08. November 2023
Jahrzehntelang war Elfriede Jelinek die Lieblingsfeindin der Kulturkonservativen in Österreich. Eine neue Dokumentation beleuchtet das Leben der Schriftstellerin – und ihr Engagement sowohl in der Kunst als auch in der Politik.
Sie lässt die Sprache von der Leine: Elfriede Jelinek.
Wien 1995. Die rechte FPÖ lässt in der Stadt Wahlplakate aufhängen, auf denen neben einer Violine in großen Lettern die Frage steht: »Lieben Sie Scholten, Jelinek, Haupl, Peymann, Pasterk … Oder Kunst und Kultur?« Hinter dem Kulturpolitiker Rudolf Scholten steht die Schriftstellerin Elfriede Jelinek, die bei Rechten und Konservativen in Österreich bis heute zutiefst verhasst ist. Kein Wunder, denn ihr herausragendes Werk ist ein politischer wie ästhetischer Frontalangriff gegen jede rohe Bürgerlichkeit.
Über Leben und Werk der Literaturnobelpreisträgerin Jelinek erschien letztes Jahr nun die erste große Dokumentation, die seit Kurzem beim Streamingdienst von Amazon zu sehen ist. Mit Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen ist der Regisseurin Claudia Müller ein herausragendes Porträt der Schriftstellerin und ihrer Literatur gelungen. Die Dokumentation zeigt auch, welche große politische Schlagkraft Jelineks Kunst in Österreich vor allem in den 1990er Jahren hatte. Das Burgtheater, das viele von Jelineks Stücken auf die Bühne gebracht hat, war damals tatsächlich eine Bastion der politisch-ästhetischen Aufklärung in einem Land, das bis heute vom Mief des Rechtskonservatismus dominiert wird.
Jelineks Werk ist kaum zu überblicken, es umfasst elf Romane, 39 Theaterstücke, zahlreiche Essays, Übersetzungen, Hörspiele, Lyrik. Müllers Dokumentation ist auch deswegen so sehenswert, weil sie die Texte aus diesem Werk neu zum Leben erweckt – viele wurden für die Doku neu eingesprochen. In einer besonders großartigen Archivaufnahme sehen wir die Autorin selbst, die in einer Gondel vor einem österreichischen Gletscher entlang schwebt und ihre eigenen Worte rezitiert: »Das ist eine schöne Landschaft. Schönere Landschaften können aus ihrer Schönheit eher Profit schlagen, als weniger schöne. Diese schöne Landschaft hat es rechtzeitig erkannt und einen Wohlstand errungen.« Jelineks präzise Sprache seziert die gesellschaftlichen Umstände, aus der sie stammt.
Durch großartige Archivmaterialien bietet die Dokumentation interessante Einblicke in Jelineks Biografie. Jelinek rebellierte als junge Frau auf ganz eigene Art: Sie schrieb. 1970 veröffentlichte sie den Roman wir sind lockvögel baby, der ihr größere Aufmerksamkeit sicherte und an die ästhetischen Avantgarden der Wiener Gruppe anschloss. Nach ihren Bohème-Jahren im Umfeld der 68er-Bewegung trat sie 1974 der KPÖ bei, für die sie sich im Wahlkampf und auf Kulturveranstaltungen engagierte. Jelinek griff seitdem mit ihren Texten und als Künstlerin immer wieder in die österreichische Öffentlichkeit ein.
In ihrem Stück Rechnitz (Der Würgeengel), thematisiert sie das Massaker an zweihundert Zwangsarbeitenden in der Nähe des Schlosses Rechnitz im Burgenland, das 1945 im Laufe einer Feier von NS-Eliten vollstreckt wurde. Die Dokumentation montiert den beißenden Text Jelineks über Bildaufnahmen aus dem heutigen Rechnitz und fügt dabei Interviewausschnitte mit Menschen aus der Region hinzu. Dabei wird deutlich, dass Jelineks Stück vor allem das brutale Schweigen störte, das sich in Österreich nach dem Krieg über diesen Massenmord und die eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus legte.
»Besonders großartig ist der Theatertext rein GOLD, der an Richard Wagners Oper Das Rheingold anknüpft und diese mit der Sprache von Marx’ Kapital zu einem flirrenden Bühnenessay remixt.«
Nicht nur provozierte Jelinek mit ihrer Kunst immer wieder eine Auseinandersetzung mit der Nazizeit, sie trat auch als kompromisslose feministische Kritikerin der patriarchalen Alltagskultur auf. Ihre Texte gingen dabei bis ans Äußerste: »Er spaltet ihr den Schädel über seinem Schwanz, verschwindet in ihr und zwickt sie als Hilfslieferung noch fest in den Hintern«, heißt es etwa in Lust. Jelinek spiegelt in ihren hochgradig durchgearbeiteten Sätzen die Brutalität der gesellschaftlichen Verhältnisse. »Ich zeige meine Figuren nicht als Handelnde, sondern als den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Ausgelieferte«, sagte sie in einem Interviewausschnitt, den die Doku zeigt.
Jelineks politisches Engagement und ihre ästhetische Kompromisslosigkeit machten sie zum idealen Feindbild der Konservativen und Rechten, aber auch der Sozialdemokratie, die ab 1995 einen aggressiven Kulturkampf gegen sie führten. Der rechte Politiker Jörg Haider etwa glaubte, Jelinek sei nur berühmt, weil sie »immer wieder gegen Österreich gewettert« habe. Nach zunehmenden Angriffen auf ihre Person zog sie sich aus der Öffentlichkeit zurück. Auch dieses persönliche Leiden und die Verletzungen, die der Kulturkampf gegen sie hinterließ, sind Gegenstand von Müllers Dokumentation.
Es war erst die Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2004, die ihr und ihrem Werk endlich die gebührende Anerkennung erwies. Das Nobelpreiskomitee prämierte Jelineks Werk »für den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen«. Ihr Werk wird mittlerweile auf der ganzen Welt gelesen, die literaturwissenschaftliche Forschung zu ihren Texten füllt Regale, die Theater sind voll, wenn ihre Stücke laufen.
Claudia Müllers Doku zeigt aber auch, welche Macht politisches Theater haben kann, wenn es sich mit der herrschenden Ideologie anlegt und gleichzeitig das volle Potenzial der Literatur ausschöpft. Die Sprache von der Leine lassen dürfte zudem auch einen idealen Einstieg für alle bieten, die noch nichts von Jelinek gelesen haben oder noch kein Stück von ihr sehen konnten. Neben den schon erwähnten Texten kann man in ihrem Spätwerk auch eine furiose ästhetische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus finden.
Besonders großartig ist der Theatertext rein GOLD, der an Richard Wagners Oper Das Rheingold anknüpft und diese mit der Sprache von Marx’ Kapital zu einem flirrenden Bühnenessay remixt. Vor allem aber ihr berühmtes Werk Die Klavierspielerin dürfte eine gute Einstiegslektüre sein, formuliert der Roman doch eine beißende Gesellschaftskritik des konservativen Bürgertums und setzt sprachlich ganz eigene Maßstäbe. Österreich, das zeigt Müllers Dokumentation, hat versucht, seine große Schriftstellerin Elfriede Jelinek zum Schweigen zu bringen, aber ihre Kunst ist lebendig wie nie. Wir sollten sie wieder und wieder lesen und in jede Theateraufführung strömen, die mit ihrem Namen überschrieben ist.
Matthias Ubl ist Contributing Editor bei Jacobin.