02. Oktober 2020
Viele sprechen von Einheit und meinen doch nur die Angleichung des Ostens an den Westen. Es reicht nicht, ein paar Spitzenposten mit Ossis zu besetzen. Wir brauchen einen demokratischen Sozialismus.
Zur »EinheitsEXPO« in Potsdam ist Deutschland vieles, in Bezug auf den Osten vor allem eins: lost.
Die Stadt Potsdam hat sich als Ausrichter der offiziellen Einheitsfeier zu 30 Jahren Wende schon mal warm gelaufen. Nicht weniger als eine 30-tägige »EinheitsEXPO« ließ man springen. Das Logo: ein schwarz-rot-goldenes Herz mit einer 30 darauf. Darunter das Motto: »Deutschland ist eins: vieles«. Wer da noch nicht genug Liebe spürt, kann beim »Einheitsbuddeln« ein Bäumchen pflanzen. Hier hat sich eine Werbeagentur eine wirklich hübsche Aktion ausgedacht, um eines ökonomischen und politischen Kahlschlags zu gedenken, den Millionen Menschen als Enteignung, Entwertung und bis heute andauernde Zerrissenheit erfahren haben.
Genauso folgenlos wird aller Voraussicht nach der Festakt am 3. Oktober ablaufen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird ernst und schwerfällig sagen, dass wir an diesem Tag die Demokratie und die Freiheit feiern. Vieles sei erreicht worden, doch einigen Herausforderungen werde man sich noch stellen müssen. Zu nennen seien da mehr ostdeutsche Professuren, außerdem seien die Löhne und Renten noch nicht auf Westniveau. Für die Demokratie, wird Steinmeier sagen, müssen wir uns jeden Tag einsetzen. Anna Loos und Günther Jauch – ein deutsch-deutsches Traumpaar der Mittelmäßigkeit – moderieren ab. Es gibt Showgäste (hoffentlich Helene Fischer) und weitere Festrednerinnen. Pflichtmäßig wird das Spektakel in der ARD übertragen, als würde hier ein durchschnittlicher Fernsehgarten aus Potsdam gedreht.
Draußen vorm Tor steigt derweil die Frustration mit dem politischen System und ihren Institutionen weiter an. In der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften von 2018 (ALLBUS) zeigten sich 60 Prozent der Westdeutschen – aber nur 36 Prozent der Ostdeutschen – zufrieden mit dem Zustand der bundesrepublikanischen Demokratie. 40 Prozent der Ostdeutschen gaben an, kein oder wenig Vertrauen in das Parlament zu haben (im Westen waren es nur 28 Prozent). Man könnte meinen, die Organisatorinnen des Einheitsfestes leben in einer Parallelwelt. Auch ein riesiges ideologisches Herz wird den Riss, der zwischen Ost und West und zwischen Menschen und Institutionen geht, nicht heilen. Tatsächlich bleibt der Festakt ganz buchstäblich eine »geschlossene Gesellschaft«.
Medial begleitet wird das Spektakel 30 Jahre Einheit durch tiefschürfende Fragen wie »Was es bedeutet, ostdeutsch zu sein«. Manch einer fühlte sich hingerissen, einen Zuzug zurück in den Osten zu fordern, um der AfD das Wasser abzugraben. Wieder andere deuten die Resilienz der Ostdeutschen als eine Stärke in Zeiten von großen Umbrüchen: Klar, im Neoliberalismus erweist es sich erstmal als günstig, wenn man weiß, wie man ganz ohne Sicherheiten zurechtkommt. Warum das als Gesellschaft aber erstrebenswert sein oder was uns eine hohle ostdeutsche Identitätspolitik bringen soll, wird jedoch nicht erklärt. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Erfahrungsgemäß geht es in den Debatten der letzten Wochen entweder um Befindlichkeiten oder um Posten – Journalistinnen und Journalisten projizieren ihre Biographien und Wünsche auf den gesamten Osten. Viel zu selten geht es um das System, das unterging, und welche politischen Rückschlüsse wir daraus für unsere Gegenwart und vor allem unsere Zukunft ziehen.
Neben der entleerten Erinnerungsperformance gibt es auch eine ernsthafte und empathische Darstellung der Wendejahre. Insbesondere die Treuhand, die ökonomische Abwicklung der DDR und ihre Folgen wurden während dieses Jubiläumsjahres so breit aufgearbeitet wie nie zuvor. Was die wirtschaftlichen und politischen Umbrüche für die Menschen, ihre Arbeitsplätze, ihre Familien bedeutete, scheint erst mit dem Abstand von 30 Jahren vollends erkennbar zu werden.
Die Schilderungen zeigen, dass der Riss tiefer ist als zunächst angenommen wurde. Der Aussage, dass die Wiedervereinigung vor allem für den Westen vorteilhaft gewesen sei, stimmten in der oben genannten ALLBUS-Umfrage mehr als drei Viertel der Ostdeutschen, also 77 Prozent, zu. Selbst Wolfgang Schäuble muss 30 Jahre später eingestehen, dass man sich nach der Wiedervereinigung zu wenig in die Menschen im Osten hineinversetzt habe. Die Erkenntnis kommt nicht nur 30 Jahre zu spät, sie kostet den einstigen Verhandlungsführer des Einigungsvertrags auch nichts. Für die Menschen macht das nun auch keinen Unterschied mehr.
Wenn heute allseits die Demokratie gefeiert wird, dann werden wir viel über die unbedingte Notwendigkeit politischer, intellektueller und künstlerischer Freiheit hören. Aber ein zentraler Bereich unserer Gesellschaft wird unerwähnt bleiben: die Wirtschaft. Damit wird der undemokratischste Bereich unseres Lebens ausgespart. In keinem anderen Lebensbereich als am Arbeitsplatz können wir weniger über unsere Zeit oder Ziele des eigenen Tuns bestimmen. Wer hier verweigert, was der Chef fordert, dem wird die Tür gewiesen. In der DDR gab es zwar keine Wirtschaftsdemokratie, aber immerhin soziale Sicherheiten, besonders am Arbeitsplatz. Zu wissen, dass man auf jeden Fall einen neuen Job bekommt, ist auch eine Form der Freiheit.
Die Freiheit des Westens, die den Menschen im Osten versprochen wurde, sollte sich nach der Wende als beschränkt herausstellen. Man durfte nun endlich bei Beate Uhse in Westberlin einkaufen, doch von Mitbestimmung und demokratischer Teilhabe an wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen konnte nicht die Rede sein. Und während der Privatisierungen der Treuhand, im Zuge derer sich alle Prozesse einem Imperativ der Effizienz und Ertragskraft unterzuordnen hatten, gab es diese erst recht nicht – wer Pech hatte, wurde eben kurzerhand vor die Tür gesetzt.
Für die Menschen im Osten erwiesen sich Kohls »blühende Landschaften« allzu oft als »beleuchtete Wiesen«, Hektar neu bebauten gewerblichen Brachlands, das nie genutzt wurde. Viele erkannten, dass ihnen auch ein schicker roter Kühlschrank nicht mehr Lebensqualität brachte, wenn dafür nun Familienmitglieder im Westen nach Arbeit suchen mussten oder die Arbeitslosigkeit immer weiter anstieg. Ganze Berufszweige starben mit der Wende aus.
Die sogenannte Wiedervereinigung ist also hauptsächlich die Aneignung der kapitalistischen Lebensweise des Westens gewesen. Nicht nur in ökonomischer Hinsicht passte man sich dem Profitzwang der Marktwirtschaft an, auch die Öffentlichkeiten, politische Debatten, Schulöffnungszeiten, Preise und vieles mehr wurden dem Osten in wenigen Jahren übergestülpt – es gab keine Zeit, um einen eigenen kritischen Umgang mit dem untergegangenen System finden zu können. Eine Bevormundung folgte der nächsten.
Gerade deswegen bleibt auch fraglich, ob nun ausgerechnet eine tiefere europäische Integration die Chance ist, die den Kahlschlag im Osten rückgängig machen und die Einheit verwirklichen kann, wie dies Jürgen Habermas kürzlich in einem Aufsatz für die Blätter für deutsche und internationale Politik vorschlug. Eine weitere Transformation über die Köpfe der Menschen hinweg birgt die Gefahr, im Prozess noch mehr an die Rechten zu verlieren. Denn deren Slogans eines solidarischen Patriotismus sprechen besonders diejenigen an, die angesichts des ostdeutschen Strukturbruchs einen Rückzug ins eigene soziale Leben befürworten, allerdings unter rassistischen Vorzeichen und dem Ausschluss von anderen.
Stattdessen braucht es eine Perspektive, die den Osten und seine Geschichte ernst nimmt, sowohl mit Blick auf Verlust und Brüche, als auch mit Blick auf das gemeinsam mit der ostdeutschen Geschichte verschüttete Gute. Der Staatssozialismus ist tot, aber der Kapitalismus wird uns töten. Das Ziel kann kein »humanerer Kapitalismus« sein, weil mit der Profitlogik im Herzen der Gesellschaftsform weder eine menschen- noch eine umweltfreundliche Welt zu machen ist. Aber wir als Sozialistinnen und Sozialisten sprechen uns auch nicht für ein System aus, dass die Demokratisierung der Wirtschaft gegen freiheitliche Grundrechte ausspielt. Nur ein wirklich demokratischer Sozialismus kann das Versprechen der Einheit einlösen.
Um das Versprechen einer gerechten, einer demokratischen und letztlich menschlichen Gesellschaft einzulösen, müssen wir die Ansätze und Irrwege verstehen, die uns die eigene sozialistische Geschichte liefert: Die DDR war sehr gut darin, einer großen Mehrheit der Menschen ein Gefühl von Gesellschaftlichkeit zu vermitteln und ihnen ökonomische Sicherheit zu bieten. In anderen sozialistischen Ländern wie Jugoslawien ging man sogar einen Schritt weiter und experimentierte mit einer Wirtschaftsform unter demokratischer Beteiligung der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Betrieben. In Salvador Allendes Chile wollte man mit Hilfe des computergestützten Cybersyn-Projekts eine Planwirtschaft demokratischer und effizienter gestalten. Diese Versuche mögen gescheitert sein, aber sie zeigen, dass es unter den schwierigen Bedingungen der Systemkonkurrenz durchaus Ansätze zur ökonomischen Gleichberechtigung und Beteiligung gab, die es wert sind, weiterverfolgt zu werden.
Zugleich haben wir gelernt, dass sich keine Staatsbürokratie oder politische Elite eines sozialistischen Landes verselbständigen und mit Repressalien gegen die eigenen Leute vorgehen darf. Freie Wahlen gehören genauso dazu wie die Vielfalt der Meinungen und Medien oder das Recht zu reisen, wohin man will, und zu denken, wie man will. An die Stelle einer westdeutschen Überheblichkeit, die wie selbstverständlich davon ausgeht, schon immer im »besseren, demokratischeren Land« gelebt zu haben, wäre eine kritische Überprüfung sinnvoll, die grundsätzlich fragt, in welchen Lebensbereichen es Demokratie gegeben hat. Während es im Osten zumindest in Teilen ein demokratischeres ökonomisches System gab, hatte der Westen ein ausgebildeteres System an politischen Freiheitsrechten.
Eine wirkliche »Einheit« dieser beiden Formen der Freiheit ist auch 30 Jahre später nicht erreicht. Und wir kommen ihr auch dann nicht näher, wenn sich der Osten weiter an den Westen angleicht. Die Nachahmung der kapitalistischen Produktionsweise, in der die Einzelnen zu Konsumentinnen verkommen, kann nicht der Anspruch dieser Einheit sein. Die Alternative könnte sein: Ein neu erfundener, freiheitlicher und demokratischer Sozialismus für die Menschen. Eine Vorstellung von Ost und West nicht als Angleichung oder Unterordnung, sondern als etwas Neues und Gemeinsames. Ganze 74 Prozent der Menschen im Osten stimmten 2018 der Aussage zu, dass »der Sozialismus eine gute Idee ist, die nur falsch umgesetzt wurde«. Und auch im Westen waren es immerhin noch 47 Prozent (ALLBUS). Der Staatssozialismus ist untergegangen, die Idee eines demokratischen Sozialismus nicht.
Was tut sich im Osten jenseits der Einheitsperformance? Wie können wir den Kahlschlag der letzten 30 Jahre rückgängig machen? Und welche Ansätze der sozialistischen Geschichte wurden zu Recht und zu Unrecht abgeräumt? Darum geht es in zwei Monaten in JACOBIN N°3.
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Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.