24. Juni 2022
Der übermächtige Supreme Court hat das Recht auf Abtreibung gekippt – entgegen dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung. Im JACOBIN-Interview erklärt die Aktivistin und Autorin Jenny Brown, warum der liberale Feminismus in den USA gescheitert ist und wie wir den Kampf um reproduktive Rechte gewinnen können.
Nachdem bekannt wurde, dass der Supreme Court plant, das Abtreibungsrecht zu kippen, gingen Tausende für reproduktive Rechte auf die Straße, New York, 14. Mai 2022.
Wovon Konservative in den USA seit Jahrzehnten träumen, ist jetzt traurige Realität geworden: Der Supreme Court deklariert die 49 Jahre alte Entscheidung im Fall »Roe v. Wade« zum Fehlurteil und widerspricht damit der Auffassung, die Verfassung der USA garantiere ein Recht auf reproduktive Freiheit. Das Urteil stammt aus der Feder des Bundesrichters Samuel Alito, der seinerzeit von George W. Bush ernannt wurde. Die Entscheidung hat schon jetzt ein Legitimationsproblem. Denn sie spiegelt nicht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung wieder, sondern lediglich die der konservativen Richterinnen und Richter am US-Verfassungsgericht.
Die Regulierung von Abtreibungen wird jetzt wieder Sache der Bundesstaaten. In den meisten konservativ regierten Bundesstaaten haben die Parlamente bereits vorsorglich weitreichende Abtreibungsverbote beschlossen. Durch das heutige Urteil wird eine Mehrheit der US-Amerikanerinnen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch sehr bald verlieren.
Schon in der Vergangenheit haben regressive Entscheidungen des Gerichts konservativen Staaten die Möglichkeit eröffnet, legale Abbrüche durch teilweise absurde regulatorische Auflagen praktisch unmöglich zu machen. Das überteuerte, profitorientierte US-Gesundheitssystem tut sein Übriges, um sicherzustellen, das dieses über Jahrzehnte gültige Verfassungsrecht für hunderte Millionen – vor allem ärmere – Frauen in den USA bereits heute nur auf dem Papier existiert. Das zeigt einmal mehr, dass die Strategie des liberalen Feminismus und der Demokraten auf ganzer Linie gescheitert ist.
Im JACOBIN-Interview erklärt Jenny Brown, Autorin von Birth Strike: The Hidden Fight Over Women’s Work und Mitglied der National Women’s Liberation, warum wir den Kampf um das Abtreibungsrecht nur gewinnen können, wenn wir aufhören, reproduktive Rechte als Frage der persönlichen Wahlfreiheit zu begreifen und uns auf das zurückbesinnen, worum es tatsächlich geht: die grundlegenden Lebensumstände von uns allen.
Der Oberste Gerichtshof hat die Entscheidung Roe v. Wade aus dem Jahr 1973 gekippt und damit geleugnet, dass die US-Verfassung das Recht auf Abtreibung schützt. Die Demokraten haben in den letzten Jahren ständig beteuert, sie würden reproduktive Rechte durch Gesetzesvorhaben schützen, weshalb es wichtig sei, die Partei zu wählen. Allerdings hatten die Demokraten in der Vergangenheit reichlich Gelegenheit genau das zu tun – und nichts ist geschehen. Welche Verantwortung trägt die Demokratische Partei?
Die Reaktion der Demokraten auf diese Entscheidung – die schon seit einiger Zeit vorhergesagt und erwartet wurde – lässt sich recht einfach zusammenfassen: »Vote blue! Hört ja nicht auf, uns zu wählen!« Aber es ist unklar, was sie ihren Wählerinnen und Wählern tatsächlich versprechen. Aktuell haben sie kaum Handlungsmöglichkeiten, es sei denn, sie schaffen die sogenannte Filibuster-Regel im Senat ab, die vorsieht, dass zur Verabschiedung der meisten Gesetze 60 von 100 Stimmen erforderlich sind. Im Moment haben die Demokraten aber keine Chance, die Filibuster-Regel abzuschaffen, weil es zwei demokratische Senatsmitglieder gibt – Kyrsten Sinema und Joe Manchin –, die sich dem Vorhaben versperren. Solange sie diese beiden Angehörigen des Senats nicht ersetzen oder neue Sitze hinzugewinnen, ist völlig unklar, wie die Demokraten eine erfolgreiche legislative Initiative für Abtreibungsrechte umsetzen könnten. Momentan sind wir in dieser Situation, weil das demokratische Establishment nichts gegen Abgeordnete wie Sinema und Manchin tut, obwohl diese Leute das Vorhaben der Partei sabotieren.
»Unser schwerfälliges politisches System ist auf den Umgang mit einer so politisierten Judikative nicht ausgelegt. Die Justiz war schon immer politisch, aber sie ist in den letzten Jahrzehnten extremer, und vor allem rechter geworden.«
Henry Cuellar aus Texas ist zum Beispiel der einzige Demokrat, der im Repräsentantenhaus gegen den Women’s Health Protection Act [Anm. d. Red.: Gesetz zum Schutz der Gesundheit von Frauen, das die Entscheidung im Fall Roe v. Wade als Bundesrecht kodifizieren würde] gestimmt hat. Seine progressivere Herausforderin bei den jüngsten Vorwahlen Jessica Cisneros ist hingegen für Abtreibungsrechte. Trotzdem unterstützt das demokratische Establishment, einschließlich der Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi, die Kandidatur von Cuellar, anstatt die von Cisneros. Das zeigt, dass man als Abgeordneter der Demokratischen Partei keine großen Probleme zu erwarten hat, wenn man sich gegen reproduktive Rechte stellt. Die Partei diszipliniert ihre Mitglieder nicht und lehnt sich einfach zurück.
Das Parteiestblishment, mit Ausnahme einiger linker Rebellinnen und Rebellen, ist von reichen Spenderinnen und Spendern abhängig, denen das Recht auf Abtreibung im Grunde egal ist. Ihnen liegt mehr daran, die Geburtenrate zu erhöhen, um das Wirtschaftswachstum zu befeuern und ihre Möglichkeiten, Profite zu erwirtschaften, zu erweitern. Das Negativbeispiel, das in diesem Zusammenhang immer genannt wird, ist Japan, wo das Bevölkerungswachstum inzwischen abnimmt. Die Erklärung für zwei Jahrzehnte der Stagnation lautet nun: Es gibt immer mehr weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter.
Sowohl liberale als auch konservative Thinktanks machen sich sehr viele Gedanken über die Geburtenrate. Es gab für die herrschende Klasse nie besonders viele Anreize, den Zugang zu Abtreibungen und Verhütungsmitteln für alle sicherzustellen. Eine Ausnahme bildeten die 1960er Jahre, als Frauen in den Arbeitsmarkt integriert werden sollten, man die Kosten für Kinderbetreuung und Mutterschutz aber nicht übernehmen wollte. Damals war es üblich, weiblichen Beschäftigten im Fall einer Schwangerschaft zu kündigen. Doch heute sind die Löhne so niedrig, dass beide Eltern arbeiten gehen müssen, man hat einfach keine andere Wahl. Daher macht sich heute niemand mehr ernsthaft Sorgen darüber, dass sich Frauen durch Familiengründung dem Arbeitsmarkt entziehen könnten.
Ich glaube nicht, dass sich das Establishment, von dem die Demokraten abhängig sind, um die reproduktiven Rechte der Arbeiterklasse schert. An der Parteibasis ist vielen das Thema natürlich wichtig, weshalb die Demokraten diesen Interessenkonflikt in Einklang bringen müssen. Dieses ambivalente Verhältnis führt dazu, dass sie das Thema mit Desinteresse behandeln und nicht klar Position beziehen.
Und was ist mit liberalen feministischen Organisationen? Sie sind doch eigentlich ein wichtiger Teil der demokratischen Koalition. Warum machen sie keinen Druck auf die Partei?
Der ganze NGO-Komplex der USA, der mit der Demokratischen Partei eng verflochten ist, ist nicht mehr in der Lage, Massen zu mobilisieren. Die wissen nur noch, wie man Spenden einsammelt. Die Massenmobilisierung, die wir beobachten, ist zum Großteil spontan. Wenn man eine Demo angekündigt, kommen die Leute, aber nicht unbedingt als Teil einer größeren Organisation. Sie sind einfach nur empört über das, was sie aus den Medien erfahren haben.
»Heute sind die Löhne so niedrig, dass beide Eltern arbeiten gehen müssen, man hat keine andere Wahl. Niemand macht sich heute ernsthaft Sorgen darüber, dass sich Frauen durch Familiengründung dem Arbeitsmarkt entziehen könnten.«
Die Leute erwarten, dass die großen feministischen NGOs wie Planned Parenthood und NARAL Pro-Choice America die Massen mobilisieren. Und diese Organisationen hätten auch die Ressourcen, um eine tatsächliche Massenbewegung zu versammeln, aber das haben sie bisher nicht getan. Die Demokraten haben vonseiten der Bewegung im Moment also keinen besonders großen Druck zu erwarten. Natürlich könnte man das verändern. Dazu müssten wir aber aufhören, Abtreibung als persönliche Entscheidung zu framen und unsere Appelle an Abgeordnete, Richterinnen und Geldgeber zu richten. In den letzten Jahren hat sich die Bewegung leider hauptsächlich mit dieser fehlgeleiteten Strategie aufgehalten.
Als im Mai ein Entwurf des Urteils geleakt wurde, war die öffentliche Empörung zunächst groß. Die darauffolgenden Reaktionen, vor allem vonseiten der Demokraten, waren allerdings relativ verhalten. Abgesehen von der Aufforderung, die Demokraten wieder zu wählen, hat die Partei kaum etwas unternommen.
Ich glaube schon, dass es einen Widerstand gibt. Aber der versammelt sich auf der Straße, ganz besonders in den Staaten, in denen Abtreibungen nun illegal werden könnten. In den Medien hört man davon nicht unbedingt viel, weil es kaum Anreize gibt, über uns zu berichten. In Florida hat meine Gruppe, die National Women’s Liberation, eine landesweite Kampagne gestartet, bei der Menschen ein öffentliches Bekenntnis ablegen, »Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch« leisten zu wollen. Mitglieder von Shout Your Abortion haben vor dem Gerichtshof Mittel für medikamentöse Abbrüche eingenommen.
Wenn wir auf Demonstrationen Leute fragen, ob sie bereit sind, das Gesetz zu brechen, um jemandem Zugang zu einer Abtreibung zu verschaffen, sind einige vielleich erst zögerlich, aber unterschreiben dann häufig dennoch. Andere sind sofort Feuer und Flamme. Unserer Erfahrung nach bewegt das Thema die Menschen sehr, und viele von ihnen sind bereit, Dinge zu tun, die sie vielleicht sonst nicht tun würden. Das Potenzial für eine Massenmobilisierung ist also auf jeden Fall vorhanden.
Wie können sozialistische Feministinnen dieses Potenzial zu nutzen?
Ich glaube, wir sollten aufzeigen, dass die Beschneidung reproduktiver Rechte ein Teilaspekt einer ausbeuterischen Agenda ist. Im Zentrum dieses Verständnis steht die Idee der »reproduktiven Gerechtigkeit«, ein Konzept, dass von Schwarzen Feministinnen 1994 in Reaktion auf die Gesundheitsreform von Bill und Hillary Clinton formuliert wurde, die reproduktive Rechte ausklammerte. Diese Ideen wurden von der Gruppe SisterSong aus Atlanta weiterentwickelt. Dabei geht es darum, das Recht, keine Kinder zu bekommen, genauso abzusichern wie das Recht, Kinder zu bekommen, und zwar in einem sicheren und gesunden Umfeld.
Im Moment wird unser Recht, keine Kinder zu bekommen, angegriffen, und zwar im Wesentlichen weil wir uns in den USA inmitten eines inoffiziellen Geburtenstreiks befinden, da die Bedingungen, um Kinder aufzuziehen, so miserabel sind. Die Geburtenrate ist so niedrig wie noch nie und liegt derzeit bei etwa 1,64 Geburten pro Frau, was für die USA eine deutliche Abnahme darstellt.
