16. August 2022
113 Milliarden Euro – so viel verdienen Energiekonzerne in Deutschland allein dieses Jahr zusätzlich an der Notlage. Dabei wäre eine Besteuerung ihrer Übergewinne problemlos möglich, wie eine neue Studie zeigt.
Kohlekraftwerk Niederaussem
»Keine amtlichen Erkenntnisse«, so beschrieb Christian Lindner im Frühsommer die Datenlage zu Übergewinnen im deutschen Energiesektor. Doch seitdem weisen zahlreiche Indikatoren darauf hin, dass die Gewinne bei vielen Energiekonzernen sprudeln – und zwar ohne Ende. Für ausländische Unternehmen von Shell bis Saudi Aramco gilt dies genauso wie für deutsche Firmen von RWE bis Wintershall. In einer neuen Studie bringen Christoph Trautvetter und David Kern-Fehrenbach vom Netzwerk Steuergerechtigkeit mehr Licht ins Dunkel und zeigen auf, wo die wirklichen Profiteure der Energiekrise sitzen und wie viel sie an ihr verdienen.
Die Zahlen sind an Brisanz kaum zu übertreffen: Rund 113 Milliarden Euro Übergewinne werden dieses Jahr in der deutschen Energiebranche erwirtschaftet werden, so ihre Berechnung, was fast einem Viertel des gesamten Bundeshaushalts entsprechen würde. Diese teilen sich auf die unterschiedlichen Sektoren wie folgt auf: 38 Milliarden Euro Übergewinne bei Ölkonzernen, 25 Milliarden bei Gaskonzernen und 50 Milliarden im Stromsektor. Vor allem Letzteres dürfte überraschen. Der Grund hierfür ist, dass der Strommarkt nach dem sogenannten Merit-Order-Prinzip funktioniert. Das bedeutet, dass das teuerste Kraftwerk den Preis für alle Marktteilnehmer bestimmt. Und da nun einmal die Preise für Erdgas stark gestiegen sind, können auch die Betreiber von Wind-, Kohle oder Atomkraftwerken mehr verlangen.
Die Kehrseite dieser gigantischen Übergewinne sind die sozialen Härten, die die Ampel viel zu wenig abfängt – und mit der Gasumlage sogar noch verstärkt. Doch damit nicht genug: Auch Unternehmen anderer Branchen ächzen unter den Profiten der Energiegiganten. Wenn sie höhere Kosten haben, erhöhen sie in aller Regel die Preise. Die Preissteigerungen bei Energie setzen sich also in anderen Bereichen der Wirtschaft fort. Zwar ließe sich dies durch die Übergewinnsteuer nicht direkt bekämpfen, trotzdem hat sie gegenüber anderen Maßnahmen einen entscheidenden Vorteil: Die bisherigen Übergewinne dieses Jahres könnten noch besteuert werden. Gegen diese bereits angefallenen Übergewinne können weder die Entflechtung der Energiekonzerne noch eine Normalisierung der Energiepreise etwas ausrichten.
Schließlich verpuffen die Gewinne ja nicht bei den Firmen. Zum einen ermöglichen sie den Unternehmen höhere Ausschüttungen oder den Rückkauf von Aktien. In beiden Fällen profitieren die Eigentümer. Auch haben Energieunternehmen durch ihre derzeitigen Übergewinne einen enormen Wettbewerbsvorteil. Oft sind sie nicht nur in einer Branche aktiv und können die exorbitanten Mehreinnahmen nutzen, um in anderen Geschäftsbereichen Marktanteile zu erobern. Die Übergewinne von heute führen also auch zu einem Anstieg der »normalen« Gewinne in der Zukunft.
Die Experten vom Netzwerk Steuergerechtigkeit zeigen nicht nur die enorme Konzentration von Profiten im Energiesektor auf, sie widmen sich auch der Ausgestaltung einer möglichen Steuer auf Übergewinne. Zum einen legen sie in ihrer Studie dar, welche Übergewinnsteuern in Europa derzeit gelten. Diese unterscheiden sich nämlich teilweise fundamental: Welche Branchen werden besteuert? Wie werden Übergewinne definiert? Wie hoch werden sie besteuert? Wie lange wird die Steuer erhoben? Alle diese Faktoren beeinflussen sich gegenseitig. Es gibt durchaus unterschiedliche sinnvolle Ausgestaltungsmöglichkeiten.
