07. November 2024
Als der Ostberliner Eisenbahner am 7. November 1951 anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution rote Fahnen an seiner S-Bahn hisste, wurde er von Westberliner Polizisten zu Tode geprügelt. In der DDR als Held verehrt, ist Ernst Kamieth heute nahezu vergessen.
Aufnahme vom Trauerzug zu Ehren Ernst Kamieths am Tag seiner Beerdigung.
Mitten im Berliner Stadtteil Schöneberg liegt der Alte St.-Matthäus-Kirchhof, umgeben von Mietshäusern und der S-Bahnlinie von Oranienburg nach Potsdam. Der Friedhof zieht sich sanft einen Hügel hinauf, direkt zur Monumentenstraße, die zum Kreuzberg führt. Diese eindrucksvolle Kulisse inspirierte etwa den Regisseur Wim Wenders, hier Szenen für Der Himmel über Berlin zu drehen.
Auf den Grabplatten findet man die Namen sehr unterschiedlicher historischer Persönlichkeiten: Von den Gebrüdern Grimm über Claus Graf Schenk von Stauffenberg bis hin zu Ernst Kamieth. Ernst Kamieth? Das Fragezeichen hat er nicht verdient, denn sein früher Tod erzählt eine zwar verschwiegene, aber beispielhafte Geschichte des Kalten Krieges. Dessen ungeachtet warnt heute ein Friedhofs-Schild, dass seine Ruhezeit abgelaufen sein könnte.
Kamieth, geboren 1896, teilte drei Jahrzehnte lang sein Leben mit Martha – keine Kinder, dafür jede Menge Alltag. Beruflich brachte er es bis zum Dienststellenleiter am Potsdamer Güterbahnhof in Berlin, auf dem Gelände des heutigen Gleisdreieckparks. Ein Job mit Verantwortung: In einer geteilten Stadt, in der jeder Schritt politisch war, hielt er die Züge am Laufen. Er war kein Revoluzzer, eher der Typ, der morgens pünktlich zur Arbeit erschien und abends sein Bier trank. Bis zum 7. November 1951. An jenem Tag starb er nach einem schicksalhaften Zusammentreffen mit der Westberliner Polizei. Was war geschehen?
Am Vortag ordnete die Reichsbahn, die Staatsbahn der DDR, an, zum Jahrestag der Oktoberrevolution Flaggen zu hissen. Dies galt auch für die Dienststellen der Deutschen Reichsbahn im Westteil Berlins, denn mit dem Potsdamer Abkommen bekam die Sowjetunion die Hoheit über die Reichsbahn und damit über den Berliner S-Bahn-Ring – die sie 1949 wiederum an die DDR übertrug. Dies führte zu der kuriosen, aber völkerrechtlich abgedeckten Situation, dass sich das Hoheitsgebiet der DDR auf schmalen Spuren einmal durch den Westteil Berlins schlängelte.
Der 7. November 1951 war also ein Tag, der die Luft zum Knistern brachte. Rote Fahnen wehen provokant über dem Potsdamer Güterbahnhof – ein symbolischer Akt in der frisch geteilten Stadt. Für die Westberliner Polizeibeamten war das wie ein rotes Tuch.
Sie drang unter Verletzung der Hoheitsrechte der DDR in den Potsdamer Güterbahnhof ein, wo Ernst Kamieth Dienst tat. Der vorliegende Befehl für die Polizeibeamten lautete, alles zu entfernen, was nach »kommunistischer Propaganda« aussah. Der Aufforderung, dem nachzukommen, widersetzten sich die Eisenbahner, allen voran ihr Dienststellenleiter.
»Es war ein Moment, in dem die Brutalität des Kalten Krieges greifbar wurde. Der Dienststellenleiter Kamieth starb wenig später an seinen Verletzungen.«
Es folgten Dispute, ein Ringen um Kompetenzhoheit, Handgreiflichkeiten – bis der kommandierende Polizeimajor Zunker einen Besen ergriff und, von seinen Kollegen gedeckt, Kamieth zu attackieren begann. Schlag um Schlag prasselte auf ihn ein, bis er zusammenbrach. Es war ein Moment, in dem die Brutalität des Kalten Krieges greifbar wurde. Der Dienststellenleiter Kamieth starb wenig später an seinen Verletzungen.
Auch seine Beerdigung geriet zum Politikum. Beigesetzt werden sollte er auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Westberlin, sein Leichnam musste dafür aber von der Ostberliner Charité über die Sektorengrenze nach Westen überführt werden. Aus Sorge vor einer kommunistischen Kundgebung im Westteil der Stadt ordnete das Westberliner Polizeipräsidium ein Trauergefolge von zwanzig Personen ohne Transparente und politische Kranzschleifen an. Schön ruhig und unpolitisch sollte es vorgehen.
Die Realität sah anders aus: Der Westberliner Polizei zum Trotz, die den Eisernen Vorhang luftdicht zuziehen wollte, begleiteten 30.000 Menschen den Trauerzug. Dieser »schmuggelte« den Sarg über die S-Bahnstrecke in den Westen, also über Reichsbahngelände. Kein Westberliner Polizist traute sich, die Hoheitsrechte eines anderen Staates erneut zu verletzen. Als der Zug im Westen auftauchte, war es zu spät. Die Menschenmenge strömte zum Friedhof und setzte Kamieth zur vermeintlich letzten Ruhe. Nur kennt der Kalte Krieg keine Ruhe. Momentan im Propagandakrieg unterlegen, rückten zur Nacht Polizisten, diesmal mit Scheinwerfern statt mit Besen bewaffnet, an das Grab heran und gruben den armen Kerl wieder aus. Eine makabre Nachtschicht im Namen der »Wahrheitsfindung«. Der verantwortliche Medizinalrat Dr. Weimann öffnete seinen Schädel, um festzustellen, dass er nichts feststellen konnte. Kamieths Gehirn ruhte bereits in einem Ostberliner Labor im Formaldehyd-Pool.
Kamieth ist zu seinen Lebzeiten politisch nur selten in Erscheinung getreten und wurde mit einem Aufwand beerdigt, der ihn selbst nur gewundert hätte. Kurz nach seinem Tod wurde er in der DDR zu einem »ermordeten Friedenskämpfer« stilisiert. Auch wurden etliche Straßen und Plätze nach ihm benannt, von denen einige bis heute seinen Namen tragen.
Wer sich mit Strafverfolgungen unter Polizeibeamten auskennt, wird nicht überrascht sein, welche Konsequenzen es für den Polizeimajor Zunker gab: nahezu keine. Stattdessen entfaltete sich ein juristisches Drama, das das Primat der Politik über die Justiz aufzeigt.
Am 30. November 1951 schlossen sich die Gefängnistüren hinter Polizeiinspektor Hermann Zunker – doch nur für wenige Stunden. Noch am selben Tag entschied ein Richter, die Verhaftung sei unbegründet. Zunker kehrte triumphierend an seinen Schreibtisch zurück. Doch das Blatt wendete sich erneut. Am 5. Dezember wurde Zunker beurlaubt, dann suspendiert. Der Januar sah ihn wieder hinter Gittern. Aber die Mühlen der Justiz mahlen politisch: Am 21. März 1952 öffneten sich die Gefängnistüren ein weiteres Mal. Oberst Duensing, Kommandeur der Schutzpolizei, feierte Zunkers Freilassung mit den Worten, dass Polizisten im »Kampf um die Demokratie« stets die Unterstützung von Parlament und Justiz finden würden.
»Der Kommandeur der Schutzpolizei feierte Zunkers Freilassung mit den Worten, dass Polizisten im ›Kampf um die Demokratie‹ stets die Unterstützung von Parlament und Justiz finden würden.«
Ein Jahr nach Kamieths Tod kam endlich die Anklageschrift. Sie zeichnete das Bild eines Polizisten, der seine Macht missbrauchte: Totschlag, Aussageerpressung, Körperverletzung, Beleidigung. Die Liste der Vorwürfe war lang und schwerwiegend. Im Ergebnis wurde er im Jahr 1954 zu 22 Monaten Haft verurteilt, die er jedoch nie anzutreten brauchte.
Der Kämpfer für die Demokratie war Mitglied des »Schraderverbandes«, einem 1915 gegründeten Polizistenverband, der von Ernst Schrader geführt wurde. Im Zuge der Gleichschaltungspolitik der Nazis wurde er 1933 verboten, Mitglied des Verbandes waren neben Zunker unter anderem auch Bruno Sattler, ein Gestapo-Mitarbeiter und Organisator von Judenmorden in der Sowjetunion und in Belgrad. Er entwickelte die Gaswagen, in denen Juden getötet wurden, bevor die systematische Vernichtung in den großen Lagern begann.
Im Westen konnte sich der Schraderverband 1949 unter als Verband der Polizeibeamten e.V. wiedergründen, Zunker wurde erneut Mitglied. Geschäftsführerin war Elfriede Sattler, ihr Ehemann wurde hingegen in Ostdeutschland als Kriegsverbrecher verurteilt und eingesperrt.
Der auf den Vorrang des Privateigentums setzende Staat schützt oft die Falschen. Nazis konnten nach dem Krieg weitermachen, massenweise und in hohen staatlichen Positionen. Doch manchmal holt einen die Vergangenheit ein, und sei es, weil ein Grab auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof entfernt werden soll. Dies hat heute weniger politischen als vielmehr formalen Grund: Die Regelzeit für das Überdauern des Grabes läuft ab, eine weitere Existenz ist nur möglich, wenn es privat finanziert wird.
Der Ortsverband Berlin der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft und der Unterstützerkreis Patenschaft Grabstelle Ernst Kamieth wollen ebendies leisten und das Grab erhalten, um nicht für immer den Mantel des Schweigens und Vergessens über das damalige Verbrechen legen zu lassen. Dafür nötige Spenden in vierstelliger Höhe wurden nach wenigen Wochen unter Mitgliedern gesammelt. Geschichtsbewusste Eisenbahner wissen: Hinter jedem Grabstein steckt eine Story. Und manchmal braucht es Institutionen der Arbeiterbewegung, um diese Geschichten am Leben zu halten.
Jonathan Schwarz ist Gewerkschaftssekretär bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und dort aktiv im AK Geschichte.