»Es geht um viel mehr als um das Recht auf Abtreibung und Verhütungsmittel. Dieser Kampf muss Teil eines allgemeinen Programms für ein besseres Leben für die Arbeiterklasse werden.«
Bei der National Women’s Liberation haben wir vor einigen Jahren festgestellt, dass viele von uns nur ein Kind bekommen haben, obwohl wir eigentlich gerne weitere Kinder gehabt hätten. Aber unsere Lebensumstände haben das einfach nicht erlaubt. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen hierfür sind einfach zu schlecht: Mangel an Zeit, die enormen Kosten von Betreuungsangeboten, die Sorgen wegen unzuverlässiger Gesundheitsversorgung und unserem Krankenversicherungsstatus, die unzureichende Elternzeit und zu wenige Urlaubstage. Viele Arbeitgeber begrenzen außerdem die Zahl der Krankheits- und Pflegetage, weshalb man nicht weiß, ob man sich um kranke Kinder überhaupt kümmern könnte. Eine zentrale Rolle spielt natürlich auch das Lohnniveau, das viel zu niedrig ist. Auch bei uns gab es selbstverständlich Frauen, die nie Kinder wollten und die keine hatten, aber für alle, die sich Kinder wünschten, waren diese Faktoren entscheidend.
Wir können beobachten, dass der Neoliberalismus all diese Kosten, Risiken und Unannehmlichkeiten auf Familien abwälzt und dass viele der Unterstützungsangebote, die wir eigentlich erwartet hätten, gekürzt wurden. Es geht also um viel mehr als um den Kampf für das Recht auf Abtreibung und Verhütungsmittel – es geht um unsere gesamten Lebensumstände. Wenn wir mehr für unsere Familien einfordern und wenn wir die widrigen Bedingungen, unter denen wir Familien gründen sollen, verbessern möchten, dann bekommen wir vom Establishment zu hören: »Jetzt stellt euch mal nicht so an und bekommt gefälligst mehr Kinder!«
Ich glaube, unsere Aufgabe besteht darin, zu vermitteln, dass sie von uns wollen, dass wir Kinder bekommen, aber dafür nichts bezahlen wollen. Dieser Kampf muss Teil unseres allgemeinen Programms für ein besseren Leben für die Arbeiterklasse werden: Durch eine nationale gesetzliche Krankenversicherung, bezahlten Urlaub, Arbeitszeitverkürzung und gewerkschaftliche Repräsentation. Wir müssen wieder Kontrolle über unser Arbeitsleben zurückgewinnen und gegen die vielerorts ausufernden Überstunden ankämpfen.
»In den USA konnte der Feminismus nur in den Bereichen Fortschritte erzielen, in denen er die kapitalistische Klasse nichts gekostet hat.«
Unsere Bewegung wird stärker, wenn wir diesen Zusammenhang sichtbar machen. Ich glaube nicht, dass die feministische Bewegung zum jetzigen Zeitpunkt alleine in der Lage sein wird, ein Ziel wie etwa den Ausbau der Kinderbetreuung durchzusetzen. Wie soll das jemals gelingen, ohne die Macht der Konzerne zurückzudrängen? Wie wollen wir eine universelle Krankenversicherung erkämpfen, die nicht mehr an einen Job gebunden ist, was gerade Frauen extrem benachteiligt? Wie soll das funktionieren, ohne die Macht der Unternehmen zu brechen? In den USA konnte der Feminismus nur in den Bereichen Fortschritte erzielen, in denen er die kapitalistische Klasse nichts gekostet hat. Doch um in Richtung Gleichberechtigung weiter voran zu kommen, müssen wir diese allgemeinen linken Forderungen stärken.
Wir haben in Deutschland seit 1993 mit einer extrem rückschrittlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Abtreibungsrechten zu kämpfen. Viele Liberale stellen diese Entscheidung als Errungenschaft dar, für die wir dankbar sein sollten und die wir nicht durch die Forderung nach einer Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gefährden sollten – das würde bloß die Gegner reproduktiver Rechte provozieren. Welche strategischen Lehren sollten wir hier aus den Fehlern der US-Bewegung ziehen, um wieder in die Offensive zu gehen und den Kampf um volle reproduktive Rechte zu gewinnen?
Ich glaube nicht, dass man feministische Strategien aus den 1960er Jahren einfach so ins Hier und Jetzt übertragen kann, auch wenn es sicher einige gute Lektionen gibt. In der Zwischenzeit haben wir tatsächlich eine Menge Kämpfe gewonnen. Allerdings üben Konzerne immer noch Kontrolle über unser gesamtes Leben aus, und wir waren nicht in der Lage, Fortschritte in Bereichen zu erzielen, in denen sie Geld oder Macht abgeben müssten – Kinderbetreuung, bezahlter Urlaub, Gesundheitsfürsorge, gewerkschaftliche Repräsentation, kürzere Arbeitszeiten und so weiter. An diesem Punkt kommen wir einfach nicht weiter, und ich schließe daraus, dass wir eine breite linke Koalition brauchen, um hier Fortschritte zu machen.
