04. Januar 2024
Die harschen Äußerungen des türkischen Präsidenten zum Gaza-Krieg mögen mutig erscheinen, doch die Handelsbeziehungen der Türkei mit Israel sprechen eine andere Sprache. Letztlich ist Erdoğans Getöse ein zynischer Versuch, die schwindende Unterstützung seiner Basis zu sichern.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht auf einer großen Palästina-Kundgebung auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul, 28. Oktober 2023.
Vor dem Hintergrund des andauernden Gemetzels im Gazastreifen sticht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unter den führenden Politikern der Welt mit seinen israelkritischen Äußerungen hervor. So bezeichnete er Israel als »terroristischen Staat« und forderte, Premierminister Benjamin Netanjahu müsse als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden. Da die Türkei eines der größten und mächtigsten Länder im Nahen Osten ist, wäre eine Abkehr Ankaras von Israel gerade aus Sicht der Palästinenserinnen und Palästinenser eine bedeutsame Entwicklung. Allerdings ist es nicht das erste Mal, dass Erdoğan markige Worte gen Israel schleudert – ohne dass dies letztlich Konsequenzen hätte.
Als zum Beispiel 2010 acht türkische Staatsangehörige auf einem Schiff, das Hilfsgüter nach Gaza brachte, getötet wurden, kritisierte Erdoğan ebenfalls den israelischen »Staatsterrorismus«, brach die diplomatischen Beziehungen ab und forderte, Israel müsse sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten. Entgegen dieser scheinbar eindeutigen Haltung nahm der Handel zwischen den beiden Ländern jedoch weiter zu. Einige Jahre später war alles vergeben und vergessen: Israel und die Türkei intensivierten die gemeinsame Erschließung von Öl- und Gasfeldern im östlichen Mittelmeer.
Erdoğan ist der Demagoge schlechthin: Er kritisiert mit aufmerksamkeitsheischenden Erklärungen die aktuelle Lage, hält gleichzeitig aber am (insbesondere wirtschaftspolitischen) Status quo fest. Seine Anklagen gegen Israel fallen meist mit Zeiten erhöhter Gewalt in Nahost zusammen. Sobald die öffentliche Empörung abebbt, gilt aber wieder business as usual.
Die Spannungen zwischen Israel und der Türkei reichen zurück bis zur Gründung des israelischen Staates im Jahr 1948. Angesichts der propalästinensischen Einstellung der meisten Türkinnen und Türken (und damit dem Wunsch, Beziehungen zu Staaten und/oder Gruppen zu unterhalten, die sich gegen den modernen Zionismus stellen) haben türkische Regierungen immer wieder Stellungnahmen gegen Israel verlautbaren lassen. Andererseits hat der Einfluss des Westens in der Region stets eine enge Partnerschaft zwischen Israel und der Türkei begünstigt – ungeachtet der Rhetorik der offiziellen türkischen Stellen.
Nachdem man sich 1947 zunächst gegen den UN-Teilungsplan für Palästina ausgesprochen hatte, wurde die Türkei 1949 zum ersten Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, das den Staat Israel anerkannte.
Im Zuge des Kalten Krieges orientierte sich die Türkei stärker am Westen und trat der NATO bei. Nach dem Sechstagekrieg 1967 kritisierte Ankara das Vorgehen Israels, war aber dennoch einer der wenigen Staaten mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung, der die diplomatischen Beziehungen nicht abbrach. Während viele Länder in Nahost solche Beziehungen einstellten und Israelis die Einreise verwehrten, florierten der türkisch-israelische Handel sowie der Tourismus. Um regionale und innenpolitische Kritik zu vermeiden, hielt die Türkei diese Beziehungen jedoch meist im diskreten Rahmen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wuchs der westliche Einfluss im Nahen Osten. In diesem Zuge wurde die vormals eher verheimlichte Beziehung zwischen der Türkei und Israel offener. In den 1990er Jahren nahm der Waffenhandel zwischen den beiden Nationen zu; gemeinsame Militärübungen wurden abgehalten.
