24. Juni 2021
Gert Prokop zählte zu den beliebtesten Sci-Fi-Autoren der DDR. Heute ist sein Werk weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei ist seine dystopische Vision des Spätkapitalismus erschreckend aktuell.
Prokops düstere Vision der USA wirkt zwischen Transhumanismus und Öko-Krise beinahe prophetisch. (Symbolbild)
Science Fiction aus der DDR ist zweifelsfrei nerdig. Während im Westen die Raumpatrouille Orion und das Raumschiff Enterprise ferne Welten entdeckten, Star Wars die Kino- und Merchandise-Kassen klingeln ließ, Mad Max und der Terminator Zukunftsängste personifizierten und Perry Rhodan die Bahnhofsbuchhandlungen füllte, träumte man im Osten von der kommunistischen Zukunft. Könnte man meinen.
Doch ganz so monoton war es in der ostdeutschen Phantastik dann doch nicht. Ziemlich genau 500 Science-Fiction-Bücher erschienen insgesamt in der DDR, knapp die Hälfte stammte von eigenen Autorinnen und Autoren. Die Leserschaft war überwiegend männlich und jung. Viele der Geschichten waren unterhaltsam geschrieben, manchmal sogar spannend und ab den 1970er Jahren auch witzig. Obwohl die Auflagen teils sechsstellige Höhen erreichten, blieb das Genre, das bis in die 1980er Jahre »Phantastische Literatur« genannt wurde, kulturelles Randgebiet.
Wobei auch hier eine Entwicklung stattfand: Während bis Anfang der 1970er Jahre vor allem jugendliche Nerds für Science Fiction schwärmten, wurde sie danach zunehmend auch für etablierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller interessant. Intellektuelle wie Christa Wolf, Anna Seghers oder Franz Fühmann schrieben plötzlich Sci-Fi-Geschichten. Das lag wohl vor allem daran, dass man Gesellschaftskritik besser in fremden Welten verhandeln konnte als im Kontext der realen DDR. Während noch in den 1950er und 60er Jahren die kommunistische Entdeckung sowie Eroberung des Kosmos im Fokus stand, erweiterte sich das Themenfeld schon bald um gesamtgesellschaftliche Fragen – auch kritischer Art.
Einer der erfolgreichsten Autoren von DDR-Science-Fiction war Gert Prokop. Kurz vor Ende der DDR führte der Science-Fiction-Fanclub »Andymon« aus Ost-Berlin eine Umfrage zu den beliebtesten Publikationen durch. Auf Platz eins landete Prokop mit dem 1977 erschienenen Buch Wer stiehlt schon Unterschenkel?. Die Fortsetzung Der Samenbankraub aus dem Jahr 1983 schaffte es auf Platz drei. Nicht nur die Mitglieder des Fanclubs setzten Prokops Bücher an die Spitze der DDR-Science-Fiction, der Erfolg der beiden Publikationen zeigt sich auch in deren hohen Auflagen, einer gekürzten bundesdeutschen Ausgabe, die 1981 im Heyne Verlag erschien, mehreren Neuausgaben nach 1990 und zahlreichen wohlwollende Rezensionen. Dennoch sind sie heutzutage – von Sci-Fi-Liebhabern abgesehen – kaum jemandem bekannt.
Das ist an sich nicht ungewöhnlich, denn ein Großteil der deutschsprachigen Science Fiction wird eher von Fans rezipiert als vom Feuilleton. Dabei taugt so mancher Titel als gesellschaftsanalytischer Seismograf. Wie die verwandten Utopien greifen auch Science-Fiction-Bücher reale Geschehnisse auf und entwickeln daraus fiktive Szenarien, die uns etwas über die Entstehungszeit und den gesellschaftlichen Kontext der Autoren erzählen. In den Büchern aus der DDR finden sich so zwischen den Zeilen auch Bezüge zum realen Sozialismus – und in Prokops Fall dem Kapitalismus.
Prokop wurde 1932 geboren, fing 1950 ein Kunststudium in Berlin-Weißensee an, entschied sich aber nach zwei Semestern für eine Laufbahn als Journalist. Ab 1967 arbeitete er an Dokumentarfilmen mit und wurde nebenher als Autor von Krimis bekannt.
Um 1970 begann Prokop, Science Fiction zu schreiben. Für einen Literaturwettbewerb legte er seine ersten drei dystopischen Kurzkrimis vor – mit Erfolg. Sie erzählen in aufeinander aufbauenden Kurzgeschichten von den Ermittlungen des kleinwüchsigen Privatdetektivs Timothy »Tiny« Truckle. Nach und nach führt Prokop die Leser so in seine Zukunftswelt. Dabei eröffnen sich unterschiedliche Abgründe der spätkapitalistischen USA (bei Prokop STAATEN genannt) am Ende des 21. Jahrhunderts, die von einer eng verflochtenen politischen sowie wirtschaftlichen Elite beherrscht werden. Diese Clans stehen mitunter in blutiger Konkurrenz zueinander. Andererseits halten sie als Klasse zusammen. Der Kapitalismus ist ins Endstadium des Klassenkampfes eingetreten.
»Der Mensch ist zur Ware geworden, die schnell und ohne Rücksicht für die Wirtschaft verschlissen wird.«
Einer Masse von Verarmten und Subalternen steht eine kleine Elite von Kapitaleignern entgegen, die direkt und unmittelbar Einfluss auf Legislative, Exekutive und Judikative nimmt: Gesetze werden im Sinne der Konzerne beschlossen, Ethik wird den Interessen der Wirtschaft unterstellt, Polizei und Geheimdienste vertreten den Willen der Trusts, an deren Spitze Prokop die »Bigbosse« platziert. Jedoch sind diese, wie im Kapitalismus üblich, nicht die unmittelbaren Eigentümer: »Die meisten Bigbosse besitzen nur einen symbolischen Anteil an ihren Firmen … und in Wirklichkeit ist es uninteressant, wem ein Unternehmen gehört, entscheidend ist, wer darüber verfügt.« Damit sind die Bosse auch nur Angestellte ihrer Aktionäre. Sie sind somit nicht verantwortlich und austauschbar. Stirbt einer von ihnen, rückt der nächste nach.
Arbeitsrechte und Gewerkschaften gibt es nicht. Im Gegenteil, rücksichtslose Ausbeutung bestimmt den Alltag, wer aufmuckt wird bestraft. Auch Sklavenarbeit ist üblich. So sind Sträflinge rechtlose Zwangsarbeiter und müssen etwa als Versuchskaninchen für die Pharmaindustrie herhalten. Der Mensch ist zur Ware geworden, die schnell und ohne Rücksicht für die Wirtschaft verschlissen wird. Der Unterschied zum Frühkapitalismus besteht darin, dass in der Produktion neueste Computertechnologie eingesetzt wird – aber nicht, um die Arbeit zu erleichtern. Stattdessen dient sie dazu, die Arbeitskraft zu steigern, etwa durch implantierte Schrittmacher oder Totalüberwachung.
Die Technik in dieser Welt ist generell sehr weit entwickelt. So hat Truckle einen leistungsstarken PC namens »Napoleon« der wie ein Mensch denken und reden kann. Er erinnert an eine gutmütige Version von HAL 9000 aus Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey. Um digitale Unsterblichkeit zu erlangen, wird an der Übertragung menschlicher Hirne und Seelen auf Datenträger geforscht: »Der Mensch muss nicht mehr mit seiner sterblichen Hülle ins Nichts versinken. Er kann sein Ureigenstes, seine Individualität weitergeben. An einen Automaten, eine Maschine, gewiß, aber wer weiß – wir stehen erst am Beginn einer neuen Epoche, die mit dieser Entdeckung eingeleitet wird –, vielleicht wird man einmal das kurze biologische Leben als ein, wie es die Religionen nannten, Durchgangsstadium zur Unsterblichkeit betrachten.« Heutige Transhumanisten wie Ray Kurzweil klingen ganz ähnlich.
Wer reich ist und es sich leisten kann, versucht sein Leben durch medizinische Mittel maximal zu verlängern. So sind in Prokops Geschichten viele der Bigbosse um die 150 Jahre alt. Die Masse der Bevölkerung kann sich hingegen weder eine medizinische Versorgung, noch gesundes Essen, sauberes Wasser, frische Luft oder Sonnenlicht leisten.
Auch außerhalb der großen Städte ist die Umwelt vielerorts zerstört und verseucht. Konventionelle Landwirtschaft gibt es dadurch kaum noch. Deshalb werden die Nahrungsmittel für die Masse synthetisch hergestellt. Echter Kaffee oder richtige Kartoffeln gelten als Luxus, ebenso heutige Gemeingüter wie Wasser, saubere Luft oder Sonnenlicht. Chicago ist ein finsterer Moloch. Der Smog ist so dicht, dass in den Bereich der unteren Stockwerke kein Sonnenlicht durchdringt. Fußgängerzonen und der Lebensbereich der Menschen sind ohne frische Luft. Wer es sich leisten kann, lebt in den oberen Stockwerken der »Skypscraper«, die über die Wolken reichen. Viele Menschen leben jedoch als Ausgestoßene in rechtlosen Armenvierteln, wo sie teilweise zum Abschuss aus der Luft freigegeben sind.