Eine wichtige Lektion der 1960er lautet: »Fordert das, was ihr wirklich wollt!«. Es ist strategische klüger, die eigenen Forderungen explizit zu formulieren als zu versuchen, die eigenen Ziele zu verwässern, um nicht anzuecken. In der 1960ern haben wir in der Bewegung festgestellt, dass die Frauen sehr viel radikaler waren, als allgemein angenommen wurde.
Außerdem kommt es bei den Menschen besser an, wenn man ihnen die ungeschönte Wahrheit sagt, anstatt ihnen einen halbgaren Kompromiss schmackhaft zu machen. Zu Anfang versuchte die Bewegung, das Recht auf Abtreibung in bestimmten extremen Ausnahmefällen zu erkämpfen, wie etwa bei Vergewaltigungen, Inzest, bei der Gefährdung des Lebens der Mutter oder wenn eine Frau bereits fünf Kinder hatte. In diesen Fällen hätte man dann legal abtreiben dürfen. Aber wenn man einfach nicht schwanger sein wollte, hatte man weiterhin keinen legalen Zugang zu einem Abbruch. Hinter solchen bescheidenen Zwischenzielen hat sich keine starke Bewegung versammelt. Erst als die Forderung lautete: »Kostenlose Abtreibungen für alle, die es wollen!«, haben die Leute verstanden, dass diese Agenda, ihr Leben wirklich zum Positiven verändern könnte.
In Irland konnten wir eine ähnliche Entwicklung beobachten. Hier wurde jahrzehntelang für winzige Ausnahmen zum allgemeinen Verbot gekämpft. Man musste etwa drei Psychiaterinnen oder Psychiater finden, die einem eine Suizidabsicht bescheinigen mussten, bevor man abtreiben konnte. Die Bewegung erreichte dann, dass man nur noch zu einer einzigen Psychiaterin musste, und ähnliche kleine Teilerfolge. Doch die meisten Frauen waren nicht selbstmordgefährdet, und das war nicht der Grund, warum sie abtreiben wollten. Daher hatten diese Errungenschaften für sie praktisch gar keinen Effekt. Doch sobald die Forderung »kostenlos, sicher, und legal« lautete, formierte sich eine Massenbewegung. Und sie hat gewonnen. Es war sehr wichtig, etwas erreichen zu wollen, das die größtmögliche Anzahl von Menschen betraf und wirklich zu ihrem Vorteil war.
Ich glaube diese Lektion ist absolut zentral. Gerade im Hinblick auf reproduktive Rechte, gibt es immer die Sorge, dass wir etwas fordern könnten, was als anmaßend und falsch wahrgenommen wird. In Kanada gibt es zum Beispiel überhaupt keine Fristenregelung, da die ehemalige Regelung vom Gericht gekippt wurde und sich das Parlament nicht auf eine neue einigen konnte. Es gibt also überhaupt keine gesetzlichen Fristen. Aber das stellt in der Praxis kein Problem dar. Die Leute rennen nicht massenhaft in Krankenhäuser und treiben ab, anstatt ein Kind zu gebären. Aber jedes mal, wenn über eine Frist von fünfzehn Wochen debattiert wird, heißt es, wir sollten doch lieber nur zwölf Wochen fordern, damit wir mehr Leute auf unsere Seite ziehen können. Aber so funktioniert das nicht. In der USA glauben heute mehr Leute als jemals zuvor, dass es keinerlei Beschränkungen geben sollte, denn wir wissen aus Erfahrung, dass diese ganzen Vorbedingungen nur Vorwände sind, um den Zugang zu Abtreibungen zu erschweren.
In Deinem Buch argumentierst Du, dass das Framing »Pro-Choice« für den Kampf um reproduktive Rechte kontraproduktiv ist. Was meinst Du damit?
Der Begriff »Pro-Choice« stammt aus den frühen 1970ern. Tatsächlich wurde er von der Arbeitsgruppe zu Abtreibungsrechten der [trotzkistischen] Socialist Workers Party geprägt. Meiner Meinung nach vermittelt das den Eindruck, als sei die Entscheidung, ein Kind zu bekommen oder nicht zu bekommen eine rein persönliche Angelegenheit, eine Frage des Lebensstils, die vielleicht mit der Anschaffung eines teuren Haustiers oder dem Erwerb einer Immobilie vergleichbare wäre. Kinder aufzuziehen ist tatsächlich aber Arbeit, die die Gesellschaft braucht und von der sie profitiert, die aber hauptsächlich von Eltern, und vor allen Dingen Müttern, geleistet wird. Wenn wir nicht sichtbar machen, dass diese Arbeit gesellschaftlich notwendig und wertvoll ist, tun wir der herrschenden Klasse einen großen Gefallen. Sie wollen, dass wir uns persönlich dafür verantwortlich fühlen, wenn es immer schwerer wird, diese Arbeit zu verrichten. Deswegen spielt ihnen das »Pro-Choice«-Framing in die Hände.
»Hier findet ein knallharter Kampf um den gesellschaftlich produzierten Mehrwert statt. Und wenn wir Abtreibungen als persönliche Entscheidung auffassen, dann geht uns das Verständnis dafür verloren.«
In der US-Gesellschaft wird diese Arbeit praktisch nicht unterstützt und für viele Menschen ist es finanziell schlicht und einfach nicht leistbar, ein Kind zu bekommen. Wenn sie es doch tun, dann nehmen sie dafür im Gegenzug eine materielle Unsicherheit in Kauf, die nicht daraus resultieren sollte, dass sie diese Aufgabe übernehmen. Während der Pandemie gab es bestimmte Formen der Unterstützung, die das Leben mit Kindern einfacher machten, wie etwa ein Kindergeld und Gelder für Familienzeiten in bescheidenem Ausmaß. In New York war die Kinderbetreuung für Beschäftigte in systemrelevanten Sektoren zum Beispiel kostenlos. Es gab eine Menge Unterstützung, weil man die Gesellschaft anders schlicht und einfach nicht hätte am Laufen halten können.
Aber nun ist es unmöglich geworden, diese provisorischen Maßnahmen permanent zu machen, weil der Senat das blockiert. Wenn wir übersehen, dass reproduktive Arbeit gesellschaftlich wichtig ist, übersehen wir auch die Kämpfe, die darum geführt werden. Deshalb argumentieren so viele Leute, dass Abtreibungsgesetze dazu da sind, die Sexualität von Frauen zu kontrollieren oder dass sich die herrschende Klasse eigentlich nicht wirklich für das Thema interessiert und nur einen Kulturkrieg provozieren möchte, um katholische Arbeiterinnen und Arbeiter von den Demokraten zu entfremden. So einfach ist es aber nicht. Hier findet tatsächlich ein knallharter Kampf um den gesellschaftlich produzierten Mehrwert statt. Und wenn wir Abtreibungen als »persönliche Entscheidung« auffassen, dann geht uns das Verständnis dafür verloren.
Wie Du bereits erwähnt hast, geht es beim Zugang zu Abtreibungen um viel mehr als um einen Kulturkrieg. Warum glaubst Du, dass wir gerade jetzt so einen konzentrierten Angriff auf reproduktive Rechte erleben – nicht nur in den USA, sondern weltweit?
Ich glaube in den 1960ern haben wir davon profitiert, dass sich die USA im Systemwettkampf mit der Sowjetunion und dem Ostblock befanden, aber auch mit anderen revolutionären Gesellschaftsprojekten – in Korea, Kuba, Vietnam und China gab es durch die öffentlichen Gesundheitssysteme überall kostenlosen Zugang zu Abtreibungen und Verhütungsmitteln. Wenn man es aus den USA nach Polen geschafft hatte, konnte man dort für zehn Dollar einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Das hat die USA unter Druck gesetzt, weil der Kalte Krieg auch ein ideologischer Wettbewerb um die Frage war, welches System tatsächlich für Freiheit steht. In den USA gab es ganze Krankenhausstationen voller Frauen, die bei illegalen Abtreibungen schwer verletzt wurden und im Sterben lagen – und in Moskau konnte man einfach so in eine Klinik gehen und eine sichere Abtreibung durchführen lassen. Das hat der Bewegung enorm viel Aufwind verliehen.
