowjetfunktionäre sehr schnell in ein kapitalistisches Regime aus; Amerika, das den Parlamentarismus wieder einführte, reprivatisierte seine Produktion teilweise, hielt jedoch den staatlichen Betrieb in der Landwirtschaft aufrecht; Japan-China kehrte in seiner politischen Entwicklung zur Monarchie zurück, bewahrte aber eigentümliche Formen des Sozialismus in der Volkswirtschaft; einzig und allein Deutschland trug immer noch in völliger Unversehrtheit das Regime der zwanziger Jahre mit sich herum.«
Die anderen Länder stecken in ihrer Entwicklung gewissermaßen in verschiedenen Stadien realer sowjetischer Geschichte – und damit auch in der Sackgasse, in der die Modernisierung unter sozialistischen Vorzeichen in der Sowjetunion angelangte. In Russland nimmt der Sozialismus in Tschajanows Zukunft jedoch einen anderen Weg. Hier kommt aufgrund einer Aufhebung des Klassenwahlrechts im Jahr 1937 die organisierte Bauernschaft, die zahlenmäßig die Mehrheit der Gesellschaft stellt, an die Macht und gestaltet die sowjetische Bauernrepublik fortan in ihrem Sinne.
Die Ökonomie der Bauernrepublik ist eine diversifizierte Wirtschaft, in der der größte Teil der Produktion in kleinen, lokalen Betrieben stattfindet, die ihrerseits in Genossenschaften organisiert sind. Größere kollektivierte Betriebe bestehen dort, wo sie »Vorteile vor der Kleinwirtschaft« bieten. Die Produzentinnen und Produzenten sind auch in diesem Fall keine staatlichen Angestellten. Man belässt sie in ihrer Selbständigkeit, bietet ihnen aber einen Rahmen, um kooperativ ihren Umgang miteinander zu regeln: Die Genossenschaften bringen die Bedürfnisse der Produzierenden und Konsumierenden miteinander ins Verhältnis und regeln Produktions- und Absatzmengen. Neben den Kooperativen existiert ein staatlicher Bereich, der in erster Linie für die Bereitstellung der Infrastruktur (etwa für die Stromproduktion) zuständig ist. Vereinzelt gibt es auch kapitalistische Betriebe, die allerdings stark reguliert und hoch besteuert werden.
Dieses System dezentraler Kooperation und Regulierung wird politisch von einer Rätedemokratie flankiert, die stark föderalistisch organisiert ist. Während der Zentralmacht einige wenige Bereiche vorbehalten sind (um genauer zu sein »das Gerichtswesen, die staatliche Kontrolle sowie einige Verkehrsbehörden und Verkehrswege«), wird der Rest lokal entschieden und in die Wege geleitet:
»Im übrigen denken wir ja gar nicht daran, uns als Rigoristen aufzuspielen, nicht einmal bei der Realisierung dieser ganzen Mechanik, und wir lassen gerne örtliche Varianten zu. So gibt es z. B. in unserem Gebiet von Jakutsk Parlamentarismus, und in Uglitsch haben die Anhänger der Monarchie einen ›Teilfürsten‹ eingesetzt, dessen Machtbefugnisse allerdings durch den örtlichen Deputiertensowjet eingeschränkt sind, und auf dem Territorium von Mongolisch-Altai regiert ein ›Generalgouverneur‹ als Zentralmacht in Ein-Mann-Regie.«
Folgerichtig stehen Konflikte, die sich aus der föderalen Organisation der Gesellschaft ergeben – Streitigkeiten über Entscheidungskompetenzen oder den Einsatz von Ressourcen – an der Tagesordnung und werden, wie Alexej durch einen Blick in die Zeitung erfährt, mit großem Eifer diskutiert. Die Utopie der Landwirte ist kein konfliktfreier Zustand und ihr Sozialismus kein Paradies, sondern ein »prozessierender Widerspruch«. Dabei werden solche Konflikte in der Bauernrepublik nicht mit Einsatz von Staatsgewalt gelöst:
»Ja, und überhaupt sind wir der Ansicht, dass der Staat eine veraltete Organisationsmethode des sozialen Lebens darstellt, und 9/10 unserer Arbeit werden mit gesellschaftlichen Methoden durchgeführt, denn diese sind für unser Regime charakteristisch: diverse Gesellschaften, Kooperationen, Kongresse, Ligen, Zeitungen, andere Organe der öffentlichen Meinung, Akademien und schließlich Clubs. Sie alle bilden das soziale Gewebe, aus dem sich das Leben unseres Volkes als solches zusammensetzt.«
Aber nicht nur öffentliche Debatte, sondern auch eine Bevölkerungspolitik, die an Manipulation grenzt, gehört zum Repertoire dieser Gesellschaft. An einer Stelle des Romans entlocken die Ausführungen eines Funktionärs über seine sozial-technologischen Ideen zur einer »weichen« Lenkung der Bevölkerung Alexej einen Aufschrei der Empörung. Auch diese Utopie ist nicht perfekt und bietet Anlass zur Kritik. Insgesamt zeichnet Tschajanow das Land der bäuerlichen Utopie aber in einem ausnehmend guten Licht.
Kunst und Kultur wird in der Bauernrepublik eine große Bedeutung beigemessen. Das Land ist mit Museen und Theatern zugepflastert und das alltägliche Leben mit allerlei kulturellen Aktivitäten erfüllt, bei denen Volkstümliches und Kosmopolitisches eine bunte Mischung eingehen. Kunstschaffende werden reichhaltig durch gesellschaftliches und privates Mäzenatentum gefördert: Verschiedene Gesellschaften und Vereine sammeln Gelder und vermitteln Aufträge von Privatpersonen, Betrieben, Institutionen und Kommunen. Bei Gemeinden steht das Institut des Stadtschreibers und der Stadtkünstlerin hoch im Kurs. Insgesamt unternimmt die Gesellschaft große Anstrengungen, um Kunst und Kultur allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich zu machen und das kulturelle Bildungsniveau zu heben.
Tschajanows auch insgesamt heitere Darstellung gipfelt bei diesem Punkt in einer Kunstraub-Anekdote: Ein Krieg wird geführt, denn die deutschen Kommunisten haben es auf russisches Getreide abgesehen und überfallen die Bauernrepublik. Nach zwei Tagen sind die Kampfhandlungen zu Ende, die Republik geht als Siegerin hervor. Als Kriegsreparationen verlangt sie ausgerechnet »einige Dutzend Bilder von Botticelli, Domenico Veneziano, Holbein, den Pergamon-Altar, 1.000 buntbemalte chinesische Stiche aus der Epoche der Tang-Dynastie«.
Die zentrale Maßnahme der bäuerlichen Umgestaltung der Gesellschaft betrifft aber das Verhältnis von Stadt und Land. Städte werden durch ein Dekret abgeschafft:
»Sehen Sie, früher genügte die Stadt sich selbst, das Land war nichts mehr als sein Piedestal. Heute, wenn Sie so wollen, gibt es überhaupt keine Städte im eigentlichen Sinne mehr, sondern nur noch Orte, die als Knotenpunkte sozialer Verbindungen dienen. Jede unserer Städte ist nichts anderes als ein Versammlungsort, ein zentraler Platz des Verwaltungskreises. Das ist kein Ort, an dem man lebt, sondern ein Ort für Feierlichkeiten, Versammlungen und einige andere Anliegen. Ein Punkt, aber kein soziales Wesen.«
Auch die soziale und kulturelle Infrastruktur wird dezentralisiert und die Gesellschaft unternimmt Maßnahmen, um regionale Disparitäten abzubauen. Metropolen verschwinden, die Städte ähneln eher großen Parkanlagen, werden zu Orten von Kultur, Erholung und sozialem Beisammensein. Eine gut funktionierende Verkehrsinfrastruktur, welche die Bauernrepublik über Jahrzehnte ausgebaut hat, stellt sicher, dass die Städte für alle schnell erreichbar sind. Die Bürgerinnen und Bürger legen große Entfernungen vorzugsweise in schnell fliegenden Luftschiffen zurück, die von einer fantastischen Technologie angetrieben werden.
