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01. August 2025

Händeringend gesucht, aber den Mindestlohn nicht wert?

Der deutsche Bauernverband forderte kürzlich, Erntehelfern aus dem Ausland keinen Mindestlohn zu zahlen. Dabei ist Lohndumping in der Branche längst gängige Praxis.

Rumänische Saisonarbeiter bei der Spargelernte in Bornheim.

Rumänische Saisonarbeiter bei der Spargelernte in Bornheim.

IMAGO / Rainer Unkel

Während Erdbeer- und Spargelstände die Straßenränder zieren und Supermarktketten mit »Preisknallern« um die Gunst der Konsumentinnen buhlen, schuften hunderttausende osteuropäische Saisonarbeiter auf deutschen Feldern. Der Erhöhung des Mindestlohns vorauseilend, forderte Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbands (DBV) und CDU-Mitglied, Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter vom Mindestlohn auszunehmen. Der DBV schlägt vor, nur 80 Prozent des regulären Mindestlohns zu zahlen.

Die Abkehr vom Mindestlohn für Saisonkräfte, von der AfD seit längerem gefordert, wurde direkt von Vertretern der Union unterstützt – allen voran Landwirtschafts- und Ernährungsminister Alois Rainer (CSU), der den Vorstoß auf seine rechtliche Umsetzbarkeit prüfen lässt. DBV-Präsident Rukwied beklagt gleichzeitig, dass Saisonarbeiter und Saisonarbeiterinnen immer schwerer zu finden seien und betont, man sei auf sie »angewiesen«. Für ihr Kommen sei man durchaus »dankbar«, so Rukwied weiter. Diese »Dankbarkeit« soll offensichtlich nicht in Form anständiger Löhne ausgedrückt werden.

Wessen Arbeit ernährt das Land?

Lebhaft dürften die Bauernproteste 2023/24 gegen die von der Regierung Scholz beschlossene Abschaffung der Agrardieselrückerstattung in Erinnerung geblieben sein. Monatelang mobilisierten Bauernverbände und Landwirte zu Kundgebungen und Straßenblockaden und kippten letztlich die Regierungsmaßnahme. Mit Slogans wie »Wir ernähren das Volk!« erfuhren die Landwirte breite Unterstützung. Die besondere gesellschaftliche Relevanz der Nahrungsmittelproduktion kann nicht in Abrede gestellt werden. Dass Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter im damals wirkmächtig mobilisierten »Wir« der »Volksernährer« aber ausgeklammert wurden, ist eine bezeichnende Leerstelle. Denn die etwa 240.000 jährlich in Deutschland tätigen, fast ausschließlich aus dem Ausland kommenden Saisonarbeiter machen fast ein Drittel aller in der Landwirtschaft Beschäftigten aus.

Besonders die Ernte saisonaler Sonderkulturen, wie Spargel, Gurken, Kohl, Hopfen, Wein und Erdbeeren, hängt von der Arbeit vorwiegend rumänischer und polnischer Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter ab. Dass osteuropäische Wanderarbeiter eine zentrale Rolle für die deutsche Ernte spielen, ist nicht neu. Wiederholte staatlich organisierte Versuche, deutsche Arbeiterinnen aufs Feld zu bringen, scheiterten stets krachend. So führte das Vorhaben, während der Covid-19 Pandemie über die Plattform daslandhilft.de inländische Saisonarbeiter zu finden, letztlich dazu, dass bulgarische und rumänische Erntearbeiter zu »systemrelevanten Fachkräften« erklärt und trotz pandemischen Grenzschließungen per Charterflug zur Rettung des Spargels aufs Feld geschickt wurden.

»In der Debatte inszeniert sich der DBV als Vertreter des kleinen Mannes. Dabei vertritt er vor allem die Interessen von üppig subventionierten Großbetrieben.«

Im knallharten Preiswettbewerb basiert die Profitmarge vieler deutscher Landwirte auf der Überausbeutung migrantischer Saisonarbeiter. Äußerst harte Arbeit, entgrenzte Arbeitszeiten, bestenfalls bescheidene Unterkünfte und schlechte Bezahlung – für in Deutschland lebende Menschen ist dieser Deal schlichtweg zu unattraktiv. Unter diesen Bedingungen sind lediglich Arbeiter aus Ländern mit noch schlechteren Erwerbsmöglichkeiten dazu »bereit« oder wirtschaftlich gezwungen, in der saisonalen Ernte zu arbeiten.

Die schiefe Argumentation des Bauernverbands 

In der Debatte inszeniert sich der von Großbauern geführte DBV als Vertreter des kleinen Mannes. Dabei vertritt der mit Union sowie Landwirtschaftsministerium und Agrarindustrie eng verknüpfte Lobbyverband vor allem die Interessen von üppig subventionierten Großbetrieben und versucht nun die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Gemüse- und Obstproduktion auf dem Rücken der Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter zu verteidigen.

Richtig ist, dass die Lohnkosten in der arbeitsintensiven und wenig mechanisierten saisonalen Landwirtschaft, etwa mit bis zu 50 Prozent der Produktionskosten in der Spargelernte, verhältnismäßig hoch sind. Ebenso richtig ist der Verweis auf den gnadenlosen Preisdruck, der vom mächtigen Großhandel – Aldi, Edeka, Lidl/Kaufland und Rewe – auf Landwirte ausgeübt wird. Viele kleinere Höfe stehen vor dem Aus. Was macht nun den Mindestlohn von Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeitern zur entscheidenden Schraube, an der gedreht werden soll? Saisonarbeitskräfte hätten, so Bauernpräsident Rukwied, »ihren Lebensmittelpunkt schließlich nicht in Deutschland«. In anderen europäischen Ländern sei das Lohnniveau zudem deutlich geringer. Daraus ergibt sich für Rukwied notwendigerweise die Entlohnung von Saisonkräften unter Mindestlohnniveau.

Zunächst suggeriert das lautstarke Klagen der Bauernverbände, dass die flächendeckende Bezahlung nach Mindestlohn bereits erreicht wäre. Das ist, vorsichtig gesagt, eine steile These. Dass insbesondere unter Großbetrieben, die Unterwanderung des Mindestlohns durch unzulässig hohe Abzüge für notdürftige Unterkünfte, Verpflegung oder Vermittlungsgebühren weit verbreitet ist, wurde durch gewerkschaftsnahe Recherchen zur Genüge belegt.

Auch die Bezahlung nach Akkordlohn ist weit verbreitet. Der Rechtskampf einer Gruppe georgischer Arbeiter und Arbeiterinnen, die erstmals 2021 zur Ernte nach Deutschland entsandt wurde, zeigt die erschreckende Normalität des illegalen Akkordlohnsystems. Im Dezember 2024 wurden deren Lohnansprüche am Arbeitsgericht Oldenburg verhandelt. Bis heute wurde der Gruppe kein Cent für ihre Arbeit in Niedersachsen gezahlt. Konfrontiert mit der beharrlichen richterlichen Feststellung, der Mindestlohn habe auch für Saisonarbeiter Geltung, reagierte der beklagte Landwirt mit einer Mischung aus Verwirrung und Entrüstung. Mit der geernteten Mengen hätten sich die Ernteneulinge »den Mindestlohn doch gar nicht verdient«. Außerdem habe »das Landvolk«, gemeint ist der Landesbauernverband Niedersachsen, jahrelang zur Zahlung nach Akkordlohn geraten. Dass Verstöße gegen die Mindestlohnregelung keine Einzelfälle sind, offenbart ein Blick in die Statistik. Im seltenen Fall von Kontrollen hängen die Mindestlohnverstöße in der Landwirtschaft anteilig die ebenfalls berüchtigte Baubranche deutlich ab.

Die Mär von der reichen Saisonarbeitsbeute

Auch die vielfach angeführte Behauptung, die Arbeiterinnen und Arbeiter würden angesichts der geringen Lebenshaltungskosten in ihren Herkunftsländern auch unter Mindestlohn viel verdienen, zerschellt an der Realität.Die Vorstellung einer reichen saisonalen Mindestlohnbeute, die aus Deutschland gen Osten entführt wird, wird dabei nicht nur von DBV, AfD und Union geteilt. Auch die brandenburgische SPD Agrarministerin und »Hühnerbaronin«, Hanka Mittelstädt, sieht »große Probleme« bei der Mindestlohnerhöhung, denn die Saisonkräfte so Mittelstädt, nähmen ihren Lohn wieder in die Heimat mit. Diese Darstellung der nominellen Sozialdemokratin deckt sich freilich schlecht mit den hohen Kosten für Unterkunft, Verpflegung sowie Steuern, die Saisonarbeiter in Deutschland bezahlen.

Aber auch das laufend vorgebrachte Argument billiger Herkunftsländer kann angesichts hoher Inflationsraten und stark gestiegener Lebenshaltungskosten in vielen osteuropäischen Ländern getrost als mittelprächtige Arbeitgeber-Fiktion abgetan werden. Die sehr bequeme, selektive Realitätswahrnehmung der DBV-Spitze und ihrer politischen Unterstützer setzt sich durch das Ausblenden der drastisch gestiegenen Anreisekosten für Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter nach Deutschland nahtlos fort.

»Parallel zur Forderung nach der Absenkung des Mindestlohns wird bereits auf billige Arbeitkräftereservoirs im Kaukasus und Zentralasien geschielt.«

Der Hauptgrund für das fadenscheinige argumentative Spiel des Bauernverbands und seiner politischen Erfüllungsgehilfen dürfte allerdings nicht in ihrer schlechten Informationslage liegen. Schließlich beklagen auch die Bauernverbände seit langem Rekrutierungsprobleme, da die Saisonarbeit für Menschen aus Polen und auch Rumänien zunehmend unattraktiv werde. Das Interesse an staatlichen Anwerbeabkommen für Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter aus Drittstaaten – mit Georgien und Moldawien umgesetzt – sowie die Beobachtung, dass immer häufiger Studierende aus Usbekistan oder Kasachstan auf deutschen Äckern anzutreffen sind, deuten eher auf eine andere Entwicklung hin: Parallel zur Forderung nach der Absenkung des Mindestlohns wird bereits auf billige Arbeitkräftereservoirs im Kaukasus und Zentralasien geschielt.

Ran an die Konzerne

Das SPD-geführte Arbeitsministerium und die Gewerkschaften lehnten den Vorstoß von DBV-Lobbyisten und Unionsvertretern zwar zunächst kategorisch ab, doch mit dem gefährlichen Vorstoß des DBV steht langfristig noch deutlich mehr auf dem Spiel als »nur« die Rechte von Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeitern. Sollte eine erste sektorale Sonderregelung erfolgen, dürften Lobbyisten und Arbeitgeber alles daran setzen, dass Mindestlohnausnahmen in weiteren Niedriglohnsektoren folgen werden. Der dringende Kampf um die Realisierung und Ausweitung der Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern in Ernte, Pflege, Logistik, Fleischindustrie oder Bau würde dabei noch weiter in die Defensive geraten.

Lebensmittelproduzenten verdienen Respekt und eine faire Entlohnung. Das schließt Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter mit ein. Aber auch die Nöte vieler kleiner Landwirte sind real. Die Marktbeherrschung und das Preisdiktat des Großhandels als mächtigsten Teil der Lieferkette machen eine faire Nahrungsproduktion in Deutschland zunehmend unmöglich. Dem stimmen auch viele Landwirte zu. Rewe, Edeka, Aldi und Lidl/Kaufland kontrollieren aktuell 85 Prozent des Lebensmittelmarktes und beeinflussen damit den Lebensmittelvertrieb und die Preisbildung massiv. Trotzdem bleiben die größten vier Lebensmittelhändler in der aktuellen politischen und journalistischen Debatte weitgehend außen vor. Der politisch bestens vernetzte Bauernverband ist daran maßgeblich mit Schuld. Angesichts dessen ist in naher Zukunft weder mit fairer Preisbildung noch mit anständigen Arbeitsbedingungen und Löhnen zu rechnen.

Markus Köck lebt zwischen Deutschland und Bulgarien. Er forscht und lehrt zu Arbeitsmigration und promoviert zu Arbeitskonflikten in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit.