01. Juni 2024
Christian Lindner will »nicht mehr jeden Radweg in Peru« finanzieren und markiert damit einen neuen Tiefpunkt der entwicklungspolitischen Debatte. Die Wahrheit ist: Die reichen Länder blockieren Schritte, die Entwicklungshilfe langfristig überflüssig machen würden.
Ein Radweg in Peru.
Die Entwicklungshilfe steht derzeit im Kreuzfeuer der Kürzungsdebatte. Bundesfinanzminister Christian Lindner sieht erhebliches Sparpotenzial. Man könne nicht mehr »jeden Radweg in Peru« finanzieren. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze wehrt sich gegen Kürzungen in ihrem Ressort, Deutschland profitiere von Weltoffenheit und Exporten. Entwicklungshilfe sei kein »nice-to-have«, sondern essenziell.
Die Debatte offenbart das fragwürdige Diskursniveau der Entwicklungspolitik. Auf der einen Seite dienen Einzelbeispiele mit Kleinstbeträgen als »Beweis« für die allgemeine Verschwendung von Entwicklungsgeldern. Auf der anderen Seite muss die Exportrelevanz als Gegenargument herhalten, wenngleich der Exporteffekt der Entwicklungshilfe bei Null liegen dürfte. Der Löwenanteil (70 Prozent) der deutschen Exporte geht in die entwickelten Staaten, weitere 7 Prozent nach China, wo die »klassische« Entwicklungshilfe 2009 beendet wurde, und weitere 13 Prozent in die Schwellenländer Osteuropas. Zudem sollte man bedenken, dass der Sinn von Entwicklungshilfe nicht darin bestehen sollte, dass am Ende deutsche Produkte gekauft werden.
Die Bewertung des Umfangs und der Angemessenheit der Entwicklungshilfe braucht andere Kriterien. Es gibt internationale Vereinbarungen, an die sich jedes Land zu halten hat, wenn es auf globaler Ebene glaubwürdig seine Interessen vertreten möchte. Als Untergrenze für die Entwicklungshilfe gilt ein Mindestbeitrag von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE). Dieses Ziel haben sich die reichen Industriestaaten im Jahr 1970 gesetzt. Mindestens einmal erreicht wurde dieses Ziel bisher nur von fünfzehn Ländern.
Deutschland gehört zu diesem Kreis – allerdings nur dank eines Sondereffekts. Der Bundesregierung gelang es 2016 zum ersten Mal, die 0,7-Prozentmarke zu knacken, weil die Ausgaben für die hiesige Versorgung von Flüchtlingen, die sich in den ersten zwölf Monaten auf die Entwicklungshilfe anrechnen lassen, die Gesamtausgaben von zuvor 0,3 bis 0,4 Prozent des BNE auf 0,7 Prozent ansteigen ließen. Wohlgemerkt: Es fließt dabei kein Cent vom Globalen Norden in den Globalen Süden. Vielmehr profitieren in Deutschland Einzelhändler und Vermieter vom staatlich finanzierten Konsum.
»Der Sinn von Entwicklungshilfe sollte nicht darin bestehen, dass am Ende deutsche Produkte gekauft werden.«
Dieser Effekt spielte auch in den letzten Jahren eine wesentliche Rolle bei der Erreichung des 0,7-Prozentziels. Zuletzt entfielen 2023 insgesamt 20 Prozent der als Entwicklungshilfe deklarierten Leistungen auf die Versorgung von Flüchtlingen. Ohne diese Zahlungen hätte die Quote für Entwicklungshilfe bei 0,64 Prozent des BNE gelegen.
Ein weiterer Irrtum in der Debatte ist, dass wir gleichsam als barmherzige Samariter mit unseren Steuergeldern Projekte wie eben beispielsweise Radwege in Peru finanzieren. Auch das ist gerade in Ländern mittleren Einkommens, die oft als Beispiele für »unnötige Ausgaben« herhalten (China, Peru), nicht der Fall. Hier findet Entwicklungshilfe vor allem über die Kreditvergabe statt. Im Fall der Radwege in Peru beliefen sich die Zuschüsse auf lediglich 44 Millionen Euro, die Kreditsumme hingegen auf 155 Millionen. Können die Kredite nicht zurückgezahlt werden, wird der anschließende Schuldenerlass ebenfalls als Entwicklungshilfe verbucht.
Auf globaler Ebene zeigt sich grundsätzlich der Trend, dass der Anteil der Kredite an der Entwicklungshilfe zunimmt. Im Gegenzug gehen die nicht rückzahlbaren Zuschüsse zurück und waren mit einem Anteil von 63 Prozent im Jahr 2022 so niedrig wie noch nie in den letzten beiden Jahrzehnten. Durch veränderte Regelungen bei der Verbuchung von Entwicklungshilfe wird eine solche Tendenz stark angereizt.
Seit 2018 kann ein bestimmter Anteil der Kredite, das sogenannte »grant equivalent«, auf die Entwicklungshilfe angerechnet werden. Die Idee dahinter ist, dass der vom Gläubiger »subventionierte« Anteil des Kredits als Leistung verbucht wird. Zur Berechnung des »grant equivalents« werden Diskontsätze angenommen, die reflektieren sollen, wie hoch das mit der Kreditvergabe einhergehende Risiko ist. Die Diskontsätze hängen wiederum von dem ab, was ein hypothetischer, »risikofreier« Zinssatz wäre. Liegt der Zins des Kredits unter diesem hypothetischen Wert, so geht die Differenz als Zuschuss-Äquivalent in die Entwicklungshilfe ein. Das erscheint einleuchtend. Wenn sich ein Land zum Beispiel nur zu 5 Prozent Zinsen Kredite am Markt besorgen kann, so ist ein Kredit von 2 Prozent Zinsen eine nennenswerte Hilfe.
