30. Juni 2022
Während die Wirtschaft schwächelt, setzt Erdoğan auf militärische Stärke und plant eine erneute Offensive in Nordsyrien. Dazu fehlte ihm bislang die Unterstützung einer Großmacht. Doch mit Erdoğans Zustimmung zur NATO-Erweiterung spitzt sich die Lage weiter zu.
Erdoğan im Parlament in Ankara, 15. Juni 2022.
Zum (außen)politischen Repertoire Recep Erdoğans und seines Regimes in der Türkei gehört es zweifellos, gezielt zu provozieren und zu eskalieren. Das zeigt ein Blick auf die türkische Außenpolitik der letzten Jahre: Nach einem völkerrechtswidrigen Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien 2019, der insbesondere die syrisch-demokratischen Kräfte (SDF) im Visier hatte, intervenierte Ankara auf Gesuch der Sarraj-Regierung Anfang 2020 militärisch in Libyen und versuchte dort, durch einen Vertrag mit dem anerkannten Machthaber Libyens Fakten zu schaffen, um sich einen Anteil an den Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer zu sichern. In der Folge provozierte er mit Gasbohrungen und einem aggressiven Vorgehen gegenüber Griechenland und anderen EU-Mitgliedsstaaten, die der Türkei keine Bohrrechte oder Zugang zum Erdgas gewähren wollten. Zeitgleich bestärkte er die aserbaidschanische Regierung darin, den Konflikt um Berg-Karabach militärisch zu lösen – mit der Konsequenz, dass am 27. September 2020 eine von Baku organisierte Offensive startete. Sie markierte den Beginn eines etwa sechswöchigen blutigen Krieges, der mehrere Tausend Tote forderte.
Die Eskalationen der türkischen Außenpolitik nahmen dementsprechend immer einen recht großen Platz in den westlichen Diskussionen ein – ob in der Politik oder in den Medien. Anders als noch unter Donald Trump versuchen die USA unter Joe Biden, Erdoğans Provokationen, in Koordination mit der EU zu disziplinieren. Passend zu Bidens Slogan »America is back again« wollen die USA ihre Position als führende Weltmacht rehabilitieren und ihre Hegemonie in der NATO wiederherstellen.
Für kurze Zeit schien es um die Außenpolitik des Erdoğan-Regimes ruhig zu werden. Doch seit Russlands Angriff auf die Ukraine tritt der Außenpolitiker Erdoğan wieder in den Schlagzeilen auf – ob durch Friedensgespräche in Ankara, seinen Widerstand gegen die NATO-Erweiterung, den er mittlerweile aufgegeben hat, seine Militäroperationen in Nordirak/Kurdistan oder die Bombardierungen auf Rojava/Nordsyrien, worüber in den hiesigen Medien deutlich weniger berichtet wird.
Erdoğans Pragmatismus und Doppelzüngigkeit ist bezeichnend und erschwert die Deutung seines Handelns. So wird seit mehreren Wochen darüber gerätselt, ob das türkische Militär erneut einen Angriff auf die kurdischen Gebiete in Syrien starten wird. »Eines Nachts, und auf einmal!«, so kündigte Erdoğan an, werde die Türkei militärisch in Nordsyrien zuschlagen.
Klar ist hingegen, dass das Regime beabsichtigt, neue Gebiete in Nord- und Ostsyrien zu besetzen, um eine »Sicherheitszone« vor der türkischen Grenze einzurichten. Erdoğan geht es dabei vor allem um Teile der autonomen Selbstverwaltung Rojavas. Da die USA die kurdischen Kräfte der SDF (Syrian Democratic Forces) im Kampf gegen den IS unterstützten und eine Besetzung Nordsyriens weder dem Assad-Regime noch Russland gefallen würde, kann Erdoğan ohne die zumindest implizite Unterstützung der Großmächte kaum agieren.
Die tragischen Implikationen einer derartigen völkerrechtswidrigen Invasion und Besetzung sind offensichtlich: Ein großer Teil der syrischen Flüchtlinge, die sich aufgrund des EU/Türkei-Deals derzeit in der Türkei aufhalten, würden höchstwahrscheinlich einer Zwangsunterbringung unterzogen werden und jene ethnischen Minderheiten, die bereits in der vorgesehenen Region leben, würden vertrieben werden. Wie schon im Nachgang der türkischen Militäroperation in Afrin, wären davon vor allem Kurdinnen und Kurden betroffen. Die von religiöser und ethnischer Vielfalt geprägte Struktur in Nordost-Syrien würde durch einen solchen Angriff völlig zerstört werden.