Darüber hinaus räumen Trautvetter und Kern-Fehrenbach etliche Mythen aus dem Weg, die vor allem von Finanzminister Lindner gestreut werden. Der wohl bekannteste betrifft die Verfassungsmäßigkeit des Vorhabens. Hier sind viele Detailfragen zu klären. Aber die Mythenbildung allein verhindert schon die Debatte darüber. Über die Verfassungsmäßigkeit einer Steuer kann formal ohnehin erst im Nachgang entschieden werden. Bei der konkreten Ausgestaltung müssen natürlich etliche Rahmenbedingungen beachtet werden – wie das Rückwirkungsverbot, das Erdrosselungsverbot oder das Verbot der Ungleichbehandlung. Mittlerweile ist aber klar, dass all das möglich ist – indem nur das aktuelle Kalenderjahr besteuert wird, die Steuer keine 100 Prozent beträgt und die Ungleichbehandlung hinreichend begründet wird. So befand es zuletzt auch der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags.
Gegnerinnen der Steuer haben mitunter sogar die Existenz von Übergewinnen grundsätzlich angezweifelt. Die Studie des Netzwerk Steuergerechtigkeit geht sowohl auf die unterschiedlichen möglichen Definitionen als auch die alternativen Ausgestaltungen einer Steuer und deren Aufkommen ein. Man muss sich hier durchaus die Frage stellen, ob Lindner mit Absicht Verwirrung stiftet, um Krisenprofiteure zu schützen.
So hat Lindner bei seinem »wissenschaftlichen Beirat« im Bundesfinanzministerium ein Gutachten zu den ökonomischen Aspekten einer möglichen Übergewinnsteuer in Auftrag gegeben. Dieser Beirat ist natürlich mit dem ökonomischen Mainstream besetzt und bestätigt Lindners Mythen – es drohe ein Verlust des Vertrauens in das deutsche Steuersystem. Doch dieses Argument steht auf sehr wackeligen Beinen. Die Studie des Netzwerk Steuergerechtigkeit kommt hingegen zu dem Fazit, dass die Übergewinnsteuer in Krisenzeiten nötig sei, um das Vertrauen der Bürger in das Steuersystem und das politische System aufrechtzuerhalten.
Auch die Sorge, dass die Übergewinnsteuer einfach auf die Preise umgelegt werden könnte, wurde immer wieder als Kritikpunkt vorgebracht. Am Ende zahlten sowieso die Verbraucherinnen. Ganz ausschließen lässt sich dies nicht, allerdings dürfte sich dieser Effekt bei einer rückwirkenden und einmaligen Besteuerung in Grenzen halten. Sollte das Aufkommen zur Entlastung der Haushalte verwendet oder gleichzeitig ein Energiepreisdeckel eingeführt werden, dürfte die Belastung für die Verbraucher marginal sein.
Bei einer angemessenen Ausgestaltung überwiegt der Nutzen einer Übergewinnsteuer die ökonomischen und administrativen Kosten, so die Autoren der Studie. Angesichts der Verweigerung weiterer Schulden durch den Finanzminister – in diesem oder im kommenden Jahr – könnte durch die Übergewinnsteuer erheblicher Spielraum gewonnen werden. Es geht immerhin um dutzende Milliarden Euro.
Die Autoren stellen fest: »Eine Übergewinnsteuer ist rechtlich machbar, ökonomisch denkbar und politisch möglicherweise sogar nötig.« Sie empfehlen ganz konkret die kurzfristige Einführung einer Übergewinnsteuer für Mineralölkonzerne und Stromproduzenten – wie sie etliche europäische Nachbarländer bereits vollzogen haben. Mittelfristig unterstützen sie den Vorschlag, dass im Rahmen der OECD-Mindestbesteuerung eine dritte Säule (neben der Mindeststeuer und den Verteilungsrechten) geschaffen wird, die Übergewinne dauerhaft steuerpflichtig macht.
Jetzt liegt der Ball wieder bei der Politik. Viele Mythen zur Übergewinnsteuer sind durch die Studie ausgeräumt. Mittlerweile unterstützen sogar die Parteiführungen von Grünen und Sozialdemokraten das Vorhaben. Ihre Fraktionen lehnten aber bereits im Juni einen Antrag ab, der die Bundesregierung zur Vorlage eines Gesetzentwurfs auffordert. Dieser Antrag wird im September erneut im Bundestag debattiert. Dort haben sie nun nochmals die Chance, diesen Fehler zu korrigieren und den Gelbstich aus dem Rot und dem Grün herauszuwaschen. Es wäre allerhöchste Zeit: Denn wenn das Jahr erst einmal vorbei ist, kommt man an die Übergewinne nicht mehr heran. Dann müsste man das Vermögen der Profiteure im Nachgang besteuern – eigentlich auch keine schlechte Idee.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.