»In Fragen von ausgeglicheneren Handelsbeziehungen stellen sich die Länder des Globalen Nordens inklusive Deutschlands gern quer.«
Das Problem: die Industriestaaten schrauben die angenommenen Risiken systematisch in die Höhe, um den Wert ihrer Entwicklungshilfe schönzurechnen. So wurden beispielsweise Kredite an China mit 3 Prozent Zinsen mit einem hypothetischen Zinsniveau verglichen, das bei 6 Prozent lag – und das in einer Zeit, in der China problemlos am Markt zu 3 Prozent Zinsen Kredite bekam. Die Differenz zwischen den hypothetischen 6 Prozent und den gewährten 3 Prozent Zinsen wurde als Entwicklungshilfe verbucht, obwohl die Gläubiger keine finanziellen Abstriche machen oder übermäßige Risiken eingehen mussten.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass auf diese Weise der Wert der »grant equivalents« auf mehr als das Doppelte aufgebläht wird. Diese inflationierte Verbuchung der Kreditvergabe ist vor allem für Länder mit relativ hohen Kredit-Anteilen der Entwicklungshilfe relevant. Dazu gehören vor allem Japan (55 Prozent), aber auch Südkorea (35 Prozent), Frankreich (23 Prozent) und Deutschland (14 Prozent).
Ein erheblicher Anteil der deutschen Entwicklungshilfe (2021 rund 43 Prozent) entfällt auf Beiträge für multilaterale Institutionen wie etwa die Vereinten Nationen. Diese Zahlungen sind überwiegend zweckgebunden. Die Geberländer können bestimmen, was mit dem Geld geschieht. Entwicklungshilfe wird also nicht beliebig »in die Welt« hinausgeblasen. Im Kontext der Vereinten Nationen und humanitärer Verantwortung hat ein erheblicher Teil der Zahlungen zwingende Begründungen, wie beispielsweise die Unterstützung kriegsgebeutelter Länder.
Um am großen Rad zu drehen und systemische Reformen in Gang zu setzen, die es den armen Ländern ermöglichen würden, zu günstigen und stabilen Bedingungen an Kapital zu kommen – und auf diese Weise Entwicklungshilfe überflüssig zu machen –, fehlt es an politischem Willen. Reformvorschläge, die in eine solche Richtung gehen könnten, werden systematisch von den reichen Industriestaaten blockiert. Auch in Fragen von ausgeglicheneren Handelsbeziehungen stellen sich die Länder des Globalen Nordens inklusive Deutschlands gern quer.
In Sonntagsreden ist von einem Austausch »auf Augenhöhe« die Rede. Doch weiterhin werden gerade die Märkte afrikanischer Länder mit subventionierten Agrarprodukten des Nordens geflutet. Patente schränken die Nutzung neuer Technologien und Innovationen erheblich ein. Ausreichender Zugang zu Kapital (zu halbwegs vernünftigen Konditionen) bleibt verschlossen, während den Spekulanten Tür und Tor weiter offengehalten werden. Und schamlos bedient man sich der Rohstoffe.
»Ausreichender Zugang zu Kapital bleibt verschlossen, während den Spekulanten Tür und Tor weiter offengehalten werden.«
Länder, die am dringendsten auf Hilfe angewiesen sind, werden allein gelassen. Dies gilt insbesondere für die sogenannten »Least Developed Countries« (LDCs). Sie sind de facto von den Kapitalmärkten ausgeschlossen, haben geringe fiskalische Spielräume und sind abhängig vom Export einzelner Rohstoffe. Zudem werden sie regelmäßig von Klimakatastrophen heimgesucht, denen sie nichts entgegenzusetzen haben. Die Selbstverpflichtung der reichen Staaten, jedes Jahr mindestens 0,15 bis 0,2 Prozent des BNE an Entwicklungshilfe speziell für LDCs zu leisten, wird bislang nur zur Hälfte erfüllt.
Dabei sind es gerade die LDCs, die immer noch an den Langzeitfolgen der brutalen, kolonialen Ausbeutung leiden und nun zusätzlich am härtesten von der Klimakrise erfasst werden. Dürren, Fluten und Stürme sorgen für Ernteausfälle, legen die Infrastruktur lahm, sorgen für Gesundheits- und Bildungskrisen. Knappheiten und Lieferengpässe führen zu höheren Inflationsraten, worauf die Zentralbanken wiederum mit höheren Zinsen reagieren und die Wirtschaft weiter in den Abgrund treiben. So kann Entwicklung nicht funktionieren.
Für diese multiplen Krisen sind wir als Industriestaaten aufgrund unserer Geschichte, unseres Gewichts bei der Gestaltung der gegenwärtigen Spielregeln des globalen Kapitalismus und unserer Lebensweise mitverantwortlich. Folglich wäre eine angemessene Entwicklungshilfe gerade für LDCs das Mindeste, was geleistet werden müsste. Es wäre weder eine Wohltat noch ein Akt der Selbstlosigkeit, sondern lediglich das absolute Minimum dessen, zu dem wir verpflichtet sind. Dieser Aufgabe nicht nachzukommen, ist eine moralische und politische Bankrotterklärung.
Patrick Kaczmarczyk ist Ökonom an der Universität Mannheim, wirtschaftspolitischer Berater bei der UNCTAD und Autor des Buches Raus aus dem Ego-Kapitalismus (Westend, 2023).