23. August 2022
Christian Baron bricht in seinem seinem neuen Roman mit bundesrepublikanischen Mythen und zeigt die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft aus Sicht der Arbeiterklasse.
Junge Handwerker 1953 in Berlin.
»Armut, Hartz IV, Mietenwahnsinn, Lohnkämpfe spielen zwischen den Deckeln deutschsprachiger Romane eine ebenso geringe Rolle wie auf den großen deutschen Bühnen«, beobachtete Christian Baron 2016 in dem Sachbuch Proleten. Pöbel. Parasiten. Einige Jahre später machte er sich selbst daran, diesen Missstand des Kulturbetriebs zu beheben und veröffentlichte sein literarisches Debüt Ein Mann seiner Klasse sowie die Anthologie Klasse und Kampf – mit Erfolg.
Autobiographisch thematisiert Baron sein Aufwachsen in Armut mit seinem gewalttätigen Vater. Sein gerade erschienener neuer Roman Schön ist die Nacht greift einige bekannte Figuren aus Ein Mann seiner Klasse wieder auf. Der Zimmerer Willy Wagner und der Hilfsarbeiter Horst Baron – angelehnt an Barons Großväter – stehen im Fokus und mit ihnen das Kaiserslautern der 1970er Jahre.
Die Figur des »fleißigen Arbeiters« wird in der Literatur oft romantisiert oder die Arbeiterklasse wird aus einer gutbürgerlichen Außenperspektive exotisiert, als das »Andere« gebrandmarkt. Arbeiterinnen werden Worte und Handlungen angedichtet, die sie niemals sagen oder unternehmen würden. Seit einigen Jahren erfreut sich zudem das sogenannte Rückkehr-Narrativ einer erhöhten Beliebtheit: Ein Ich berichtet in retrospektiver Reflexion sowie zeitlicher und sozialer Distanz von den Menschen einer Klasse, der es einmal angehört hat. Genau diese Erzählweise umgeht Schön ist die Nacht sehr bewusst. Die Erzählinstanz ist abwechselnd auf Willy oder Horst perspektiviert, sie ist den Figuren ganz nah, benutzt deren Soziolekt und erlaubt sich keine soziologischen Analysen oder distanzierende Theoretisierungen. Dadurch werden die Figuren nicht von oben herab betrachtet, sondern auf Augenhöhe. Der Roman will die Arbeiterklasse nicht erklären, sondern zeigen. Genau darin liegt seine Stärke.
Den 1929 geborenen Willy und den einige Jahre jüngeren Horst verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Gemeinsam arbeiten sie sich durch die Nachkriegszeit. Baron erzählt aber auch, wie sich dauerhafte Existenzangst und Armut auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirken. Wie Frust, Resignation und Wut nicht nach oben gerichtet werden, sondern gegeneinander, wie der Überlebenskampf am unteren Ende der sozialen Hierarchie auch Freundschaften zerstört.
Aber stopp – Armut im Wirtschaftswunderland? Auch Linke scheinen manchmal nostalgisch auf die »alte« BRD zu schauen. War die Welt vor dem Siegeszug des Neoliberalismus nicht viel besser? Der Diskurs der Nachkriegszeit hat dazu beigetragen, dass wir auch heute noch dazu neigen, diese Jahrzehnte zu verklären.
Der Soziologe Helmut Schelsky sprach 1953 von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« und attestierte Westdeutschland einen gesellschaftlichen »Entschichtungsvorgang«. Empirisch sind seine Aussagen in jeder Hinsicht widerlegt, doch sollten sie das Selbstbild der BRD bestimmen: Es gäbe keine Klassengrenzen mehr, alle könnten am »Wirtschaftswunder« partizipieren, niemand werde ausgegrenzt.
In diesem Selbstbild hatte Armut keinen Platz. Die gab es höchstens als Nachwirkung des Kriegs und der Besatzung, aber nicht als systemisches Problem der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Marxistische Klassenmodelle schienen überholt, stattdessen sprach man lieber vage von Milieus oder Schichten.
Willy war in Ludwig Erhards Versprechen nie mitgemeint.
Der »Vater der sozialen Marktwirtschaft«, Ludwig Erhard, betonte in seinem 1957 erschienenen Buch Wohlstand für alle, dass er nicht müde werde, »dafür zu sorgen, dass die Frucht des wirtschaftlichen Fortschritts immer breiteren und am Ende möglichst allen Schichten des Volkes zugute« komme. Damit zeichnete er ein ideologisches Zerrbild des »Wirtschaftswunderlandes« und des »Wohlfahrtsstaates«, der nie für alle existierte.
Diese idealisierenden Erzählungen stellt Schön ist die Nacht infrage. Der Roman unterläuft die Mythen, die sich bis heute tief in unser kollektives Gedächtnis eingegraben haben. Er erzählt von Lebensrealitäten, die keinen Platz in der Erfolgsgeschichte der BRD als Aufstiegsgesellschaft fanden.
»Er hielt es fest in der Hand, sein kleines Leben, der Zimmerer Willy Wagner.« – Wie in Gilgi, eine von uns bekommen die Lesenden Willy präsentiert. Das Credo eines Franz Biberkopf – »und er tut nun den Schwur, anständig zu sein« – wird ihn über Jahrzehnte begleiten. Aber anständig, was heißt das? Er will arbeiten für sein Geld: »Ich will aus eigener Kraft vorankommen.« »Almosen vom Amt«, das sei das Schlimmste. Doch immer wieder wird deutlich, dass die Leistung des Einzelnen nicht über die Zukunft entscheidet. Weder Aufstiegs- noch Wohlstandsversprechen lösen sich ein.
Der Armutsforscher Christoph Butterwegge betont hierzu: »Obwohl die Wachstumsraten der Bundesrepublik beeindruckend ausfielen – das Bruttosozialprodukt verdreifachte sich zwischen 1950 und 1970 –, verteilte sich der wachsende gesellschaftliche Reichtum allerdings sehr ungleich.«
Klassengegensätze wurden demnach nicht nivelliert, sondern zementiert. 1,7 Prozent der Bevölkerung besaßen um 1960 über 70 Prozent des Produktivvermögens. Willy war in Ludwig Erhards Versprechen nie mitgemeint. Mit seinem Job auf dem Bau bleibt am Ende des Monats nicht viel für seine Frau und Töchter: »Etwas mehr als tausend Mark blieben nach Abzug der Steuern und Abgaben im Monat, und jede davon war hart erarbeitet. Kopf, Nacken, Schulter, Kreuz, Lende – ihm taten sogar Körperteile weh, deren Namen er nicht kannte.« Haus, Urlaub und eine Hollywoodschaukel? – Nicht für Willy: »Seit Jahren hatte Willy sich nichts zum Anziehen gekauft. Ab und zu mal einen Westernroman, dann und wann eine Langspielplatte, das war’s. Kein Pipifax. […] Ob er nicht mal im Urlaub fahren wollte, hatte ihn letztens seine Mutter gefragt. Urlaub! Willy ließ sich seinen Urlaub jedes Jahr auszahlen.«
»Die Geschichte der Arbeiterklasse hat noch keinem geschadet.«
Horst erliegt gar nicht erst dem Vorsatz, »anständig« zu bleiben: »Nur woher nehmen und nicht stehlen? Alle sprachen sie immer von anständiger Arbeit, doch schon die Idee fand er im Grunde zum Kotzen. Wieso waren alle so erpicht darauf, sich gegen ein bisschen Schmerzensgeld kaputtzuschuften?« Doch die große Angst davor, als »Asozialer« zu gelten, sitzt auch tief in ihm. Sein Vater wurde als »arbeitsscheuer Trinker« in Dachau ermordet. Hier thematisiert Baron NS-Verbrechen, die bis heute eher selten zur Sprache kommen. In der Aktion »Arbeitsscheu Reich« wurden 1938 über 10.000 Männer als »Asoziale« in Konzentrationslager deportiert. Menschen, die als unfähig galten, sich in die imaginierte »Volksgemeinschaft« zu integrieren, »unnütze Parasiten«, Obdachlose, Bettler, Arbeitslose. Schön ist die Nacht stellt dar, wie tief sich die nationalsozialistische Ideologie in das kollektive Bewusstsein der BRD eingefressen hatte und wie sie bis heute nachwirkt. Wer den meritokratischen Leistungsanspruch nicht erfüllt, gehört ausrangiert.
In Willy und Horst ist die Angst vor der Arbeitslosigkeit stets präsent: »Doch die geringste Schwäche oder der kleinste Fehler genügten, ein paar verkantete Dübel, und sie würden sich irgendeinen jungen Dudderer suchen und einen guten Mann aufs Altenteil schieben, das kann schneller gehen, als du denkst, gerade hast du noch ein kühles Vormittagspils aufgeploppt, und plötzlich gehst du stempeln statt schaffen.« In der Ohnmacht und all der Frustration nach unten treten, bis man die Gewissheit hat, »nicht mehr der Letzte unter den Getretenen« zu sein, mehr fällt Horst nicht ein. Die sogenannten Gastarbeiter kürt er zum größten Problem, »die können doch nicht in Scharen herkommen, um mal eben abzugreifen, was geht, und dann auch noch den ehrlichen Deutschen die Plätze wegnehmen.« Wie Rassismus in der Arbeiterklasse entsteht, thematisiert der Roman auf schmerzhafte Weise.
Ein Roman, der von den blinden Flecken des »Wirtschaftswunderlands« erzählen will, muss die Schicksale der Gastarbeiter thematisieren. Diese lassen die strahlende Wohlfühlfassade endgültig bröckeln und zeigen tief sitzende Strukturen der Ausbeutung auf. Bis 1973 stieg die Zahl der aus dem Ausland angeheuerten Arbeitskräfte auf 2,6 Millionen, 12 Prozent aller Erwerbstätigen. Willy begleitet den Kollegen Ömer in seine Unterkunft: »Dass hier drin Menschen lebten war Willy neu. Im Hausflur stank es nach Pisse und Geröll. […] Willys Blick ging umher, das Zimmer war vollgestellt mit vier Etagenbetten, dazu standen da Nachttische und ein paar Stühle. An dem kleinen freien Stück Wand Fotos von Erwachsenen und Kindern. Acht Mann auf vielleicht zwanzig Quadratmetern.«
Dass man nicht auf die Gastarbeiter schimpfen soll, sondern sich mit ihnen zusammenschließen muss, das weiß Willys Mutter Hulda. Die Holzschnitt-Kommunistin, die ihren Kater auf den Namen Iljitsch getauft hat, ist ein mahnendes Relikt aus der Zwischenkriegszeit. Willy soll doch endlich die marxistischen Klassiker lesen und der Gewerkschaft beitreten: »Die Geschichte der Arbeiterklasse hat noch keinem geschadet.« Auch die Kapitelüberschriften sind Metakommentare mit sozialistischem Fingerzeig, wenn auf das Brecht’sche Solidaritätslied oder das Einheitsfontlied angespielt wird.
Doch Willy gehen »alle Parteien mittlerweile am Arsch vorbei« und Horst sagt, dass Politik »eh nur Zorres« bringt. Wie soll man auch noch Theoretisches lesen, wenn man um seine Existenz kämpft? »Entweder die Leute lesen, dachte [Horst], oder sie lesen nicht. Er selbst kam ja auch kaum dazu, weil er immerzu rechnen musste.« Als Leserin will man den Figuren zurufen: Hulda ist nicht verrückt oder aus der Zeit gefallen! Sie hat recht!
Schön ist die Nacht ist eine Geschichte von Menschen, denen das Klassenbewusstsein abhanden gekommen ist, für die Streik und kollektive Organisierung keine denkbare Option zu sein scheint. Aber genau dadurch lässt der Roman auf jeder Seite die Wichtigkeit der ungesehenen Klassenstrukturen erkennen. In Huldas Worten: »Dieses Land gehört sehr wenigen, sehr satten Leuten.«
Doch der Roman erzählt nicht nur von Willy und Horst. Die Protagonisten sind eingebettet in die soziale Topographie Kaiserslauterns. Mittelpunkt dieser Welt bildet die »klassische Lauterer Eckkneipe« »Goldmiene« mit der Wirtin Helga, die den Gästen ihre »Schaggadulli« einschenkt. Die Kneipe ist Zuhause, Ort des Zusammenseins und der Nicht-Arbeit, sie ist ein genuiner Ort des mündlichen Erzählens. Sie bietet Raum für Geschichten und Begegnungen, die für einen kurzen Moment Verbindung schaffen, aber auf Dauer wieder vergessen werden.
Didier Eribon stellt in Gesellschaft als Urteil fest: »In Arbeiterfamilien gibt es kein Familiengedächtnis.« Man stoße eher auf eine Abwesenheit von schriftlichen Spuren oder sorgsam archivierten Dokumenten, geschweige denn Erzählungen, die mehrere Generationen zurückreichen: »Es gibt keine [...] Besitztümer, in die sie sich hätten einschreiben können, es sei denn die eigene Familie stammt aus der herrschenden Klasse.« Und wer schreibt schon die Erzählungen der Bauarbeiter aus der Eckkneipe auf oder archiviert sie? Ein Hubert Fichte vielleicht, oder ein Christian Baron.
Willy und Horst werden nie ein Stück vom Wohlstandskuchen abbekommen, egal wie sehr sie sich den Buckel krumm schuften. Das Leben erscheint unfassbar hart, oft unerträglich: »Krieg das mal hin, hier draußen ein normales Leben zu führen. In meiner Lage. Frisch vor die Tür gesetzt. Ohne Anstellung. Ohne Wohnung. Ohne Geld. Ohne Leben.«
Und doch geht es auch um die große Liebe und die kleinen Stunden des Glücks. Etwa in den Szenen zwischen Willy und seiner Frau Rosi, die die Jahrzehnte irgendwie zusammen gemeistert haben. Beim Sterben hält man zusammen, man ist füreinander da, komme, was wolle: »Es gab Verluste, da blieb einem die Luft weg.« Ihnen gegenüber stehen Momente in der »Goldmiene«, die Freude, wenn der 1. FC Kaiserslautern spielt oder Willy den Tango »Schön ist die Nacht« hört. Da sind die Kinder, die es einmal besser haben sollen. Jede Figur versucht den Widrigkeiten zu trotzen. Doch Armut bedeutet ökonomische Ohnmacht und einen begrenzten Handlungsspielraum. Und so stehen Willy und Horst – mit ihren kleinen Leben – vor den Wohlstandsversprechen der BRD und blicken in deren Abgründe.
Christian Baron schafft es mit Schön ist die Nacht, einen überfälligen Blick aus der Arbeiterperspektive auf eben jene Versprechen und damit auf die bundesrepublikanische Geschichte zu werfen. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist dieser ungeschönte Blick von Unten unglaublich wichtig. Wir brauchen Geschichten aus der Arbeiterklasse, die zeigen, dass es eine krisenfreie BRD, in der alle Gewinner sein konnten, nie gegeben hat: Geschichten, die das Leben derjenigen zeigen, die bis heute bewusst nicht mitgedacht oder gefragt werden, die uns erzählen, was Resignation und Frustration mit Menschen machen.
Die Illusionen vom Wohlstand für alle und einer meritokratischen Leistungsgesellschaft müssen angetastet werden. Wir müssen verstehen, warum es diese Narrative gibt, warum sie so erfolgreich sind und wer von ihnen profitiert. Wer gewinnt dadurch, dass uns erzählt wird, jeder hätte eine Chance, die Klassen seien nivelliert, der Wohlstand hart erarbeitet? Genau diese Gemeinplätze bilden bis heute die Grundbestandteile der Legitimationsstrategie der oberen Klassen, mit der eine Politik zu ihren Gunsten gerechtfertigt wird.
In einer Zeit, in der wiederholt betont wird, dass wir alle gleichermaßen individuell verzichten müssen, um die ökonomischen Krisen der Gegenwart zu überwinden, werden diese Narrative aktualisiert. Es lohnt sich deshalb gerade jetzt, einen Blick zurück zu werfen, um die Kontinuität dieser Mechanismen zu verstehen und zu fragen, welche Lebensrealitäten selten miterzählt werden und warum sich Klassenbewusstsein manchmal nicht einstellt, selbst wenn Verzicht für viele die Regel ist.
Christian Baron: Schön ist die Nacht. Roman. Berlin, 2022. Ullstein/Claassen, 23 Euro.