»Während er die Beziehungen zu Israel weiter ausbaute, bemühte sich Erdogan auch um ein besseres Verhältnis der Türkei zu Syrien.«
Als Erdoğans konservativ-muslimisch geprägte Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) 2002 die Wahlen gewann und er im darauffolgenden Jahr Ministerpräsident wurde, schien es, als ob sich die Lage erneut ändern würde. Die AKP stellte den etablierten Säkularismus in der Türkei offensiv in Frage. So gingen viele davon aus, dass die Hinwendung zu einer »islamischeren« Politik auch zu einer härteren Gangart gegenüber Israel führen würde.
Doch genauso wie die Konservativen und Christdemokraten in Amerika und Westeuropa behaupten, das Christentum zu verteidigen, während sie dessen Grundsätze mit Füßen treten, so änderte auch Erdoğans Anspruch, den Islam verstärkt in die Politik einzubringen, wenig am tatsächlichen politischen Betrieb. Zunächst verweigerte der neue Ministerpräsident der Türkei zwar ein Treffen mit dem israelischen Premierminister Ariel Sharon; ebenso verurteilte er Israels Reaktion auf die Zweite Intifada als »Staatsterrorismus« und verglich die Notlage der Palästinenserinnen und Palästinenser mit der Situation jüdischer Menschen während der spanischen Inquisition. Ungeachtet dieser Aussagen wurden der Handel mit militärischer Ausrüstung sowie die gemeinsamen Militärübungen mit Israel jedoch fortgesetzt. Während der fünf Jahre der Zweiten Intifada verdoppelten sich die türkischen Exporte nach Israel. Nach dem Ende des palästinensischen Aufstands stattete Erdoğan Scharon umgehend einen Besuch ab – mit einer Delegation aus zahlreichen türkischen Geschäftsleuten im Schlepptau.
Während er die Beziehungen zu Israel weiter ausbaute, bemühte sich Erdoğan auch um ein besseres Verhältnis der Türkei zu Syrien. Die ehemaligen Feinde unterzeichneten 2004 ein Freihandelsabkommen. Erdoğan hoffte, dass eine Annäherung die Türkei auch als Vermittler zwischen den Rivalen Israel und Syrien positionieren und das Land so zu einer (diplomatischen) Führungsmacht im Nahen Osten machen würde.
Diese Hoffnungen wurden enttäuscht, als Israel 2006 in den Libanon einmarschierte sowie 2008 und 2009 militärisch in Gaza eingriff. Wieder einmal litten die türkischen Beziehungen zu Israel, es gab scharfe Kritik. Was Erdoğan jedoch am meisten zu kränken schien, war der Schaden für das diplomatische Image der Türkei. So erklärte er: »Israels Bombardierung des Gazastreifens ist eine Respektlosigkeit gegenüber der Türkischen Republik. Wir hatten eigentlich vor, Friedensgespräche zwischen Syrien und Israel anzusetzen.« Trotz alledem florierte der Handel zwischen der Türkei und Israel weiter.
Die vermutlich härteste Probe für die Beziehungen kam 2010: Im Mai wurde im Rahmen der Ship-To-Gaza-Aktion versucht, mit sechs zivilen Schiffen die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen und humanitäre Hilfsgüter über das Meer nach Gaza zu bringen. Noch bevor sie ihr Ziel erreichen konnten, stürmte die israelische Marine die Schiffe und tötete dabei zehn Menschen. Acht Opfer hatten die türkische Staatsangehörigkeit, ein weiterer Toter war US-Amerikaner mit türkischen Wurzeln.
Erdoğan zeigte sich erbost. »Dieses blutige Massaker Israels gegen Schiffsbesatzungen, die humanitäre Hilfe nach Gaza bringen wollten, verdient jede Art von Verurteilung«, sagte er. Israel müsse »unbedingt mit allen Mitteln bestraft werden«. Zum ersten Mal wies die Türkei den israelischen Botschafter aus, was eine entsprechende Gegenreaktion Israels zur Folge hatte.
Es schien, als würde sich die Türkei nun doch mit anderen Nahostländern verbünden, um Israel zu isolieren. Doch schon im Jahr nach dem Angriff auf die Hilfsschiffe stiegen die israelischen Exporte in die Türkei um 50 Prozent. Auch in den Folgejahren pflegte Erdoğan eine harte Rhetorik, während der Handel zunahm. 2013 bezeichnete er den Zionismus als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Dieses Jahr markierte gleichzeitig den bisherigen Höhepunkt des bilateralen Handels zwischen den beiden Ländern. Nur einen Monat nach Erdoğans antizionistischer Erklärung leiteten Israel und die Türkei einen Prozess zur erneuten Normalisierung ihrer Beziehungen ein. Premierminister Benjamin Netanjahu entschuldigte sich für die Tötung türkischer Staatsangehöriger auf der Gaza-Flottille. So konnte das diplomatische Verhältnis wieder verbessert werden.
Im Jahr 2016 wurde eine Vereinbarung zur Entschädigung der betroffenen Familien und zur kompletten Wiederherstellung der Beziehungen getroffen. Als vermeintlicher Sieg für Palästina wurde in einem Abkommen der Türkei außerdem erlaubt, humanitäre Hilfe und Infrastrukturinvestitionen im Gazastreifen sowie im Westjordanland zu leisten. Diese Unterstützung war im Vergleich zum milliardenschweren bilateralen Handel zwischen der Türkei und Israel allerdings ein finanzieller Klacks. 2016 war die Türkei der neuntgrößte Exportpartner Israels.
Dennoch gehörte der verbale Schlagabtausch weiter zur türkisch-israelischen Beziehung. 2018 legte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erneut nahe, Israel solle vor den Internationalen Gerichtshof gestellt werden. Erdoğan rief derweil zur Teilnahme an Palästina-Solidaritätsdemonstrationen in Istanbul auf. Oppositionsführer Muharrem İnce stellte allerdings schon damals fest, dass derartige Symbolpolitik nichts an der politischen Realität ändere. In Richtung der Regierung fragte er: »Habt ihr israelische Waren boykottiert? Nein. Habt ihr die Handelsdeals mit Israel ausgesetzt? Nein.«
In den folgenden Jahren kritisierte die türkische Führung die USA unter Präsident Donald Trump für die Verlegung ihrer Botschaft nach Jerusalem – und Israel verurteilte seinerseits die Türkei für den Einmarsch in Nordsyrien. Wie das Klischee vom alten Ehepaar, das sich nicht ausstehen, aber eben auch nicht trennen kann, bekämpften sich Ankara und Tel Aviv verbal, während die faktische gegenseitige Abhängigkeit wuchs. Die Türkei wurde beispielsweise zu einer wichtigen Quelle für Rohstoffe wie Stahl. Türkischer Stahl machte bald ein Drittel der israelischen Importe aus. Während Erdoğan also weiter den Zionismus verteufelte, lieferte die Türkei einen wichtigen Rohstoff für den israelischen Waffen- und Siedlungsbau. Und obwohl die formelle militärische Zusammenarbeit 2008 endete, profitierte die Türkei weiter von israelischen Militärexporten.
»Wenn die israelische Bombardierung Gazas endet, wird man sich in Ankara schnell darum bemühen, die Wogen zu glätten und die diplomatischen Beziehungen wieder aufzupolieren.«
2020 begann der türkische Verbündete Aserbaidschan mit Militäroperationen zur ethnischen Säuberung der mehrheitlich armenischen Region Artsakh/Bergkarabach. Während Erdoğan Israel beschuldigte, den Nahen Osten zu destabilisieren, ließ die Türkei zu, dass Israel den türkischen Luftraum nutzte, um Waffen nach Aserbaidschan zu exportieren, die dann zum Töten armenischer Menschen in der Region eingesetzt wurden.
