19. Mai 2022
Die Linkspartei steht am Abgrund, wird aber gebraucht. Fragt sich nur wofür und für wen sie eigentlich kämpft.
Wohin soll es in Zukunft gehen und mit wem? Auch die Partei scheint das nicht so recht zu wissen.
Als sie ihr Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen«. Dieses Zitat von Mark Twain bringt sowohl die Ursache für die verheerende Entwicklung der LINKEN zum Ausdruck als auch die Reaktion vieler führender Linker darauf. Die Partei gibt zwar angestrengt Antworten auf eine Gesellschaft im Umbruch, aber die Serie von Misserfolgen bei Wahlen zeigt: Es sind offenbar die falschen.
Um überhaupt einen Anknüpfungspunkt für eine Strategie zu finden, die der LINKEN einen Weg aus ihrer existenziellen Krise weist, muss sie den Pfad der gegenwärtigen innerlinken Debatte verlassen. Vielmehr muss der Blick von außen auf die Partei gerichtet werden. Es geht um die Fragen, wen die Linkspartei politisch mobilisieren oder vertreten will und auf welche Weise das geschehen soll.
In der LINKEN wird darüber gestritten, ob sie eine moderne Bewegungspartei oder eher eine professionalisierte Wählerpartei sein will. Befürworter der erstgenannten Variante behaupten, das Modell würde Erfolg haben, wenn nur die ewigen Querschüsse aus den eigenen Reihen ausblieben. Befürworter des zweiten Parteienmodells erachten die Fixierung auf soziale Bewegungen dagegen als gescheitert und ohnehin illusorisch. In diesem Konflikt gerät aus dem Blick, welche gesellschaftliche Grundlage DIE LINKE haben könnte, welche Rolle sie im deutschen Parteiensystem spielen sollte und welche sozioökonomischen und soziokulturellen Gruppen sie repräsentieren sollte – schließlich müssen Parteien glaubwürdige Interessenvertreter für ihre Wählerinnen und Wähler sein.
Die Serie von Wahlniederlagen in den letzten Jahren zeigt, dass DIE LINKE ihre Fähigkeit zur Mobilisierung weitgehend eingebüßt hat. Anscheinend ist die Partei auch nicht in der Lage, die Widersprüche, die insbesondere zwischen ihren potenziellen Wählergruppen bestehen, zu erkennen und Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen. Es scheint plausibel, dass die politischen Prioritäten, die innerhalb der Partei dominieren, nicht mit den Erwartungen ihrer Wählerschaft zusammenpassen.
In der Wahlforschung gelten Parteien als Repräsentanten tiefgreifender und in der Regel dauerhafter gesellschaftlicher Konflikte, denen bestimmte gesellschaftliche Gruppen zugeordnet werden können. Um stabile Wahlergebnisse zu erzielen, bedarf es also einer Wählergruppe, die sich von anderen im Hinblick auf bestimmte soziale und kulturelle Merkmale erkennbar unterscheidet und aufgrund ähnlicher Lebenserfahrungen und Interessenlagen eine gemeinsame Vorstellungen davon hat, wie eine gute Gesellschaft aussehen soll. Für diese Vorstellungen gibt es eine passende Partei mit entsprechendem politischem Angebot. Möglich ist aber auch, dass eine Partei verschiedene Gruppen vertritt, die eine Art politische Zweckgemeinschaft bilden, um die Erfolgschancen bei Wahlen zu erhöhen.
»Der in der LINKEN verbreitete Ruf nach einem Systemwechsel erscheint außerhalb der eigenen Echokammern eher als Drohung denn als Verheißung.«
Das bekannteste Beispiel dafür sind die US-Demokraten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über viele Jahrzehnte zuverlässig von Schwarzen, katholischen Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Intellektuellen gewählt wurden. Die Demokraten waren die gemeinsame Interessenvertretung von sehr verschiedenen Gruppen, die kaum soziale Überschneidungen untereinander hatten.
Der LINKEN war es zwischen 2005 und 2017 bei vier aufeinanderfolgenden Bundestagswahlen zumindest im Ansatz gelungen, unterschiedliche Milieus zu einem einheitlichen Wahlverhalten zu bewegen. Die Partei führte kulturell marginalisierte Wählerinnen und Wähler in Ostdeutschland, Teile eines gewerkschaftsnahen Milieus in Westdeutschland sowie kritische Intellektuelle in einer Wahlkoalition zusammen. Den besten Erfolg erzielte dieser Ansatz bei der Bundestagswahl 2009, bei der DIE LINKE 11,9 Prozent erreichte – im Osten war sie mit 28,5 Prozent besonders stark (im Westen wählten bei dieser Wahl 8,3 Prozent die Linkspartei). In diesem Zeitraum gingen die Wahlergebnisse in Ostdeutschland tendenziell zurück, in Westdeutschland stiegen sie sukzessive an.
Spätestens mit der Bundestagswahl 2021 ist diese Wählerkoalition passé: Im Osten verlor die Linkspartei etwa 40 Prozent ihrer Wählerinnen und Wähler gegenüber 2017, im Westen sogar etwa 50 Prozent. Auch der Trend, dass DIE LINKE im Westen Deutschlands relativ zum Osten stärker wurde, ist damit gebrochen. Unterm Strich ist sie im Westen Deutschlands mit 3,7 Prozent beinahe auf den Status einer Splitterpartei zurückgefallen, im Osten konnte sie mit 10,4 Prozent nur noch knapp ein zweistelliges Ergebnis erreichen. Das erklärte Ziel der Parteispitzen, mit Zugewinnen unter Jüngeren und bewegungsorientierten Menschen in den Dienstleistungszentren und Universitätsstädten negative Entwicklungen in anderen Gruppen auszugleichen, wurde verfehlt. Die Verluste waren in Regionen mit überdurchschnittlich vielen Wählerinnen und Wählern aus den auserkorenen Zielgruppen kaum geringer als im Durchschnitt.
Der soziale und politische Wandel hat nicht dazu geführt, dass die Wählergruppen der linken Wählerkoalition von 2005–2017 verschwunden sind, aber sie haben sich offenbar teilweise neu formiert und in einigen Fällen politisch umorientiert. Das liegt auch am veränderten politischen Angebot durch das Auftauchen der AfD und an neuen Schwerpunkten der Parteien, wie etwa identitätspolitischen Themen oder ökologischen Fragen.
Es gibt aber auch weitere Gründe für den Wählerschwund bei der LINKEN: Das zunehmende Ableben der Stammwählerschaft im Osten und der nachlassende Zuspruch innerhalb der Arbeiterschaft sowie die schlechten Ergebnisse in sozial prekären Bereichen. Der Niedergang der LINKEN ist letztlich nicht ohne die Fragmentierung der Arbeitswelt zu verstehen, die die gewerkschaftliche Organisierung und die Formulierung kollektiver Interessen erschwert. So haben die DGB-Gewerkschaften in den letzten zehn Jahren insgesamt 350.000 Mitglieder verloren, obwohl die Zahl der Beschäftigten gestiegen ist.
Seit Jahren beurteilen die Befragten im repräsentativen ARD-Deutschlandtrend ihre wirtschaftliche Lage mehrheitlich als gut. Anfang 2022 schätzten nur noch 4 Prozent die eigene wirtschaftliche Lage als schlecht ein. Diese verbreitete subjektive Einschätzung in der Bevölkerung macht es linken Parteien schwer, mit sozialpolitischen Forderungen zu werben. Laut Infratest Dimap sind zwar drei Viertel der Bevölkerung der Meinung, der Wohlstand in Deutschland sei ungerecht verteilt, doch die eigene Lage wird als positiv wahrgenommen. Der in der LINKEN verbreitete Ruf nach einem Systemwechsel erscheint außerhalb der eigenen Echokammern daher eher als Drohung denn als Verheißung. Schließlich hat man sich seinen Platz – so fragil und bescheiden er auch sein mag – in der Wettbewerbsgesellschaft hart erkämpft.
»DIE LINKE taumelt einer durch das politische Tagesgeschäft bestimmten Agenda hinterher, ohne wahrnehmbare Akzente setzen zu können. Dies ist auch der Tatsache anzulasten, dass führende Köpfe der Partei die Delegierten als ihre Basis ansehen und nicht die Wählerinnen und Wähler.«
Unter diesen Vorzeichen wird sozialer Ausgleich vielmehr als bürokratisch-administratives Problem eingeordnet, weniger als politisches. Der Abbau sozialer Rechte durch die Hartz-Gesetzgebung gerät bei den Älteren zunehmend in Vergessenheit, Jüngere werden bereits in das erpresserische Sanktionsregime hineinsozialisiert. Lebensumstände, die einst als prekär angesehen wurden, gelten heute als normal. Es dominiert das Motto: Mit etwas Anstrengung und Glück kann das Schlimmste vermieden werden. Wo ist in einer solchen Gesellschaft überhaupt noch Platz für eine linke Partei mit demokratisch-sozialistischem Anspruch?
Innerhalb der Partei fehlt es zudem an einer angemessenen Gewichtung von Themen. Insbesondere wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenz sind in der LINKEN zur Randerscheinung geworden. Doch da sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik auf alle gesellschaftlichen Bereiche auswirkt, verkümmert die Fähigkeit der Partei zunehmend, die mit diesen Politikfeldern verknüpften gesellschaftlichen Machtverhältnisse aufzuzeigen. Linke Diskurse um diese Politikfelder, die in die Gesellschaft hineinreichen, wären für den politischen Erfolg von entscheidender Bedeutung.
Das führt dazu, dass DIE LINKE einer durch das politische Tagesgeschäft bestimmten Agenda hinterhertaumelt, ohne wahrnehmbare Akzente setzen zu können. Dies ist nicht zuletzt auch der Tatsache anzulasten, dass führende Köpfe der Partei vor allem die Delegierten und die Mitarbeitenden als ihre Basis ansehen und nicht die Wählerinnen und Wähler: Fragen, die den nächsten Parteitag beschäftigen, sind wichtiger als die tieferliegenden gesellschaftlichen Problemlagen.
»Der Ansatz der LINKEN, sich als Teil der Klimabewegung zu etablieren, verfing nur bei einer überschaubaren Wählerschaft. In Teilen hat sich dennoch die Illusion gehalten, die Partei stünde in einem regen Austausch mit vielen wichtigen gesellschaftlichen Bewegungen und würde dort auf breite Akzeptanz stoßen.«
Hinzu kommt, dass in der Linken die moralische Überhöhung oftmals die politische Analyse ersetzt hat. Wo linke Intellektuelle waren, sind nun Priester. Es geht zunehmend darum, die Überlegenheit der eigenen Moral zu präsentieren. Die Vorgehensweise linker Parteien müsste aber eine ganz andere sein: Sie decken gesellschaftliche Widersprüche auf und halten die eigenen Widersprüche aus. Zu einem linken Pluralismus gehört die Akzeptanz anderer Meinungen im Sinne der gemeinsamen Sache: eine gerechte Gesellschaft. Das Gemeinsame sollte im Mittelpunkt stehen. Dabei geht es im Kern darum, das Leben sozial Benachteiligter zu verbessern. Obwohl man emotional von den Ideen und politischen Zielen der Partei ergriffen und überzeugt ist, sollten deren Ziele auf eine rationale Weise verfolgt werden – wenn es sinnvoll erscheint auch über Umwege. Ein Geist, der dieser Beschreibung entspricht, ist der LINKEN abhandengekommen.
Das gilt auch für die Diskussion um den Klimawandel. Die Kompetenzwerte der LINKEN in der Klimapolitik fallen trotz ausgefeilter Konzepte zur Klimagerechtigkeit bei Umfragen sehr gering aus. Bei der Nachwahlbefragung der ARD zur Bundestagswahl schrieben nur 3 Prozent der Befragten der Linkspartei in dieser Frage die höchste Kompetenz zu – ein geringerer Wert als ihn FDP und AfD aufwiesen. Die Grünen lagen erwartungsgemäß mit großem Abstand vorne. Der Versuch, den Grünen in ihrem Kernbereich, der Klimaschutzpolitik, durch ein ausgefeilteres Programm Stimmen abzujagen, ist also fehlgeschlagen. Der Ansatz der Linkspartei, sich als Teil der Klimabewegung zu etablieren, verfing nur bei einer überschaubaren Wählerschaft. In Teilen der LINKEN hat sich dennoch die Illusion gehalten, die Partei stünde in einem regen Austausch mit vielen wichtigen gesellschaftlichen Bewegungen und würde dort auf breite Akzeptanz stoßen oder sogar Teil davon werden. Überhaupt stellt sich die Frage, ob bei der Suche nach gesellschaftlichen Bündnispartnern die richtigen Prioritäten gesetzt werden.
Seit etwa zehn Jahren wird von der Parteiführung der strategische Ansatz verfolgt, dass DIE LINKE Teil und verbindendes Element von sozialen und ökologischen Bewegungen sein müsse. Vertreterinnen und Vertreter dieser sogenannten verbindenden Klassenpolitik betonen, dass Zuwanderung keiner Begrenzung bedürfe, weil man der potenziell ausgelösten Konkurrenz auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt durch eine Stärkung der Gewerkschaften, höhere Mindestlöhne, sozialen Wohnungsbau und ein inklusives Bildungssystem begegnen könne. Das Problem dabei ist, dass die Linkspartei der davon betroffenen Bevölkerung kaum vermitteln kann, dass die Partei an diesen Problemen etwas für sie ändern könnte.
Folgt man der Sichtweise der verbindenden Klassenpolitik, würde zudem das Kapital nicht nur von den Spaltungen zwischen Kernbelegschaften auf der einen und Leiharbeiterinnen, befristet Beschäftigten und Werkverträglern auf der anderen Seite profitieren. Auch die Spaltung zwischen Frauen und Männern, Hetero- und Homosexuellen sowie Deutschen und Migranten sei stets im Interesse des Kapitals. Diese Behauptungen halten aber einer realistischen Prüfung nicht stand.
Ein anderer Aspekt der Argumentation der Vertreterinnen und Vertreter der verbindenden Klassenpolitik kann dagegen nicht bestritten werden: Die Arbeiterklasse ist weiblicher und migrantischer geworden und konzentriert sich immer stärker im Dienstleistungssektor. Die Herausforderung besteht darin, die diversen Gruppen dieses Dienstleistungsproletariats zu einem gemeinsamen politischen Kampf um die geteilte Interessenlage zu mobilisieren. Die Klasse an sich wird nicht ohne weiteres zu einer Klasse für sich. Die verbindende Klassenpolitik hat jedenfalls bisher nicht verfangen können.
Selbst wenn man nur das Dienstleistungsproletariat betrachtet, bleibt das Problem, die Übereinstimmungen der Interessenlage dieser verschiedenen Gruppen herauszuarbeiten und sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu mobilisieren. Die Entstehung eines Klassenbewusstseins wird aber nicht nur durch die kulturell-identitären Unterschiede erschwert, hinzu kommt der angesprochene Strukturwandel in der Arbeitswelt. Da am Arbeitsplatz seltener Zeit miteinander verbracht wird, entstehen gegenseitiges Verständnis und Solidarität nicht so leicht wie unter den Bedingungen der traditionellen Industriearbeit. Die Klasse an sich ist in mehrfacher Hinsicht gespalten.
Das Problem, die diversen Gruppen unter einen Hut zu bringen, hat die Partei zumindest im Ansatz erkannt. Um die Schwierigkeiten zu beheben, wäre demnach eine stärkere Verankerung in den Betrieben und Gewerkschaften nötig. Es stellt sich aber die Frage, warum die Betriebsräte, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter nicht in Massen in die Linkspartei eintreten, wo doch seit Jahren dafür geworben wird. Gravierender ist, wie schlecht die Partei in dieser Gruppe bei Wahlen abschneidet. Bei der Bundestagswahl 2021 lag DIE LINKE nach einer Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen unter Gewerkschaftsmitgliedern mit 6,6 Prozent sogar noch hinter der FDP, die 9,0 Prozent erreichte.
»Die wenigen Betriebsräte, die für die Partei in Unternehmen aktiv sind, berichten zwar, dass die Kernforderungen der LINKEN populär sind. Die Beschäftigten verbinden sie aber nicht mit der Linkspartei.«
Abgesehen davon, dass die Mechanismen der neuen Klassenpolitik einfach nicht wirksam werden wollen, hat DIE LINKE gar nicht die Ressourcen, um planmäßig vor Ort an den Arbeitsstätten politische Strukturen aufzubauen. Die wenigen Betriebsräte, die für die Partei in Unternehmen aktiv sind, berichten zwar, dass die Kernforderungen der Sozialpolitik der LINKEN populär sind. Die Beschäftigten verbinden sie aber nicht mit der Linkspartei, weil DIE LINKE entweder gar nicht wahrgenommen wird oder als Partei angesehen wird, die sich primär um lebensferne Nebensächlichkeiten kümmert.
Das liegt auch an den von Teilen der Parteiführung und der parteinahen Stiftung vorangetriebenen linken Diskussionen, die völlig entrückt wirken. Man bleibt weitgehend unter sich, zentraler Bestandteil der Diskussionen ist die Idealisierung und Überhöhung sozialer Bewegungen in mehrfacher Hinsicht: im Hinblick auf deren quantitatives und qualitatives Gewicht in der Gesellschaft und hinsichtlich der Präferenzen der »bewegten« Aktiven. Unterschätzt wird dagegen die Divergenz zwischen den Gruppen. Das Hauptproblem ist aber, dass eine kleine Personengruppe, die in mehr oder weniger wichtigen Bewegungen aktiv ist, alle Aufmerksamkeit bekommt und als strategisch bedeutsame Formation angesehen wird.
Die teilweise intensive linke Diskussion über die Klassengesellschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass außerhalb der Blase und überschaubaren links-akademischen Kreisen der Begriff der »Klasse« praktisch keine Rolle spielt. Die gesellschaftliche Konstellation kann zweifellos als Klassenstruktur analysiert werden, diese Struktur überträgt sich aber kaum in politisches Handeln der Arbeiterklasse, auch weil der Mythos der nivellierten Mittelstandsgesellschaft in Deutschland weiterlebt und die faktische Klassengesellschaft von den abhängig Beschäftigten als solche nicht erkannt wird. Vielmehr werden die Spielregeln des neoliberalen Kapitalismus akzeptiert, auch wenn vielfach Überforderung und das ungute Gefühl, dass es nicht ewig so weitergehen kann, um sich greift.
Nach dieser bitteren Analyse muss die strategische Grundsatzentscheidung getroffen werden, alle Anstrengungen auf den Erfolg der LINKEN als Wahlpartei zu legen. Generell gilt, dass die inneren Widersprüche geklärt und die Toleranzschwellen erhöht werden müssen. Progressivität ist ohne Toleranz nicht denkbar. DIE LINKE muss akzeptieren, dass sie kulturell sehr unterschiedliche Wählergruppen repräsentieren muss, wenn sie Erfolg haben will. Das sollte sich auch in der Mitgliedschaft abbilden. Es muss ohne Zweifel klar sein, dass der soziale Ausgleich und das Herausfordern der gesellschaftlichen Machtverhältnisse im Mittelpunkt linker Politik stehen muss. Das ist der zentrale Ansatz, mit dem diverse Gruppen, die für DIE LINKE potenziell erreichbar sind, für eine breite Wählerkoalition gewonnen werden könnten.
»Die meisten Menschen, die für DIE LINKE erreichbar wären, sind nicht in sozialen Bewegungen aktiv – und das wird auch so bleiben.«
Unbenommen davon muss DIE LINKE fortschrittliche Positionen in Fragen der gesellschaftlich-kulturellen Modernisierung einnehmen. Die Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen in Not darf genauso wenig infrage gestellt werden wie die Unterstützung von diskriminierten Minderheiten. DIE LINKE muss auch eine ökologische Partei sein, die den Klimaschutz für alle leistbar macht. Sie muss dabei eine Partei sein, die nicht belehrt, sondern sich an den gesellschaftlichen Realitäten orientiert. Dabei ist das Setzen von Prioritäten unerlässlich, ohne dass dies notwendigerweise einer Wertung gleichkommt. Die Linke muss von denjenigen gewählt werden, die keine Stimme im politischen System haben, und ihnen eine Stimme geben. Diese sehr heterogenen Gruppen können nur über ihre Gemeinsamkeiten gewonnen werden.
Idealisierungen von Eigenschaften kleiner Gruppen müssen vermieden werden. Der weitaus größte Teil der Menschen, die für DIE LINKE erreichbar wäre, befindet sich in einer passiven Beobachterrolle und ist nicht in sozialen Bewegungen aktiv – und das wird aus unterschiedlichen Gründen auch so bleiben. Diese Menschen sind nicht weniger klug als die Aktiven, auch sie haben eine Stimme. Sie dürfen nicht vergessen werden und sie sind entscheidend für den Ausgang von Wahlen.
Es braucht eine undogmatische und pluralistische linke Partei, die linke Debatten in die Gesellschaft trägt. Die innerparteiliche Konstellation und die innerparteilichen Machtverhältnisse führen aber gegenwärtig dazu, dass ein pluralistischer Ansatz kaum diskutabel ist. Die Partei braucht eine politische Kultur, die Offenheit und einen respektvollen Umgang signalisiert. Die persönliche politische Karriere innerhalb der Partei muss hinter das Ziel des politischen Erfolges – und momentan des Überlebens – der LINKEN zurücktreten. Das heißt auch, dass die Zuordnung von Verantwortlichkeiten bei Erfolgen und Misserfolgen stimmen muss. Eine innerparteiliche Grundlage ist nötig, die ein geschlossenes Wirken der LINKEN nach außen in die Gesellschaft ermöglicht.
Linke sagen häufig, dass DIE LINKE gebraucht würde. Das stimmt nur, wenn die Existenz der Partei über den Selbstzweck hinausgeht. Wenn also die Wählerinnen und Wähler die Frage der Notwendigkeit der Existenz einer linken Partei mit »Ja« beantworten sollen, benötigt DIE LINKE ein eigenständiges Profil als Partei – als die Stimme, die gesellschaftliche Machtverhältnisse herausfordert, die den sozialen Ausgleich erkämpft und sich für eine friedliche Gesellschaft einsetzt.
Dr. Holger Onken ist Politikwissenschaftler und Fraktionsvorsitzender der LINKEN sowie Vorsitzender der Gruppe DIE LINKE/Piratenpartei im Oldenburger Stadtrat.