Reales Reisen ist zwar nicht verboten, faktisch jedoch nahezu unmöglich, da es keine Urlaubstage gibt und außerdem auch kaum Gegenden, die nicht verseucht sind. Verreist wird bestenfalls via Virtual Reality. Die Corona-Quarantäne und die Verlagerung ins Homeoffice lassen Truckles Kritik sehr greifbar werden: »Man hockt in seinen vier Wänden, braucht sich überhaupt nicht mehr vom Fleck zu rühren: Geschäfte und Einkauf, Börse und Arbeitsmarkt, schon ein Großteil der Arbeit selbst, Informationen, Bildung, Entspannung, alles via Bildschirm, sogar Sex und Partnervermittlung. Irgendwann hört man auf, die anderen wenigstens noch per Communicator zu besuchen, und lebt mit den Welten, die die Videowände so bereitwillig ins Haus senden.« Theater und Kino wurden durch Fernsehen und Video verdrängt. Vereinzelung ist die Konsequenz.
Das zeigt sich auch in Bezug auf Liebe und Sexualität. Hier findet sich der in kapitalistischen Gesellschaften bestehende Widerspruch zwischen kleinbürgerlicher Prüderie und einer kommerziellen Hypersexualisierung der Gesellschaft. Auch die Fortpflanzung wird staatlich reguliert. So dürfen sich die Leute zwar paaren. Doch wer ein Kind bekommen darf, wird über staatliche Lizenzen geregelt. Und diese sind rar. Um das durchzusetzen, werden allen Getränken Fruchtbarkeitsblocker beigemischt, um Schwangerschaften ohne Lizenz zu unterbinden. Wer das Glück hat, eine solche zu erhalten, bekommt ein Gegenmittel und kann nach dessen Einnahme schwanger werden.
Doch damit ist noch nicht gesichert, dass man das Kind behalten darf: Wird eine Frau schwanger und das Kind weicht über 10 Prozent von der »Norm« ab, so wird es »annuliert«. Gesetzlich geregelt ist die Fortpflanzung in der »Baby-Bill«, dem »Gesetz zum Schutz der genetischen ›Volksgesundheit‹«. Durchgesetzt wurde dieses 2017 von rechtsradikalen Eugenikern. Laut deren Meinung würden sich ohne das Gesetz und seine staatliche Umsetzung »die ›genetisch Minderwertigen‹ – wozu auch die nicht weißen Bevölkerungsanteile gezählt werden – unverhältnismäßig stark fortpflanzen und die ›gesunden Amerikaner‹ völlig verdrängen«. Vor dem Hintergrund der ethnischen Konflikte in den heutigen USA wirkt auch dies leider nicht völlig fiktiv, zumal in der Realität anno 2017 solche Kräfte gar nicht so weit weg von der realen Macht waren.
Neben dieser eugenischen und rassistischen Auslese natürlicher Geburten wird mit der Klonung von Kindern experimentiert, die entweder als Arbeitssklaven oder als biologisches Ersatzteillager für die Elite herangezüchtet werden. Es wird mit menschlichem Genmaterial geforscht, ethische Grenzen gibt es nicht. Was sich verwerten lässt, wird untersucht und manipuliert, alles »Lebensunwerte« hingegen wird »annulliert«. Für die Masse der Bevölkerung sind aber weder Transplantationen, noch Transhumanismus oder Medizin erschwinglich. Selbst das Sterben wird gesetzlich in Wert gesetzt und reguliert.
Gleiches gilt für Kunst und Kultur, die gänzlich den Marktmechanismen ausgesetzt sind – abgesehen von den verbotenen Büchern und Landkarten. Die perfektionierte Kulturindustrie dient als Herrschaftsinstrument. Nur noch wenige Leute spielen Musik mit echten Instrumenten. Üblich sind »Kompositionsautomaten«, die per Algorithmus wohlklingende aber auch entsprechend seichte Musik für die Massen erzeugen.
Die Medien sind monopolistisch gleichgeschaltet und in der Hand einiger weniger Akteure. Prokop skizzierte schon vor vierzig Jahren eine digitale Mediennutzung, die unserer heutigen Realität sehr nahe kommt: In der Wohnung des Detektivs befinden sich ein »Musikspeicher«, der über eine Tastatur gesteuert wird und Musikwünsche spielt, sowie ein »Videoschirm«, der gewünschte Filme zeigt und für Videotelefonate genutzt wird. Das Fernsehen existiert in Prokops Vision der USA Ende des 21. Jahrhunderts noch und ist das zentrale Medium zur Ablenkung, Unterhaltung und Manipulation der Bevölkerung. Was ausgestrahlt wird, trägt propagandistischen Charakter. Live-Ereignisse werden zeitversetzt übertragen, um sie im Falle eines unerwarteten Zwischenfalls zensieren zu können.
