28. Februar 2023
Mit dem Kollaps der Sowjetunion hat die Linke ihre vereinenden Referenzen verloren: Revolution, Antifaschismus und Antiimperialismus. Wenn die Linke wieder gewinnen will, muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen.
Kongress der SDAJ, dem Jugendverband der DKP, in Dortmund, 1969. Der Zusammenbruch der Sowjetunion manövrierte die Partei in eine Existenzkrise.
IMAGO / Klaus Rose1989/90 wurde die Linke vor mindestens drei Herausforderungen gestellt: Die Grenzbefestigungen zwischen Ost und West fielen, Deutschland wurde wiedervereinigt und der real existierende Sozialismus brach zusammen. Diese Ereignisse führten die Linke in eine der größten Krisen ihrer Geschichte. Allein die DKP, bis dahin die bedeutendste Organisation der außerparlamentarischen Linken in Deutschland, verlor 1989/90 zwei Drittel ihrer damals rund 35.000 Mitglieder – inzwischen sind es weniger als 3.000.
Aber auch Organisationen, die dem Ostblock weniger nahestanden, kapitulierten. Die Krise von 1989/90 erfasste auch Strömungen, die den Staatssozialismus stetig kritisiert hatten. In der Bundesrepublik lösten sich in den 1990er Jahren die RAF und die Revolutionären Zellen auf, genauso auch der Kommunistische Bund und die Marxistische Gruppe. In der Türkei ereigneten sich viele Spaltungen und Neuformierungsversuche innerhalb der Linken, in Italien waren die Eurokommunisten und Sozialisten auf dem Abstieg. Allein in Deutschland sank die Gesamtauflage der Publikationen, die links von Sozialdemokratie und grüner Bewegung verortet waren, zwischen 1989 und 1993 von 38 Millionen auf 4 Millionen.
In seinem Buch Das letzte Gefecht. Die Linke im Kalten Krieg geht der Historiker und Politikwissenschaftler Jan Gerber den Gründen dieser Krise nach. Das 2015 veröffentlichte Buch ist jetzt als erweiterte Neuauflage erschienen, die grundlegend aktualisiert und im Anhang um mehrere Texte ergänzt wurde.
Gerber gehörte seit den 2000er Jahren zu den Stammautoren der Berliner Zeitschrift Bahamas und des Freiburger Verlags Ça ira, die als publizistische Flaggschiffe der Antideutschen gelten können. Diese Strömung ist selbst im Kontext des Mauerfalls, der Wiedervereinigung und des Unterganges des Staatssozialismus entstanden und insofern ebenfalls eine Erscheinung der sich damals zuspitzenden Krise der Linken. Zuletzt trat sie immer wieder mit ihrem Lob des amerikanischen Neokonservativismus und ihren Anfeindungen gegen linke Bewegungen in Erscheinung. Antideutsche rechtfertigten etwa den Afghanistan- und den Irakkrieg oder erachten den zeitgenössischen Feminismus als »Geistesschutt«.
Von all dem ist in Gerbers Buch kaum etwas zu bemerken. Es ist eher von einer gewissen Trauer um den Verlust einer großen emanzipatorischen Perspektive getragen. In einem der Texte, die für die Neuauflage in den Anhang aufgenommen wurden, erinnert er daran, dass die Linke trotz vieler gegensätzlicher Tendenzen »seit 1789 immer auch ein überschießendes Moment« hatte, das sich gegen blinden Staatsfetischismus, Arbeitskult oder Autoritarismus – wie sie etwa im Stalinismus zur Geltung kamen – sperrte. Die große Krise, in die die Linke 1989/90 fiel, verortet Gerber im Verlust von drei Bezugsrahmen, die sie mit dem Untergang des Ostblocks verlor, nämlich die Revolution, den Antifaschismus und den Antiimperialismus. Sie waren das »subkutane Band«, das auch die sowjetkritische Linke mit dem real existierenden Sozialismus verband.
Die Anziehungskraft der Sowjetunion war, wie Gerber ausführt, vornehmlich symbolisch und vor allem mit ihrem Ursprungsereignis, der Oktoberrevolution, verflochten. Durch den erfolgreichen Sturm aufs Winterpalais war gezeigt worden, dass der Umsturz der Verhältnisse nicht utopisch ist, sondern im Bereich des Möglichen liegt. Aus genau diesem Grund zielte die Kritik, die Linke an den Bolschewiki äußerten, auch weniger auf die Revolution selbst und vielmehr auf ihre Methoden – sei es Rosa Luxemburgs berühmte, erst nach ihrer Ermordung erschienene Schrift über den roten Oktober, seien es die Überlegungen Anton Pannekoeks oder Avraam Benaroyas, einem der spannendsten linken Denker des späten Osmanischen Reiches.
Diese symbolische Strahlkraft verlor im Laufe der Zeit immer mehr ihren Glanz. Gerber verweist unter anderem auf die Entmachtung der Räte, die Neue Ökonomische Politik, das Vorgehen der sowjetischen Geheimpolizei im Spanischen Bürgerkrieg und den Stalinismus. Durch den opferreichen Kampf der Roten Armee gegen die Nazis und die Unterstützung des Antikolonialismus seit den 1950er Jahren konnte die Sowjetunion einen Teil ihres Ansehens, das sie durch den Stalinismus verloren hatte, wieder rehabilitieren. Die westliche Linke betrachtete die Oktoberrevolution, wie Gerber auf Basis zahlreicher Quellen zeigt, darunter auch die Schriften des polnisch-jüdischen Trotzkisten Isaac Deutscher, in der Regel nicht als gescheitertes, sondern als »eingefrorenes« Projekt , das nur darauf wartet, »aufgetaut« und weitergeführt zu werden.
Darauf führt er auch die Begeisterung zurück, die den Dissidentinnen und Dissidenten des Ostblocks von vielen westlichen Linken entgegengebracht wurde, etwa den wenigen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern der Protesterklärung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 oder, von Gerber nur am Rande erwähnt, Andrei Sacharows und Lew Kopelews. Sie schienen die Arretierung des Projektes 1917 zu lösen und es dort weiterzuführen zu wollen, wo es 1921 und in den Folgejahren eingefroren war.
Verblasster Ruhm
Seit dem Untergang des Ostblocks 1989/90 war jedoch offensichtlich geworden, dass das Projekt nicht »arretiert«, sondern gescheitert war. Die Sowjetunion stehe, wie Gerber ausführt, trotz ihrer Schwächen seither nicht mehr für eine »Wende in der Geschichte von Elend und Ausbeutung«, sondern nur für ein »retardierendes Moment in der Globalwerdung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung«. Die Orientierungslosigkeit der westlichen Linken lässt sich auch darauf zurückführen, dass sie seither auf sich selbst zurückgeworfen ist und ihr eine welthistorische Bezugsgröße fehlt.
Glaubt man Gerber, dann wurde diese Orientierungslosigkeit gerade in Deutschland durch das »Ende des Antifaschismus« verstärkt, denn Antifaschismus war nicht nur die Gegnerschaft zum Faschismus, sondern, wie Gerber anhand linker Faschismusdebatten zeigt, aufs Engste mit einem Weltbild verbunden, das häufig am Marxismus-Leninismus orientiert war. Der historische Antifaschismus ging regelmäßig mit dem Kleinreden der Massenbasis des Faschismus einher; Faschismus wurde oft auf eine Herrschaftsform des Kapitals reduziert. Hier hätte Gerber stärker betonen können, dass dies tatsächlich nur eine Reduktion und keine Falschdarstellung war, weil die Nazis ohne die Unterstützung der alten Eliten in Staat und Wirtschaft nie an die Macht hätten kommen können. Dennoch ist es richtig, dass der Fokus auf die faschistische Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung den Rassismus und die Obrigkeitshörigkeit seiner Anhängerinnen und Anhänger aus den Mittelschichten und der Arbeiterklasse oftmals ausgeblendet hat.
Die Parteinahme für die DDR, die trotz aller stetigen Kritik auch in undogmatischen Kreisen ergriffen wurde, ging, wie Gerber betont, weniger auf ihren Autoritarismus als auf den Antifaschismus zurück. Als zentrale Voraussetzung des Kampfes gegen eine Wiederkunft des Faschismus galt die Entmachtung der alten Eliten – und hier schnitt die DDR, wie Gerber betont, trotz aller propagandistischen Überzeichnungen besser ab als die Bundesrepublik. Dies war Teil der unterschwelligen Verbindung zwischen der westdeutschen Linken und dem selbsternannten »Arbeiter- und Bauernstaat«.
War der Staatssozialismus auch autoritär deformiert, erschien er im Unterschied zum Westen wenigstens als Hort des Antifaschismus. Aufgrund der identitären Bedeutung, die der Antifaschismus wegen der Nazi-Vergangenheit insbesondere für die westdeutsche Linke hatte, konnte der Untergang der DDR darum nicht folgenlos für sie bleiben; ihr vergangenheitspolitischer Bezugsrahmen zerbrach. »Es scheint, als gehe vom verfallenen Gesellschaftskörper der DDR und seiner historischen Rechtfertigung – dem Antifaschismus – ein Leichengift aus, das all jene affiziert, die – wie idiosynkratisch auch immer – sich jenem Legitimationszusammenhang zuordneten«, so schrieb der deutsch-israelische Historiker Dan Diner bereits 1991.
Hinzu kam, dass mit dem Untergang der Sowjetunion auch der Antiimperialismus an seine Grenzen stieß. Mit seiner Hilfe hatte die westliche Linke im Kalten Krieg regelmäßig die eigene Schwäche kompensiert. Die sogenannte Dritte Welt wurde in gewisser Hinsicht als Statthalter des Dritten Standes der Französischen Revolution und seines Nachfolgers, des Proletariats, betrachtet, das sich seit den 1950er Jahren nur noch bedingt an revolutionären Veränderungen interessiert zeigte.
Anders als heute beharrt Gerber darauf, dass die Orientierung an den Befreiungsbewegungen im Trikont nicht nur eine Projektion revolutionärer Sehnsüchte in den Globalen Süden war, sondern Theorie und Praxis der einschlägigen Organisationen diesen Wünschen oft entgegenkommen – will heißen, sie trugen tatsächlich ein erhebliches emanzipatorisches Potenzial in sich. Dies hatte viele Gründe, ging aber ebenfalls auf die Existenz der Sowjetunion zurück. Ihr eigenes ökonomisches Befreiungsmodell, das auf der Modernisierung eines teils feudalen, teils kolonialen Landes basierte (mehr als die Hälfte der russischen Industrie befand sich vor der Oktoberrevolution in westlicher Hand), wirkte anziehend. Zugleich machte sie die Orientierung an gewissen »zivilisatorischen Mindeststandards«, wie Gerber es nennt (gemeint sind beispielsweise die Gleichberechtigung von Frauen und die allgemeine Schulpflicht für Mädchen und Jungen), zur Voraussetzung für die Lieferung von Waffen, Aufbauhilfen und die Auszahlung von Krediten.
Dies trug dazu bei, dass sich einige Bewegungen weniger aus weltanschaulichen als aus pragmatischen Gründen mit der Sowjetunion verbündeten. Da die USA demokratische und linke Initiativen mit kommunistischer Infiltration gleichsetzten und lieber mit rechten Cliquen zusammenarbeiteten – erinnert sei nur an den Militärputsch 1953 in Iran –, konnte aus der Positionierung der Supermächte tatsächlich häufig auf den Charakter der jeweiligen Bewegungen im Globalen Süden geschlossen werden. Wer dort von der Sowjetunion unterstützt wurde, stand tendenziell eher auf der Seite des Fortschritts, wer Unterstützung aus den USA bekam, eher aufseiten der Reaktion. Auch wenn dieses Schema niemals perfekt war und Anfang der 1970er Jahre zu erodieren begann, verschaffte es der westlichen Linken eine Orientierungssicherheit, die sie nie zuvor besessen hatte.
Mit dem Untergang des Ostblocks gerieten viele fortschrittliche Bewegungen im Globalen Süden jedoch in denselben Strudel der Auflösung von Gewissheiten wie die westliche Linke. Viele zerfielen oder transformierten sich. Für andere entfiel die Sowjetunion als Korrektiv, sodass nationalistische, religiöse oder andere reaktionäre Ideen, die bis dahin vom marxistisch inspirierten Befreiungsnationalismus überlagert worden waren, vielfach deutlich zum Vorschein kamen. Damit veränderte sich laut Gerber weniger der Imperialismus, wohl aber der Antiimperialismus: »Die Feststellung, dass eine Konfliktpartei als imperialistische Kraft auftritt, lässt nicht mehr notwendigerweise die Schlussfolgerung zu, dass die Gegenseite ›objektiv‹ antiimperialistisch handelt – zumindest nicht, ohne sich von der einstigen Emphase des Begriffs Antiimperialismus zu verabschieden.«
Der Kalte Krieg hatte ein Wissen verdeckt, das in den Diskussionen der Komintern noch deutlich präsent war, nämlich, dass es auch reaktionäre Antiimperialismen geben kann. Das antiimperialistische Weltbild des Ost-West-Konfliktes erodierte; die westliche Linke verlor nicht nur ihren welthistorischen und vergangenheitspolitischen Bezugsrahmen, sondern auch ihre weltpolitische Orientierungssicherheit. Auch daraus resultiert die große Krise der Linken, von der sie sich bis heute nur bedingt erholt hat.
Auch Antideutsche können Selbstreflexion
Wie die weiten historischen Bezüge, die Gerber auch in den anderen Kapiteln unternimmt, zeigen, hat sich Gerber nicht nur mit der »Linken im Kalten Krieg« auseinandergesetzt – auch wenn der Untertitel des Buches anderes vermuten lässt –, sondern eine kleine Geschichte der Linken im 20. Jahrhundert vorgelegt. Dabei nimmt er nicht nur die Linke in Deutschland in den Blick. Wer sich mit dieser Geschichte und den Ursachen der »linken Dauerkrise« auseinandersetzen will, kommt an diesem kenntnisreichen Buch also kaum vorbei.
Seine politische Sozialisierung im antideutschen Milieu kann Gerber sicherlich kaum verleugnen. Insbesondere die Texte aus den Jahren 2001 bis 2019, die für die erweiterte Neuauflage in den Anhang aufgenommen wurden, kommen teilweise nicht ohne antideutsche Verzerrungen aus. Das tut der Qualität des Hauptteils des Buches jedoch keinen Abbruch. Gerade im Nachwort zur Neuauflage, in dem Gerber die Entstehung seiner Texte historisch kontextualisiert, geht er zudem überaus kritisch mit diesem Milieu ins Gericht. Hier gibt es einige Überraschungen.
So verortet Gerber die Antideutschen dort klassenspezifisch im »neuen Mittelstand« und bezeichnet sie unverhohlen als staatstragend. Insbesondere die generelle Verurteilung sozialer Proteste als nationalistisch, die inzwischen im neoliberalen und konservativen Milieu, aber auch in Teilen der Sozialdemokratie verbreitet geworden ist, sei von ihnen schon in den 1990er Jahren vorexerziert worden. Ohne es zu wollen, seien die Antideutschen der »exzentrische Ausläufer eines längerfristigen Prozesses« gewesen, »der auf die Modernisierung Deutschlands zielte«. Diese Aussagen haben das Potenzial, unter Antideutschen für Irritationen zu sorgen. Nicht nur aus diesem Grund ist dem Buch eine breite Rezeption und eine intensive Diskussion zu wünschen.
Wer hingegen Anregungen und Ideen zur Überwindung der Krise der Linken erwartet, wird möglicherweise enttäuscht werden. In einem Interview, das im Jahr 2011 für die österreichische linke Zeitschrift Malmoe geführt und der erweiterten Neuauflage angehängt wurde, wehrte Gerber ab: »Die einzige Möglichkeit scheint mir [...] in dem zu bestehen, was immer wieder irrtümlich als Gegenteil von Praxis denunziert wird: Sie besteht im Denken, und zwar in einem Denken, das nicht sofort nutzbar gemacht wird für eine irgendwie geartete politische Praxis, das nicht sofort wieder auf seine Taktik- und Strategietauglichkeit befragt und darauf hin abgeklopft wird, wie mit seiner Hilfe die herrschenden Verhältnisse in Frage gestellt werden können.«
Hier macht es sich Gerber in Anlehnung an die Frankfurter Schule, auf die er sich gelegentlich beruft, sicherlich etwas zu einfach, gänzlich falsch liegt er jedoch auch nicht. Damit sich die Linke erneuern kann, ist es notwendig, dass sie sich intensiv mit ihrer Geschichte auseinandersetzt. Nur so kann vermieden werden, dass die Fehler der Vergangenheit wiederholt und die alten Kämpfe einfach nur nachgestellt werden, wie Marx im »18. Brumaire des Louis Bonaparte« warnt.
Diese Auseinandersetzung ist ganz unmittelbar praktisch – und das nicht, weil sich aus ihr Vorschläge und Ideen für zukünftiges Handeln destillieren lassen, sondern weil durch sie ein Bewusstsein über die Fehler, Erfolge, Irrtümer und Siege der historischen Linken entsteht, das wesentlich wichtiger ist als kurzatmige Organisations- und Strategiedebatten. Anstatt sich weiter in endlos erscheinender Selbstbeschäftigung zu verlieren, wäre dies ein Schritt, aus dieser Selbstbezüglichkeit herauszufinden und sich der Gegenwart zu widmen, anstatt den Kämpfen und Konflikten der Vergangenheit. Gerbers Buch trägt das Potenzial in sich, zu diesem notwendigen Prozess beizutragen.
Zeynep Yilmaz studiert Soziologie, Geschichte und Turkologie und engagiert sich in einer antirassistischen Bildungsinitiative.