Zwar spielt im Roman die Frage der Ökologie noch keine Rolle, aber angesichts der Kritik an der industriellen Massenfertigung, der kapitalistischen Profitlogik sowie dem Lob der lokalen Produktion und der nachhaltigen Landwirtschaft stechen die Überschneidungen zu aktuellen Debatten über eine ökologische Wende ins Auge.
Überhaupt ist die »bäuerliche Utopie« nicht in dem Maße aus der Zeit gefallen, wie der Name es nahelegen will. Die Fragen, die der Text stellt – und auf die er auch Antworten gibt – sind aktuell geblieben: Wie lässt sich erfüllende und vielseitige Arbeit gestalten? Wie lassen sich ökonomische Tätigkeiten jenseits des Komplexes von Großfabrik und Großbüro koordinieren? Wie lassen sich gesellschaftliche Notwendigkeiten mit der Vielfalt individueller Vorlieben vereinbaren? Wie ist das Verhältnis von lokaler Selbstbestimmung und überregionaler Koordination zu gestalten, wenn der homogene Nationalstaat erodiert? Wie würde man wohnen, wenn man Menschen nicht mehr an den Stätten des Massenkonsums und der Arbeit unterbringen müsste? In den Antworten auf diese Fragen, kehren bereits aufgehobene soziale Verhältnisse vor-industrieller Gesellschaften in einem neuen, hoch-technologischen und sozialistischen Gewand wieder.
Der russische Agrarsozialismus hat die Revolution nicht überlebt. Ähnlich ist es anderen nicht-bolschewistischen Strömungen ergangen. Die wichtigsten Köpfe wurden ins Exil verbannt, jene, die blieben und sich der neuen Verhältnisse anpassten, wurden zu einem großen Teil während der Stalinschen Säuberungen umgebracht. Im Ausland konnten sich kleine sozialrevolutionäre, menschewistische und anarchistische Zirkel russischer Emigranten noch bis in die frühen 1960er Jahre halten. Aber die theoretische Arbeit fand nicht mehr organisiert statt und von Praxis konnte keine Rede sein. Es ist als hätte sich die weltgeschichtliche Uhr weitergedreht und die alten Revolutionäre zurückgelassen, um in Ruhe (und Armut) ihre Memoiren zu schreiben.
Alexander Tschajanow selbst wurde in den 1960ern wiederentdeckt. Seine Theorien zur bäuerlichen Wirtschaftsweise stießen bei alternativen Ökonominnen und Ökonomen auf Interesse, die mit Schrecken auf die kapitalistische Expansion in den Globalen Süden blickten und nach alternativen Wegen der Modernisierung suchten.
Die russischen Agrarsozialistinnen und Agrarsozialisten dachten und schrieben zu einer Zeit, als sich die Gesellschaft in Russland an der Schwelle zur modernen Industriegesellschaft befand. Wenn wir die »Reise« heute lesen, stehen wir ebenfalls vor einem Übergang – und zwar in eine postindustrielle Gesellschaft. Es ist die Konstellation dieses Übergangs, die uns gegenwärtige Problemlagen in Tschajanows Roman wiedererkennen lässt. Sicherlich lassen sich in einem hundert Jahre alten utopischen Roman keine Patentrezepte für eine sozialistische Politik unserer Zeit finden. Aber von der Kreativität einer längst versiegten und zum großen Teil vergessenen sozialistischen Strömung können wir uns noch heute inspirieren lassen.
Konstantin Decker lebt in Tübingen und beteiligt sich aktuell an der Gründung einer Genossenschaft.
Konstantin Decker lebt in Tübingen und beteiligt sich aktuell an der Gründung einer Genossenschaft.