Durchgesetzt wird die Zensur durch einen Orwell’schen Repressionsapparat, in dessen Folter-Mühlen Truckle mehrfach gerät. Nur mit Hilfe seiner reichen Gönner und seiner guten Kontakten zur kommunistischen Untergrundopposition gelingt es ihm, zu entkommen. Der Geheimdienst NSA ahnt, dass Truckle mit der Opposition kooperiert. Zwar nutzt der Detektiv das Wissen der Systemgegner für seine Arbeit, vor allem aber sympathisiert er zunehmend mit ihnen.
Datenschutz für den Einzelnen gibt es gemäß des »Freedom of Information Act« nicht. Während dieser ursprünglich aufgesetzt wurde, um Bürgerinnen und Bürgern Einsicht in über sie angelegte Akten zu gewähren, erreichte eine Gesetzesänderung das Gegenteil, nämlich »daß jeder Bürger jederzeit zur Herausgabe aller Informationen an die Staatsorgane gezwungen werden kann«. Zum Abhören der Bevölkerung werden drahtlose Kommunikationswege genutzt, die an Handy und WLAN erinneren.
»Die Elite hofft auf den Tag X, an dem sie den Rest der Welt wieder attackieren kann.«
Prokop schreibt nur sehr wenig über die Geschichte der Teilung. Die STAATEN sind vom Rest der Welt durch die undurchdringliche ISOLATION getrennt. Diese wurde von der »alten Welt«, also von Außen errichtet und erinnert an eine Käseglocke. Die Menschen darunter, inklusive der Elite, wissen nur wenig über das Leben, dass sich draußen abspielt. Normalsterblichen ist es auch nicht erlaubt, bis zur ISOLATION vorzudringen. »Die Deathline, der Todesstreifen, der sich fünfzig Kilometer vor der Grenze rund um das Land zog und mit seinen Spürsystemen, Peilminen und Strahlenwerfern als unüberwindlich galt und die STAATEN auch ohne die ISOLATION in ein großes Gefängnis verwandelte«. Die Herrschenden hingegen behaupten, dass sie der letzte Hort der »Freiheit« auf Erden seien. Der propagandistische Anspruch, diese zu verteidigen, obwohl das Leben andernorts sichtbar besser und freier sein wird, ist die oberste Maßgabe der Bourgeoisie in Prokops dystopischer Zukunft. Die Elite hofft auf den Tag X, an dem sie den Rest der Welt wieder attackieren kann.
Der Underground hingegen kämpft gegen die Oberschicht und ihr faschistisches System. Ob dies gelingt, bleibt offen. Im Unterschied zu allzu optimistischen kommunistischen Utopien der frühen DDR denkt Prokop das Scheitern der sozialistischen Illusionen mit. Auch das Problem des Ressourcenverbrauchs wird thematisiert und die Erwartung auf einen Luxus-Sozialismus herausgefordert.
Im Gespräch mit einem Untergrund-Partisanen bekommt der Detektiv Folgendes zu hören: »Jedem nach seinen Bedürfnissen? Nimm doch mal deine als Maßstab, stell dir das nur mal vor: Camembert und Moselwein, Whisky und Lammbraten, Austern und Erdbeeren – für zwölf Milliarden! Zwölf Milliarden Urlaubsplätze – natürlich in ruhiger Abgeschiedenheit, zwölf Milliarden Luxusappartements mit Communicatoren, Videowänden und Klimaanlagen, mit Schallschutz und Superbad, Dressomat und einer Küche wie der deinen –, denk nur mal an die ungeheure Energie, die du für dich allein verbrauchst, und multipliziere mit zwölf Milliarden.«
Wenn auch diese Verheißungen der alten Arbeiterbewegung (zu der auch die SED ideologisch gerechnet werden kann) aus ökologischer Notwendigkeit getrübt werden, bleibt Prokop den sozialistischen Zielen verpflichtet. Denn auch ohne Luxus geht es um »eine neue, wahrhaft menschliche Moral, Sittlichkeit […] Achtung und Ehrfurcht vor jedem Menschen, Toleranz, Ehrlichkeit und Offenheit, Gleichheit und Wahrhaftigkeit.« Prokop erweist sich hier als kosmopolitischer Humanist.