Dem türkischen Einmarsch stehen jedoch die »Bedenken« der USA und Russlands entgegen. Wie das US-Außenministerium verkünden ließ, solle die Türkei von einem erneuten Vormarsch absehen, da dies dem Kampf gegen den IS schaden würde. Auch dem russischen Außenminister Sergej Lawrow waren bei seinem Türkeibesuch Anfang Juni nicht mehr als Worte des Verständnisses abzubringen, während Putins Sonderbeauftragter, Aleksandr Lawrentjew, erklärte, eine weitere türkische Militäroperation drohe, »die Lage zu destabilisieren«.
Erdoğan gibt sich als großer Staatsmann. Vor seinen Wählerinnen und Wählern mimt er den unabhängig agierenden Geopolitiker. Doch nur in seltenen Fällen konnte die Regionalmacht Türkei autark und unabhängig von anderen imperialen Großmächten ihre Außenpolitik gestalten.
Mit Blick auf die zentralen militärischen Operationen der Türkei in den vergangenen Jahren wird klar, dass die Erdoğan-Regierung aufgrund ihrer innenpolitisch verzwickten Lage versucht, außenpolitisch dominanter und aggressiver vorzugehen. Erdoğan konnte dazu immer wieder Situationen nutzen, in denen die Großmächte ein machtpolitisches Vakuum zurückließen – wie etwa mit der halbherzigen Unterstützung der kurdischen Streitkräfte gegen den IS durch die USA. Erdoğans Außenpolitik basiert weitgehend auf der Instrumentalisierung solcher inneren Widersprüche der Großmächte.
So konnte das Erdoğan-Regime die türkische Armee in den vergangenen Jahren zweimal für einen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Kurden in Syrien losschicken, weil einmal die USA und einmal Russland grünes Licht gaben oder zumindest ein Auge zudrückten. Doch fraglich bleibt, ob er diese Spielräume heute noch finden können wird. Fraglich ist also, ob es angesichts der fehlenden amerikanischen und russischen Unterstützung dennoch zu einer erneuten Invasion der türkischen Armee kommen wird.
Um sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, lohnt ein Blick auf Erdoğans Beweggründe: Die nächste Präsidentschafts- und Parlamentswahl findet in einem Jahr statt und die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes lässt die Luft für Erdoğan und die AKP dünn werden. Die Inflationsrate zählt zu den höchsten weltweit, exorbitant ist der Wertverlust der Türkischen Lira. Alle finanzpolitischen Maßnahmen der Regierungskoalition, um diesen Verlust einzudämmen, haben sich als wirkungslos erwiesen. In der Konsequenz verlieren die AKP und MHP stetig an Boden und müssen ernsthaft um ihre Mehrheit bangen. Das Regime versucht derweil, die Unzufriedenheit, die in den mittleren und unteren Klassen immer weiter um sich greift, durch gezielte Fehlinformationen, Angstmacherei und willkürliche Verhaftungen von sich abzuleiten.
Das aktuelle außenpolitische Agieren des Erdoğan-Regimes lässt sich also durch die innenpolitischen Probleme der Machthaber erklären. Eine erneute Invasion Syriens würde Erdoğan auf zwei Arten dienen: Erstens würde der Krieg in der Bevölkerung eine nationalistische Atmosphäre bestärken und damit auch die Unterstützung des Regimes. Und zweitens könnte Erdoğan damit in der im Land heiß diskutierten Flüchtlingsfrage punkten. Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation wuchsen in der Türkei die Ressentiments gegen die syrischen Flüchtlinge. Eine erfolgreiche Invasion Syriens könnte als Anlass genutzt werden, um großangelegte Umsiedlungen vorzunehmen.
Auch die neuerlichen Spannungen mit Griechenland sind eine Folge von Erdoğans innenpolitischen Bedrängnissen. Dieser Konflikt entzündete sich an der militärischen Infrastruktur auf den Ägäis-Inseln und gipfelte kürzlich sogar in einer offenen Kriegsdrohung Erdoğans. Das türkische Regime sucht regelrecht nach Gelegenheiten, um kontrollierbare Konflikte in der Außenpolitik herbeizuführen und so die Stimmung im Land zu seinem Vorteil zu drehen. Erdoğans wirksamster Hebel ist hierbei das Militär.
Das taktische Spielchen, das die Türkei in der Frage zum NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens spielte, ist ebenso vor diesem Problemkomplex zu bewerten: Trotz fehlender US-amerikanischer sowie russischer Unterstützung meint Erdoğan, als NATO-Partner Druck auf die USA aufbauen zu können, wenn es um die Zustimmung zum Beitritt weiterer Länder geht.
