14. August 2022
Großbritanniens Regierung bürdet den Menschen eine brutale Sparpolitik auf. Doch der Vorsitzende der Bahngewerkschaft RMT, Mick Lynch, ist plötzlich zum Medienstar geworden und bringt die Politik in Erklärungsnot.
Kundgebung der RMT in London.
Die Krise der steigenden Lebenshaltungskosten hat Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern an den Rand der Armut gedrängt. Nach einem Jahrzehnt der Lohndrückerei liegt die Inflation bei über 11 Prozent, und selbst das Nötigste ist für viele Menschen in Großbritannien zunehmend unerschwinglich.
Das ist der Hintergrund für den Bahnstreik in diesem Sommer, bei dem die RMT – und jetzt auch die Gewerkschaften ASLEF und TSSA – sowohl gegen die profitgierigen Bahnunternehmen als auch gegen die konservative Tory-Regierung antreten.
Die Minister und Bosse gingen davon aus, dass die Streiks sehr unpopulär sein würden, aber die Umfragen der letzten Wochen haben gezeigt, dass sich die öffentliche Meinung zugunsten der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften verändert hat. Ist dies der Beginn einer breiteren Gegenoffensive der arbeitenden Bevölkerung?
Wir haben mit dem RMT-Vorsitzenden Mick Lynch über den Streik und seine Auswirkungen auf die Arbeiterbewegung gesprochen – und darüber, ob sich das Blatt nicht doch wenden könnte.
Seit dem Beginn des Bahnstreiks im Juni ist viel passiert, aber ich denke, es lohnt sich, daran zu erinnern, warum der Streik begonnen hat. Kannst Du uns ein paar Hintergrundinformationen zu dem Konflikt geben?
Der Hintergrund ist die Coronakrise. Als die Pandemie ausbrach, gingen die Passagierzahlen zurück, weil man die Leute bat, zu Hause zu bleiben. Und die Leute wiederum kamen zu uns, der Regierung und den Unternehmen, und sagten, die Bahnbranche müsse sich ändern. Die Firmen wollten dies als einmalige Gelegenheit nutzen, um die Kosten zu senken und die Arbeitspraktiken zu ändern, worauf sie seit Jahren hinarbeiten. Das ist es also, was sie angestrebt haben.
Das Projekt wurde auf den Sommer 2020 verschoben, weil die Zugbetreiber zusammengebrochen sind. Seitdem arbeiten sie an Notmaßnahmen und Verträgen für den Personenverkehr. Die Regierung hat den Mund sehr voll genommen und gesagt: »Wir werden das gesamte Risiko aus eurem Geschäft auf uns nehmen. Ihr müsst kein Kapital mehr riskieren. Eure Rendite wird zwar geringer sein, aber sie ist garantiert.«
Sie haben jetzt ein Modell, bei dem die Unternehmen im Wesentlichen eine Gebühr für alle Kosten des Geschäfts erhalten. Bevor sie das taten, wollten die Unternehmen selbst – FirstGroup, Go-Ahead, Abellio und so weiter – nicht gegen die Arbeiterinnen und Arbeiter vorgehen, weil sie wussten, dass dies zu Arbeitskämpfen führen würde. Das ist der Hintergrund: Es geht um eine allgemeine Kostensenkung.
Bei der Londoner U-Bahn gibt es die gleichen Probleme: Kürzungen in Höhe von 2 Milliarden Pfund bei Transport for London, die auch die Londoner Busse, Straßen und alles Mögliche andere betreffen. Bei der Vollbahn, wie wir sie nennen – der Overground, der früheren British Rail – sind es weitere 2 Milliarden Pfund. Dieses Geld muss also irgendwo aufgetrieben werden. Normalerweise hätte British Rail gesagt: »Lasst uns einfach die Leistungen kürzen.« Man kürzt die Dienste um den jeweiligen Betrag und streicht die entsprechende Anzahl von Stellen. Sie wollten das aber nicht tun, weil sie das System wieder zum Laufen bringen wollen, und zwar auf einem Niveau, das über dem von vor der Pandemie liegt, sodass es dann wieder Gewinne einbringt. Sie wollen, dass das Angebot intakt bleibt – aber sie wollen die Arbeitsbedingungen angreifen und die Lohnkosten senken. So einfach ist das.
Dies ist eine aggressive Aktion der Unternehmen – und ein defensiver Streik von uns. Ihre Panzer stehen auf unserem Rasen. Wir versuchen etwas sehr Schwieriges: die betriebsbedingten Kündigungen zu stoppen, die Arbeitsbedingungen zu verteidigen und eine Lohnerhöhung zu erreichen – und das alles zur gleichen Zeit. Seit Corona gab es keine Lohnerhöhungen mehr, sondern einen Lohnstopp. Es gibt ein paar Unterschiede in den verschiedenen Unternehmen, weil es unterschiedliche Restvereinbarungen gab, aber die meisten Leute haben seit zwei oder drei Jahren keine Lohnsteigerungen mehr gesehen. Es ist ein Streit um Kosteneinsparungen, Arbeitsplatzabbau und Lohnkürzungen. Das alles müssen wir abwehren.
Glaubst Du, dass den Chefs der [Infrastrukturgesellschaft] Network Rail und vielleicht auch der Regierung eine Zukunft für die Bahn ohne eine gut organisierte, kämpferische Gewerkschaft wie die RMT vorschwebt?
Ich glaube, sie würden die Gewerkschaft gerne zerschlagen oder unsere Macht so weit wie möglich schwächen. Sie wissen, dass das, was sie auf den Tisch legen, für die Gewerkschaft absolut nicht annehmbar ist. Wenn wir uns darauf einlassen, wird das unseren Ruf ruinieren, aber wenn wir kämpfen, könnte es eine lange und zermürbende Auseinandersetzung werden. Sie haben es sicherlich auf unsere Gewerkschaft abgesehen, weil wir wirksame Maßnahmen ergriffen haben. Sie versuchen, uns wie einem Insekt die Flügel und Beine auszureißen, mit Sachen wie dem Mindestfahrplan und Geldstrafen für illegale Aktionen. Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll. Wahrscheinlich werden sie unsere Mittel irgendwann einfach für illegal erklären. Dann drohen Leih- oder Ersatzarbeit.
Letztendlich bedeutet das, dass die Unternehmen, wenn sie dabei sind, einen Streik oder die Unterstützung der Öffentlichkeit zu verlieren, versuchen werden, die Gesetzeslage zu ihren Gunsten zu verändern. Wenn es inmitten von Arbeitskämpfen zu Gesetzesänderungen kommt, ist das Repression der übelsten Sorte. Wir wären dann auf die Unterstützung der anderen Gewerkschaften angewiesen. Aber ich denke, in den letzten Wochen haben sie gesehen, dass die RMT an der Spitze der Bewegung steht und auch für sie kämpft. Im ganzen Land müssen die Menschen den Gürtel enger schnallen, und ich denke, dass wir auch deshalb so viel Unterstützung erhalten.
Wir wollen das nicht bis zum Märtyrertum überstrapazieren, immerhin wollen wir für unsere Leute einen Tarifabschluss erzielen. Wir wollen in die Auseinandersetzung gehen, streiken, verhandeln, ein Ergebnis erreichen und den Arbeitskampf sauber zu Ende bringen. Das wäre uns viel lieber, als eine lange Auseinandersetzung, denn dabei würde, um es ganz offen zu sagen, am Schluss weniger für uns herauskommen. Ich glaube aber, dass die Unternehmen und die Regierung auf das große Ganze schauen. Sie würden uns liebend gern Schaden zufügen. Wir müssen uns taktisch sehr geschickt anstellen. Ich werde mich jetzt nicht hier hinstellen und verkünden: »Wir streiken für die nächsten sechs Monate ohne Unterbrechung, komme, was wolle.« Ich glaube nicht, dass unsere Mitglieder das mittragen würden. Wir werden uns also genau überlegen, wie wir vorgehen. Wir hoffen, dass die anderen Eisenbahngewerkschaften sich uns anschließen werden, selbst wenn sie eigene Ziele verfolgen. Wenn wir uns abstimmen können, wird das den Druck auf die Bahnunternehmen und die Regierung enorm erhöhen.
Wir haben es also mit zwei verschiedenen Anliegen zu tun? Einerseits euer Streik, von dem du sagst, er sei defensiv. Gleichzeitig gibt es aber in allen Branchen wegen der gestiegenen Inflationsrate die Forderung nach höheren Löhnen. Die RMT und die CWU, die die Angestellten der Royal Mail und der British Telecom vertritt und ebenfalls einen Streik plant, sind zwei der aktivsten und am besten organisierten Gewerkschaften im ganzen Land. Eure Arbeitskämpfe werden Maßstäbe setzen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es bei euren Streiks bleiben wird. Wie nimmst du die Gesamtsituation wahr?
Sie wird auf jeden Fall brenzliger. Im ersten Jahr, in dem unsere Löhne eingefroren wurden, jedenfalls bei Network Rail, betrug die Inflationsrate nur 0,9 Prozent. Wenn es im nächsten Jahr eine ordentliche Lohnerhöhung gegeben hätte, wäre das kein großes Thema gewesen.
Ich denke, dass sich eine Bewegung formiert. Arbeitende Menschen, die sich vielleicht nicht mal als Mitglieder der Arbeiterklasse verstehen, müssen Wege finden, sich zu organisieren. Die Gewerkschaften müssen sich auf ihre Kernaufgabe besinnen und ihnen zeigen, wie man das macht. Wir müssen vermitteln, dass es keinen Sinn ergibt, nur angefressen zu sein. Man muss sich hinstellen und sagen: »Daraus machen wir jetzt eine Organisation mit einer Liste von Forderungen und einer Strategie, für sie zu kämpfen und Verhandlungen darüber zu erzwingen.« Die meisten Menschen in diesem Land haben keine Ahnung, wie man eine Lohnerhöhung bekommt. Sie arbeiten nicht in Betrieben, in denen auf Augenhöhe darüber verhandelt wird. Weil es keine Gewerkschaft gibt, gibt es auch keinen Rahmen für Verhandlungen.
Wenn man zum Beispiel für Amazon oder eine dieser großen Logistikfirmen arbeitet, gibt es keinen Ort, an dem man Forderungen einbringen oder über Löhne und Arbeitsbedingungen verhandeln könnte. Die Gewerkschaften müssen zeigen, dass sie solche Zustände beenden können. Wir müssen die Beschäftigten in Massen organisieren. Ich hoffe, dass wir viele Reinigungskräfte für uns gewinnen können. Aber um dies zu erreichen, müssen wir mit der CWU, Unite, der GMB und anderen Gewerkschaften zusammenarbeiten, die im öffentlichen Sektor und unter den kommunalen Beschäftigten stark präsent sind – im Grunde mit jeder Gewerkschaft, die Reinigungskräfte mit Arbeitsvertrag vertritt. Wir müssen aufzeigen, dass wir zur massenhaften Organisation fähig sind und die Themen, die die Menschen bewegen, zur Mobilisierung nutzen können. Ob es nun um Reinigungskräfte geht, die wir etwa bei unserer Kampagne in Churchill organisiert haben, um die Mitie-Beschäftigten, die sich unserer Kundgebung angeschlossen haben, um Catering-Beschäftigte oder ähnliche Arbeitsbereiche. Dort müssen wir ansetzen.
Die Leute sind bereit, organisiert zu werden. Das war nicht immer der Fall, aber im Moment ist es definitiv so. Die Gewerkschaften müssen sich stärker ins Zeug legen. Und der Gewerkschaftsbund TUC muss einen Weg finden, diese Welle der Empörung für sich zu nutzen. Wenn sie nicht aufpassen, werden die Gewerkschaften selbst vorpreschen und neue Allianzen schmieden. Das könnte bereits in den nächsten Monaten passieren; einige der großen Gewerkschaften könnten Wege finden, auch ohne den TUC gemeinsame Kampagnen zu organisieren. Ich glaube, man sollte dort sehr darauf achten, dass man relevant bleibt.
Wir können gerade beobachten, dass sich die öffentliche Wahrnehmung des Bahnstreiks auf erstaunliche Weise verschiebt. Nach einer Woche Streik hat die Zustimmung für den Arbeitskampf um 13 Prozent zugenommen. Das ist bisher noch nie so gewesen – ein Bahnstreik ist schließlich etwas sehr Lästiges. Was denkst du über die zunehmende Beliebtheit der Gewerkschaften?
Ich denke, die Leute warten auf uns, und wir müssen sie dort abholen, wo sie stehen. Wir müssen in Arbeitervierteln präsenter werden. Dave Ward von der CWU weist mit seinem Vorschlag eines New Deal for Workers einen möglichen Weg dahin. Wir müssen für die Leute liefern.
In den letzten Jahren gab es viele Meinungsverschiedenheiten, zum Beispiel zum Thema Brexit. Die Nachwahl in Wakefield illustriert das gut. Der Wahlkreis war früher fest in der Hand von Labour, hat für den Brexit gestimmt, ist dann an die Tories gefallen und jetzt hat Labour ihn zurückerobert.
Wenn man die Leute dort fragt, was sie über die öffentliche Daseinsvorsorge denken, würden sie wahrscheinlich so etwas sagen wie: »Wir wollen eine Bahn in öffentlicher Hand. Wir wollen, dass [der nationale Gesundheitsdienst] NHS ausreichend finanziert wird. Wir wollen keine Privatisierungen im Gesundheitswesen.«
Ich glaube, beim Brexit hat eine Rolle gespielt, dass die Leute einerseits einem bisschen Nationalismus gegenüber nicht abgeneigt waren, andererseits aber auch mehr Dinge an die öffentliche Hand zurückgeben und die traditionellen Werte von Labour und der Arbeiterbewegung hochhalten wollten. Boris Johnson ist es irgendwie gelungen, diese Stimmung auszunutzen. Er hat ein bisschen Geld ausgegeben. Als die Energiekosten anstiegen, hat er Labour ausmanövriert. In der britischen Politik wird gerade vieles durcheinandergewürfelt.
Johnson selbst weiß auch nicht, woran er wirklich glaubt. Ursprünglich wusste er sehr genau, wie man sich beim Tory-Publikum beliebt macht. Aber jetzt hat er ihnen zu viel Geld ausgegeben, und was sie wirklich wollen, sind Steuersenkungen. In den letzten Jahren hat seine politische Botschaft viele Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse erreicht, während Labour diese Leute zunehmend kalt gelassen hat. Und ob es uns passt oder nicht, in vielen Arbeitervierteln konnten die Leute auch mit Jeremy Corbyn wenig anfangen. Starmer dachte, er könnte es besser, aber auch ihm gelingt das nicht wirklich. Jetzt sind wir in einer Situation, in der manche Gewerkschaften offen sagen: »Was Labour sagt, interessiert uns nicht mehr. Politisch wird sich dadurch nichts verändern – aber durch Streiks können wir etwas erreichen.« Dave Ward, Sharon Graham, Gary Smith und ich selbst haben Aussagen getroffen, die in diese Richtung gehen.
Die Arbeiterbewegung im weitesten Sinn, inklusive Magazine wie Tribune, sollten ebenso wie die Gewerkschaften klar kommunizieren: »Wir haben ein festes Wertegerüst, das sich nicht einfach verrücken lässt, auch wenn sich der politische Kontext verändert.« Dazu könnten gute Löhne gehören, aber auch verbriefte Rechte für Arbeiterinnen und Arbeitslose, die nicht wieder zurückgenommen werden können. Minimale Standards, die gesetzlich oder tariflich festgeschrieben sind. Öffentlicher Wohnraum und öffentliche Daseinsvorsorge. Wir dürfen nicht aufhören, über diese permanente Wertebasis zu sprechen.
Starmer, oder wer auch immer ihm nachfolgen wird, wäre dann gezwungen, zu sagen: »Am besten, ich beziehe mich auf diese dauerhaften Werte, denn sie scheinen in Arbeitervierteln anzukommen.« Denn das werden sie. Die Tories haben ebenfalls eine permanente Wertebasis: niedrige Steuern, die Verteidigung der Nation, ein traditionelles Familienbild. Ich glaube, die Gewerkschaften müssen aufs Neue definieren, welche Werte wir vertreten. Die Labour Party muss sich dann daran orientieren. Nur so kann man sie zum Umdenken bewegen – das gelingt nicht mit Politikvorschlägen oder durch Fokusgruppen. Sobald man sich darauf einlässt, wird es Politikerinnen geben, die sich daran orientieren wollen, was die [rechte Boulevardzeitung] Daily Mail sagt. Der Zerfall von Gemeinschaften hat viele Leute etwas orientierungslos hinterlassen und die einzige Möglichkeit, darauf einzugehen, liegt in der Vermittlung einer dauerhaften Wertebasis.
In den letzten Wochen hast Du uns eine Lektion darin erteilt, wie wichtig es ist, offen und ehrlich zu kommunizieren. Warum, denkst Du, hat dein Umgang mit Journalistinnen und Regierungsmitgliedern solche Wellen geschlagen?
Ich glaube, der Zeitpunkt war einfach der richtige. Die Leute haben einfach immer weniger in der Tasche und machen sich Gedanken, wie man das ändern könnte. Auf die Regierung oder auf Labour machen sie sich keine Hoffnungen. Wir sprechen sie also an und sagen ihnen: »Was euch fehlt, ist eine Lohnerhöhung. Und wir sind bereit, gemeinsam mit euch dafür zu kämpfen.« Beschäftigte in anderen Branchen sagen sich dann: »Das brauchen wir bei uns auch!« Das Timing hat also eine Rolle gespielt, aber auch die Tatsache, dass wir als Gewerkschafter aufgehört haben, uns permanent dafür zu entschuldigen, wer wir sind. Kennst du die Zeile aus dem Lied »Galway Bay«? »They blamed us for being what we are«? Wenn mich heute jemand einen Dinosaurier nennt, ignoriere ich das einfach.
Wir sollten auch aufhören, uns für Streiks zu rechtfertigen. Natürlich sollte man sich bei den Leuten entschuldigen, die darunter leiden. Aber dann sollte man ihnen auch erklären, warum wir das tun, und wie das mit der Situation an ihrem eigenen Arbeitsplatz zusammenhängt. Wir sollten den Leuten vermitteln, dass Tarifverhandlungen und Streiks das Mittel der Wahl sind, um einen Interessenausgleich mit den Unternehmen herzustellen. Ich habe versucht, das zu erklären. Diese und letzte Woche hat das auch gut funktioniert, aber wer weiß, ob es nächste Woche auch so sein wird. Das bleibt abzuwarten, aber ich denke, was ankommt, ist die Botschaft und nicht ich als Person.
Ich glaube, dass sich das Bild der Gewerkschaften in den letzten Jahren gewandelt hat. Sie sind beliebter geworden und werden als legitime Institutionen akzeptiert, weil die Leute verstanden haben, dass sie eine gerechtere Wirtschaft erkämpfen und der massiv gestiegenen Ungleichheit etwas entgegensetzen können. Allerdings schlägt sich das noch nicht in einem Anstieg der Mitgliederzahlen nieder. Doch es findet eine Entwicklung statt. 2017 gingen nur 33.000 Beschäftigte in den Streik. Allein diesen Sommer könnten es über 250.000 werden. Wie können wir diese neue Beliebtheit und den neuen Schwung in der Arbeiterbewegung, den diese Streiks bringen werden, am besten ausnutzen?
Diesen Wandel erreicht man nicht mit Lobbyismus. Das ist das Problem einer rein parlamentarischen Strategie. Man muss direkt für die Sache werben. Wenn die Leute unter Niedriglöhnen und schlechten Arbeitsbedingungen leiden, brauchen wir eine Kampagne, die daran anknüpft. Man muss die Beschäftigten dazu bringen, einer Gewerkschaft beizutreten, und dann muss man sie zu effektiver Kampagnenarbeit motivieren. Es muss aktiv an einem Projekt gearbeitet werden, um die Situation zum Besseren zu wenden. In der Vergangenheit ist es manchmal vorgekommen, dass wir die Leute zwar in die Gewerkschaften rekrutieren konnten, aber es nie zu Verhandlungen mit den Unternehmen kam.
Selbstverständlich braucht man einen harten Kern an Leuten, die bereit sind, zu kämpfen, aber dann muss man sich auch ein Ziel setzen. Man muss bereit sein, Lohnforderungen zu stellen, selbst wenn man als Gewerkschaft gar nicht offiziell anerkannt ist. Nachdem wir unseren Arbeitskampf erfolgreich geführt haben, wird man uns schon anerkennen. Es bringt nicht, ewig darauf zu warten, dass einen das Unternehmen offiziell akzeptiert.
Den meisten Leuten geht es ums Geld. Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen folgen dann meist nach. Wir müssen die Leute mobilisieren, nicht nur rekrutieren und Beiträge von ihnen einsammeln. Ich glaube, als wir all die »Organisationsseminare« in den 1990ern und 2000ern hatten, war das häufig das Resultat. Man hat den Leuten beigebracht, wie sie Gewerkschaftsmitglieder anwerben. Aber soweit ich weiß, hat niemand darüber gesprochen, wie man tatsächlich einen Arbeitskampf gewinnt. Das ist es aber, was die Gewerkschaften stärken würde. Was eine Gewerkschaft stark macht, sind ihre Kampagnen, nicht die Flugblätter und Werbeartikel. Man muss die Leute dafür gewinnen, am Arbeitsplatz aktiv zu werden.
Zu guter Letzt: Um auf euren aktuellen Streik zurückzukommen, so kennen wir die Umfragewerte von letzter Woche, und die Regierung kennt sie ebenfalls. Der Schauspieler Rob Delaney hat bei unserer Solidaritätskundgebung gesagt, dass die RMT die »Speerspitze« einer neuen Streikwelle sei. Ich glaube, das ist richtig...
Kommt darauf an, in wem der Speer steckt...
Stimmt! Aber wenn wir davon ausgehen, dass die Regierung das genauso sieht, glaubst Du, dass sie deshalb entschlossen ist, kein bisschen nachzugeben, und bei Network Rail und den Bahnunternehmen Druck machen wird, ebenfalls nicht klein beizugeben?
Ja, ich glaube, dass das eine Rolle spielt. Die Gefahr, dass sie sich gänzlich quer stellen und wir keine Einigung erzielen, besteht definitiv. Aber was sie von uns und von den Menschen im ganzen Land verlangen, ist untragbar. Die Arbeitsbedingungen, die man uns aufdrücken will – die vollständige Abschaffung jeglicher Beschäftigungssicherheit – stellen einen so brutalen Einschnitt dar, das wir gar keine Wahl haben, als in diese Auseinandersetzung zu gehen. Wenn wir uns ihr nicht stellen würden, wäre das unser Ende. Wir müssten uns ohne eine Lohnerhöhung und ohne die Chance, unsere Arbeitsbedingungen zu verteidigen, ergeben. Das können wir nicht bringen. Ich glaube, wir tun, was wir tun müssen, selbst wenn das Risiko besteht, dass man an uns ein Exempel statuieren will.
Deswegen ist es so wichtig, dass die Leute hinter uns stehen. Wir brauchen überall im Land Unterstützung, bei jeder Streikaktion, bei jeder Kundgebung, wie etwa der, die Tribune am Bahnhof King’s Cross organisiert hat. Ich denke, bevor es erneute Gespräche gibt, sind weitere Streiks unausweichlich. Sie lassen uns keine andere Wahl. Wir müssen alle hinter uns versammeln, um diese Regierung vor uns herzutreiben. In bestimmten Situationen werden sie sehr schnell nachgeben. In der Vergangenheit haben sie oft Rückzieher gemacht, auch wenn sie vorher sehr laute Töne gespuckt hatten. Wir müssen die weitere Entwicklung abwarten, aber eigentlich haben wir keine Alternativen. Wir müssen diese Haltung einnehmen und den Kampf bis zum Ende durchstehen.
Wenn es uns nicht gelingt, bei 11 Prozent Inflation einige Kämpfe zu gewinnen...
Wenn wir das nicht schaffen, werden die Leute sagen: »Die Gewerkschaften sind nutzlos. Wozu brauchen wir sie überhaupt?« Der wahre Wert von Gewerkschaften zeigt sich oft anhand solcher Kämpfe, weil offensichtlich wird, dass man ohne sie und ihre Kampagnen in einer viel schlechteren Position wäre. Wir stehen vor der Wahl, jetzt zu kämpfen, oder uns mit unserer Irrelevanz abzufinden.
Mick Lynch ist Generalsekretär der britischen Bahngewerkschaft RMT.