Im Jahr 2022 deutete sich eine deutliche Verstärkung der Beziehungen an. Erdoğan schien seine früheren Äußerungen vergessen zu haben, in denen er den Zionismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit brandmarkte und sich dafür einsetzte, dass Israel vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt wird. Im September 2022 trafen sich die Staats- und Regierungschefs Israels und der Türkei zum ersten Mal seit vierzehn Jahren persönlich und nahmen die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich wieder auf, einschließlich des Austauschs von Geheimdienstinformationen. Die genauen Gründe für diese Annäherung sind unklar und umstritten, aber ein gemeinsames Interesse an der Erschließung von Öl- und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer dürfte eine treibende Kraft gewesen sein. Es schien sich erneut zu zeigen, dass für Erdoğan wirtschaftliche Interessen Vorrang vor seinen vermeintlichen politischen Prinzipien haben.
Erdoğans janusköpfige Politik gegenüber Israel bleibt weitgehend unverändert. Im Nachgang des Terroranschlags der Hamas am 7. Oktober 2023 war die erste Reaktion des türkischen Präsidenten nicht, auf Mäßigung und Verhältnismäßigkeit in Israels Reaktion zu drängen, sondern sein Versuch, die Hamas-Führung aus der Türkei auszuweisen. Als sich Widerstand gegen die israelischen Militäraktionen im Gazastreifen regte, verurteilte Erdoğan Israel einmal mehr, sprach erneut von einem »Terrorstaat« und forderte die Aufklärung möglicher Kriegsverbrechen. Erneut zogen sowohl Israel als auch die Türkei ihre jeweiligen Botschafter ab.
Mit der aktuellen Krise in Gaza wurde die türkisch-israelische politische Annäherung zwar gestoppt, aber die wirtschaftlichen Beziehungen sind alles andere als beendet. Der Handel geht weiter, und dieses Mal scheinen Erdoğan und seine Familie sogar persönlich davon zu profitieren: In einer aktuellen Recherche wird Erdoğans Sohn, Ahmet Burak Erdoğan, beschuldigt, Eigentümer von Schiffen zu sein, die in den Warenexport nach Israel involviert sind. Auch andere Personen, die der AKP nahestehen, wie der Sohn des Ex-Ministerpräsidenten Binali Yıldırım, profitieren von diesem Handel.
Insgesamt – und im Gegensatz zu vielen Darstellungen in den Medien – sind die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel nicht komplett beschädigt oder beendet. Zwar lässt sich bei France 24 lesen: »Türkisch-israelische Beziehungen nach Erdoğans Rede zerrüttet«, und Al Jazeera titelt: »Beziehungen zwischen Israel und der Türkei wegen Gaza-Krieg auf Eis«. Doch die jüngere Geschichte hat gezeigt, dass Erdoğan kein Interesse daran hat, den bisherigen Status quo zu ändern. Das gilt auch aktuell: Während die offiziellen diplomatischen Beziehungen ihre Höhen und Tiefen haben, wächst der Handel zwischen den beiden Ländern konsequent weiter. Entgegen seiner gelegentlichen Selbstdarstellung ist Erdoğan kein eiserner Streiter für Palästina, sondern hat mit den Handelsbeziehungen zum Wohlstand Israels beigetragen und die für die Fortsetzung der Besatzung notwendigen Güter liefern lassen.
Insgesamt dürfte sich an dieser türkischen Haltung wenig ändern. Wenn die israelische Bombardierung Gazas endet, wird man sich in Ankara schnell darum bemühen, die Wogen zu glätten und die diplomatischen Beziehungen wieder aufzupolieren.
Aidan Simardone ist Rechtsanwalt mit Fokus auf Migration sowie Autor. Seine Artikel erschienen unter anderem bei Counterpunch, New Arab und Canadian Dimension.