Mittlerweile hat die Türkei ihren Widerstand gegen einen Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO aufgegeben. Vor der Einigung hatte US-Präsident Biden auf Wunsch der beiden nordischen Länder mit dem türkischen Staatspräsidenten telefoniert. Die besagten drei Länder haben ein trilaterales Memorandum über die zukünftige Zusammenarbeit unterzeichnet. Neben der allgemeinen Absichtserklärung, die Türkei in ihrem »Kampf gegen den Terror« zu unterstützen, wurde auch die Einschränkung von Waffenexporten, die Schweden in Reaktion auf den Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien 2019 verhängt hatte, aufgehoben. Auch wenn die Beteuerungen von Schweden und Finnland relativ unspezifisch sind, ist das Zustandekommen eines solchen Memorandums an sich schon ein Armutszeugnis.
Da nun Schweden und Finnland »feierlich« zum Ausdruck gegeben haben, »den Kampf gegen den Terrorismus mit Entschlossenheit und Entschiedenheit« aufzunehmen, war es nur folgerichtig, dass der türkische Justizminister direkt am nächsten Tag einen Auslieferungsantrag für 33 »Terrorverdächtige« an Schweden und Finnland gestellt hat. Dieses Schauspiel wird also noch eine Weile andauern.
Es war kein Zufall, dass Biden im Anschluss des trilateralen Memorandums ein einstündiges Gespräch mit Erdoğan führte. Die Art und Weise, wie dieses Gespräch zustande kam, beweist, dass es dem Erdoğan-Regime bei seinem Widerstand gegen den Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO eigentlich um etwas ganz anderes ging –, nämlich die wirtschaftliche, militärische und politische Unterstützung der Biden-Regierung, die er aktuell sehr dringend braucht. Zur Stunde war noch nicht klar, ob und welche Zusagen Erdoğan von den USA erhalten würde.
Es wird berichtet, dass die US-Regierung den erwarteten Verkauf von US F-16 Kampfflugzeugen an die Türkei unterstützen werde, was an sich keine Neuigkeit ist. Politisch brisanter ist eher die Frage, ob das Regime grünes Licht für einen Einmarsch in Nordsyrien bekam. Das Weiße Haus erklärte direkt im Anschluss, dass es im Gespräch beider Präsidenten unter anderem um die Bedeutung der Stabilität in der Ägäis und Syrien ging.
Diese Erklärung kann wohl so interpretiert werden, dass das Weiße Haus indirekt bekannt gibt, dass es der Türkei kein grünes Licht für eine Operation in Nordsyrien gegeben habe. Die kommenden Tage werden es zeigen. Stunden vor dem Gespräch der Präsidenten erklärte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, dass man »die türkischen Partner aufrufe, von Schritten abzusehen, die die Spannungen gefährlich eskalieren könnten«. Sie unterstrich auch, »dass militärische Aktivitäten, die ohne die Genehmigung der legitimen Regierung Syriens durchgeführt werden, die Souveränität und territoriale Integrität Syriens verletzten würden«.
Es scheint so, als ob Erdoğan beim NATO-Gipfel in Madrid so manches erreicht hat, womit er innenpolitisch prahlen und punkten kann. Doch das grundsätzliche Dilemma, in dem er steckt, wird auch das nicht wirklich entschärfen.
Selbstverständlich durchschauen die Großmächte dieses Kalkül und versuchen, von Erdoğans Handlungen zu profitieren. Joe Biden wird der Türkei während seiner angekündigten Reisen in den Nahen Osten und nach Europa keinen Besuch abstatten. Die USA scheinen keine bindenden oder langfristigen Engagements mit einem Regime eingehen zu wollen, dessen Tage gezählt sein könnten. Überhaupt spielen die Großmächte gegenüber der geopolitisch wichtigen Türkei momentan auf Zeit, um sicherzustellen, dass ein möglicherweise angeschlagener Staatspräsident keinen Einfluss auf die großen strategischen Fragen der Geopolitik hat.
Das ist riskant. Denn eine solche Haltung könnte Erdoğan erst recht dazu zwingen, aus der eigenen »Not« heraus zu agieren und sich der kurdischen Gebiete in Syrien militärisch zu ermächtigen. Ein Krieg, der wieder die nationalen Gefühle der Menschen in der Türkei und die Frage der nationalen Einheit in den Vordergrund stellt, wäre dem Regime im Wahlkampf durchaus nützlich. Sich als eigenständig agierender Staatschef gegen die Großmächte zu profilieren, könnte Erdoğan zudem kulturell in die Hände spielen.
Das wichtigste Anliegen der EU wäre sicherlich, neue größere Fluchtbewegungen aus der Region in Richtung EU zu verhindern. Die Beziehungen der EU zur Türkei waren schon immer von den eigenen (geopolitischen) Interessen der EU und ihrer Mitgliedsländer getragen. Diese Interessen sind jedoch nicht zu verwechseln mit den Interessen der Bevölkerung in der EU, die tatsächlich solidarisch mit Demokratiebewegungen sind und für den Frieden einstehen. Solange ein Präsident der Türkei diesen Interessen nicht fundamental im Wege steht, wird die EU ihre Beziehung zur Türkei weiter pflegen. Sowohl die Regierungsoberhäupter der EU-Mitgliedsstaaten als auch die EU-Administration spekulieren darauf, dass die gegenwärtigen Machthaber irgendwann abtreten werden, während die zentrale geographische und strategische Bedeutung der Türkei langfristig weiter besteht.
Menschenrechte und das Völkerrecht dienen hier nur als Feigenblätter, um die dahinterliegende Machtpolitik zu verschleiern. Die Frontex-Operationen im Mittelmeer und nicht zuletzt der EU/Türkei-Deal von 2016 zeugen davon, dass Menschenrechtsverletzungen gerne auch mal übersehen werden, wenn sie den Interessen der EU im Weg stehen.
Die Türkei ist und bleibt – ganz abgesehen von ihrer Regierung – ein geopolitisch wichtiges Land und eine Regionalmacht mit einem starken militärischen Arm. Diese anhaltende Militärfähigkeit begründet sich nicht zuletzt durch die bis heute nicht gelöste Kurdenfrage.
In den letzten Monaten versuchte das Erdoğan-Regime abermals auf der internationalen Bühne aufzutreten – und zwar als vermeintlicher Vermittler für eine Friedenslösung im Ukraine-Krieg. Doch wie kann es sein, dass ein Regime, das in den letzten Jahren in etlichen militärischen Konflikten seine Finger im Spiel hatte oder offenkundig Teil dieser Konflikte war, nun versucht, die Rolle eines Friedensvermittlers einzunehmen? Auch dies ist letztlich durch Eigeninteresse und die inneren Widersprüche der Türkei unter der Erdoğan-Administration motiviert.
So zählte die Türkei zu jenen Ländern, die vor dem Krieg Bayrakdar-Drohnen an die Ukraine verkaufte und gleichzeitig auch Waffensysteme aus Russland einkaufte. In den vergangenen Jahren versuchte die Türkei neben dem Westen ebenfalls enge Wirtschaftsbeziehungen zu Russland zu unterhalten. Diese gewünschte Vermittlerrolle für ein schnelles Ende des Ukraine-Krieges begründet sich hier also durch die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und die zeitgleiche Mitgliedschaft im West-Bündnis NATO.
Mit dem Angriffskrieg Russlands war klar, dass die Widersprüche zwischen der NATO und Russland offener ausgetragen werden würden. Eine Mittelmacht wie die Türkei, die in deutlicher Abhängigkeit zur NATO steht und gleichzeitig auch versucht, eurasische Kräfte in den eigenen Reihen zu befriedigen, droht einer der Kollateralschäden dieses Krieges zu werden. Erdoğans Vermittlungsversuche für den Frieden sind also dem Interesse geschuldet, die Beziehungen der Türkei in beide Richtungen aufrechtzuerhalten.
Manche meinen nun, dass das Erdoğan-Regime durch diese Entwicklungen seinen eigenen Handlungsspielraum erweitert habe. Rein objektiv betrachtet wird aber der außenpolitische Handlungsspielraum der Türkei unter Erdoğan immer kleiner werden. Denn in einer polarisierten Zeit werden ihm die USA zunächst wenig Spielraum bieten wollen. Für die wirklichen Großmächte ist das Erdoğan-Regime nur dann nützlich, wenn es nicht ihre jeweiligen Interessen durchkreuzt.
Doch unabhängig davon, welche geopolitischen Rechnungen durch wen auch immer eingetrieben werden, dürfen wir die politischen und sozialen Entwicklungen in den jeweiligen Ländern nicht aus dem Blick verlieren. Denn es sind die Völker, die den Regionalmächten oder gar Imperialmächten einen Strich durch die Rechnung machen können, wenn sie geeint für politische wie soziale Errungenschaften und den Frieden einstehen.
Özlem Alev Demirel ist EU-Abgeordnete der Linkspartei.
Özlem Demirel ist Abgeordnete der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament.