21. Juni 2021
Die Militäroffensive der Türkei entlang der irakischen Grenze zielt auf Zivilisten und Geflüchtete. Mit dem Krieg gegen die Kurden versucht Erdoğan, jegliche Chance auf Frieden und Demokratie in der Region auszulöschen.
Recep Tayyip Erdoğan bei einer Pressekonferenz in Ankara, 15. März 2021.
Am 24. April 2021 – dem Gedenktag, der an den Völkermord der Armenier erinnert –, begann der türkische Staat auf irakischem Gebiet eine Militäroperation gegen kurdische Kräfte. Seit über einem Monat werden Luftangriffe auf zivile Ziele durchgeführt. Neben Dörfern an der Grenze wurde auch das Geflüchtetenlager Machmur angegriffen, in dem Tausende kurdische Geflüchtete leben, die sich in den 1990er Jahren in Sicherheit bringen mussten, als der türkische Staat in Nordkurdistan gezielt ganze Dörfer zerstörte.
Seit Anfang der 2000er Jahre haben sich die über 10.000 in Machmur lebenden Menschen demokratisch selbst organisiert. Ihre Versammlungen gehörten zu den ersten, die den demokratischen Konföderalismus praktizierten – ein System, das auf den Prinzipien der Basisdemokratie, der Ökologie und der Frauenbefreiung gegründet ist, und das durch die Autonome Region Rojava im Nordosten Syriens international bekannt wurde.
Jede Frau im Lager ist Teil der autonom organisierten Frauenversammlung und beteiligt sich dadurch aktiv an der Transformation einer durch Krieg, Zerstörung und Vertreibung gezeichneten Gesellschaft. Der türkische Staat nennt das Terrorismus – und viele westliche Regierungen schließen sich dieser Einordnung an.
Das türkische Militär betreibt zudem eine systematische Zerstörung der lokalen Ökosysteme: Die Wälder in Südkurdistan werden bombardiert und abgeholzt, die Wasserinfrastruktur in Rojava wird angegriffen, die Flussläufe von Euphrat und Tigris nach Nordsyrien werden blockiert. Millionen von Menschen sind dadurch ohne eine sichere Wasserversorgung.
Mit der gegenwärtigen Offensive setzt der türkische Staat seine Strategie der illegalen Invasion, Besetzung und Expansion in Kurdistan fort. In der Tat handelt es sich nur um den jüngsten einer Vielzahl von Angriffen, die in den letzten Jahren Tausende getötet und Hunderttausende vertrieben haben.
Der türkische Staat hat bereits 2018 in Afrin und 2019 in Serê Kaniyê (arabisch: Ras-al-Ain) Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen begangen. Dieselben Methoden werden in diesem Moment auch in Südkurdistan angewandt.
Die Taktiken des türkischen Militärs sind mittlerweile bekannt: Folter, Chemiewaffen, Vergewaltigungen und die Bombardierung von Krankenhäusern und Wasserinfrastruktur. Solche Aktionen sind für die türkischen Invasionen in Afrin und Serê Kaniyê gut dokumentiert. Seit ihrer Besetzung weist die Stadt Afrin eine der höchsten Raten an Entführungen, Vergewaltigungen und Folterungen von Frauen in der Region auf.
Der türkische Staat plant nun den Bau von Militärbasen in den Regionen Zap, Metina und Avasin – das heißt in den mehrheitlich von Kurdinnen und Kurden bewohnten Gebieten des Irak. Im Jahr 2019 erklärte Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, dass die Türkei beabsichtigt, mit militärischen Mitteln eine »Sicherheitszone« an ihrer südlichen Grenze einzurichten und die bestehende, mehrheitlich kurdische Bevölkerung durch syrische Geflüchtete zu ersetzen – im Wesentlichen also eine ethnische Säuberung gegen die Kurdinnen und Kurden in der Region durchzuführen.
Aus den Äußerungen und Handlungen der türkischen Regierung geht das Ziel ihrer militärischen Offensive klar hervor: Sie will jene Grenzen wiederherstellen, die zum Ende des Osmanischen Reiches im Nationalpakt festgehalten wurden. Das würde die Annexion von Teilen Syriens und des Irak bedeuten. So ließ Erdoğan verlautbaren, dass die Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg – die Millionen von Kurdinnen und Kurden staatenlos machte – für die Türkei ein herber Kompromiss gewesen sei, der neu bewertet werden müsste. Es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um einen Witz handelt oder um bitteren Ernst.
Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass die Türkei einen innerkurdischen Konflikt zu schüren versucht, indem sie die Spannungen zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und der PDK – der regierenden kurdischen Partei in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak – eskalieren lässt. Vor zwei Wochen hat die PDK eine Friedensdelegation aus Europa an der Einreise in den Irak gehindert und sie zurückgeschickt. Unterdessen verhinderte die deutsche Bundespolizei die Ausreise einer weiteren Delegation von insgesamt siebzehn Politikerinnen und Aktivisten.
Diese Delegationen wollten die Lage beobachten und direkt vor Ort berichten. Zusammen mit den jüngsten militärischen Zusammenstößen zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und den Peshmerga der kurdischen Regionalregierung sind dies äußerst beunruhigende Entwicklungen.
Solange die internationale Gemeinschaft zu keinen angemessenen und ernsthaften Gegenmaßnahmen greift, wird der türkische Staat seine gewaltvolle ethnische Säuberung in allen Teilen Kurdistans ungebrochen fortsetzen. Der türkische Staat verfolgt die Absicht, die kurdische Kultur auszulöschen, Kurdinnen und Kurden zu töten und jeden ihrer Ansätze zu echter Selbstbestimmung zu zerschlagen.
Das Ziel dieser Angriffe ist nicht nur die kurdische Bevölkerung. Auch ihr Versuch, zusammen mit jesidischen, arabischen, syrischen, assyrischen und turkmenischen Gemeinschaften in der Region eine friedliche und demokratische Gesellschaft aufzubauen, steht unter Beschuss. Während ähnliche Versuche in Syrien schon seit Jahren bekämpft werden, sind sie nun auch im Irak Angriffen ausgesetzt.
Was die Herrschenden in der Türkei als große, existenzielle Bedrohung ansehen, ist die Verwirklichung der politischen Ideen des auf der Insel Imrali inhaftierten Abdullah Öcalan, der seit über zwei Jahrzehnten vom türkischen Staat in Isolation gehalten wird. Die Chance auf Frieden und Demokratie im Nahen Osten zu vereiteln, ist die größte politische Ambition der türkischen Regierung.
Alle, die an eine gerechte Welt glauben, müssen diese Invasion verurteilen und sich für Freiheit und Gerechtigkeit stark machen. Und die Befreiung Abdullah Öcalans ist für eine friedliche Zukunft in Kurdistan und der gesamten Region von größter Bedeutung.
Elif Sarican ist Anthropologin und Autorin. Sie ist in der kurdischen Frauenbewegung aktiv und eine Beraterin der Kampagne Freedom For Öcalan Trade Union.