Er war kein Oppositioneller und kritisierte deshalb nicht offen die Missstände in der DDR. Auch forderte Prokop weder öffentlich Reformen noch einen menschlicheren Sozialismus. Allerdings findet sich bei ihm einiges, das sich als indirekte Kritik interpretieren lässt, die von darauf geschulten DDR-Lesern sicherlich auch als solche rezipiert worden ist. Es lassen sich an mehreren Stellen gekonnt eingesetzte zeitkritische Momente ausmachen. Man kann eine Widerrede gegen die Methoden der DDR-Staatssicherheit, das Grenzregime der DDR, fehlende Reisefreiheit oder das Verbot bestimmter Literatur herauslesen. Da Prokop jedoch die Handlung in die USA der Zukunft verlegt und im »Endstadium des Imperialismus« (Lenin) spielen lässt, konnte die Zensur nur schlecht etwas dagegen einwenden, ohne über Repression diskutieren zu müssen.
Wenn Truckle etwa die mangelnde Reisefreiheit in den eingemauerten STAATEN kritisiert, wird er recht deutlich: »In die wirkliche Südsee. Oder eine Reise rund um den Erdball; Stellen aus Büchern fielen ihm ein, die immer wiederkehrenden Hochzeitsreisen nach Venedig, nach Paris – wie beneidenswert einst Menschen gelebt hatten. Und jetzt die da DRAUSSEN. Er würde nie die Schönheiten dieses Planeten zu sehen bekommen. Welch eine Verarmung des Lebens. Es lohnte nicht einmal, davon zu träumen, er war unbarmherzig eingesperrt.« Andererseits war und ist die DDR nicht das einzige Land, dass seiner Bevölkerung Reisebeschränkungen auferlegt. So lässt sich diese Passage auch als universell-humanistisches Wunschbild kosmopolitischer Freiheit lesen.
An anderer Stelle wird am Beispiel der Idealen des Urchristentums und den Verbrechen der Kirche kritisiert, wie Befreiungsideale bei ihrer Umsetzung in die Realität ihre Dynamik verlieren können – und schlimmstenfalls ins Gegenteil umschlagen. Den Verlust der Ideale von Marx und Engels nach der Russischen Revolution und im Zuge der Entwicklung des Realsozialismus zu ergründen, ist ein zentraler Ansatz linker Oppositioneller gewesen. Besonders deutlich formulierte das etwa Rudolf Bahro in seiner Analyse Die Alternative von 1977. Auch Zensur, mangelnde Pressefreiheit und Sprechverbote oder Orwell’sches »Neusprech« lassen sich in der DDR finden, allerdings auch in anderen autoritären Systemen.
Die Kritik am Kapitalismus ist hingegen in Prokops Bestsellern mehr als offensichtlich. Ob das alle Leserinnen und Leser in der DDR so wahrgenommen haben, ob sich eher von der Geschichte haben mitreißen lassen oder ob ihnen die Beschreibung westlichen Konsums gar reizvoll erschien, lässt sich nicht eindeutig sagen. In Gesprächen mit damaligen Prokop-Lesern kommen all diese Motive zur Sprache.
Wer stiehlt schon Unterschenkel? und Der Samenbankraub haben den Test der Zeit bestanden. Ob das wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt, denn einige der dystopischen Ideen und Szenarien sind real oder zumindest möglich geworden. Mit dem Kalten Krieg endete auch die Systemkonkurrenz, und der Kapitalismus verlor seine Fesseln. Errungenschaften sozialer Kämpfe wurden kassiert, die Hegemonie kapitalistischen Denkens und Handelns bestimmt die globale Ökonomie und mit ihr auch die Ebene des gesellschaftlichen Überbaus.
Gert Prokop ist 1994 gestorben und hat das letzte Vierteljahrhundert nicht miterlebt. Vieles, was in seinem dystopischen Endzeitkapitalismus möglich ist, bleibt uns im westlichen real existierenden Kapitalismus bisher noch erspart, in anderen Ecken der Welt findet es jedoch Tag für Tag statt. Die demokratischen und rechtlichen Errungenschaften Westeuropas sind keine Selbstverständlichkeit und müssen stets aufs Neue gegen Rechts verteidigt werden – das zeigt uns Prokops Dystopie in ganzer Deutlichkeit. Denn bei aller Skurrilität und teilweisen historischen Überkommenheit warnt sie uns davor, wie faschistoid ein deregulierter Kapitalismus aussehen könnte.
Alexander Amberger, geboren 1978 in der DDR, ist Politikwissenschaftler, forscht zu ökologischen Utopien und zur Ideengeschichte der DDR. Er arbeitet seit vielen Jahren in der Politischen Bildung beim Berliner Verein Helle Panke.