Hinzu kommt, dass wir das Recht auf Abtreibung in den USA und in vielen Teilen Europas in einer Ära erkämpft haben, in der das Bevölkerungswachstum sehr hoch war, sowohl in entwickelten als auch in Entwicklungsländern. Es war die Zeit des Nachkriegsbooms. Und durch Fortschritte wie Antibiotika, verbesserte Hygiene und Impfungen haben sehr viel mehr Kinder überlebt und die Sterberate nahm ab, was zu einer Zunahme der Bevölkerung geführt hat. Die herrschende Klasse ist damals wegen einer angeblich drohenden Überbevölkerung in Panik geraten. Das hat ungefähr zwanzig Jahre angehalten, bis Mitte der 1970er klar wurde, dass die Geburtenraten zurückgingen.
»Es gibt einen Bedarf nach Bevölkerungswachstum und einer größeren Kohorte von jungen Menschen, die sich um die Alten kümmern sollen, wenn diese das Ende ihres Erwerbslebens erreicht haben. Diesen Trend finden wir in den verschiedensten Ländern der Welt.«
Diese Panik wurde auch durch anti-koloniale Kämpfe und linke Befreiungsbewegungen in Indien, China und vielen afrikanischen Ländern mitverursacht. Man befürchtete damals, dass der Bevölkerungsboom zu Rebellionen führen könnte, auch hier in den USA. Viele Liberale und Rechte dachten, dass die Kriminalität in den Städten und auch die Aufstände der 1960er Jahre mit den hohen Geburtenraten in Zusammenhang standen.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs ist in vielen dieser Länder mit dem Kapitalismus auch die Notwendigkeit für Wirtschaftswachstum zurückgekehrt, und das hat auch die Einstellungen zu demographischen Fragen verändert. Russland ist hierfür ein klares Beispiel. Der Zugang zu Verhütungsmitteln und Abtreibungen ist dort heute sehr viel stärker eingeschränkt und die Elite möchte, dass die Familien größer werden. Und in China, wo die Ein-Kind-Politik hauptsächlich eingeführt wurde, um die Früchte der nationalen Entwicklungspolitik für die bestehende Bevölkerung zu konsolidieren, gibt es mittlerweile eine Zwei-Kind-Politik und nun auch aktive Geburtenförderung.
Es gibt einen gewissen Bedarf nach einem Bevölkerungswachstum und einer größeren Kohorte von jungen Menschen, die sich um die Alten kümmern sollen, wenn diese das Ende ihres Erwerbslebens erreicht haben. Diesen Trend finden wir in den verschiedensten Ländern der Welt. Aber heute gibt es dafür kein Gegengewicht in Form von Regierungen, deren Ziel nicht Wachstum, sondern die Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung ist. Ich glaube also, dass der kapitalistische Wachstumszwang diese weltweite Dynamik der Repression im Kampf um reproduktive Rechte verursacht.
Es gab eine Bevölkerungsexplosion, die ist inzwischen aber auf jedem Kontinent abgeflacht, außer vielleicht in Afrika. Doch in der Zwischenzeit hat sich der Kapitalismus auf dem ganzen Globus ausgebreitet, mit nur einer Handvoll Ausnahmen. Der Zwang zu Wachstum herrscht heute vor. Revolutionäre Regierungen der Vergangenheit hatten ganz andere Prioritäten, wie etwa die vollwertige Teilnahme von Frauen an der Revolution und an nationalen Wiederaufbauprogrammen.
In den USA bekommen wir ständig vermittelt, dass unser öffentliches Rentensystem, Social Security, bald insolvent sein könnte, wenn wir nicht mehr Kinder bekommen. Dabei ist das System an sich solide, das tatsächliche Problem besteht darin, dass hohe Einkommen unzureichend besteuert werden. Diese Finanzierungslücke könnte also leicht geschlossen werden. Aber die von Konzernen unterstützten Thinktanks wollen das öffentliche Rentensystem ganz abschaffen oder zumindest entscheidend schwächen. Wenn man ihre Berichte liest, steht darin schwarz auf weiß, dass die Menschen größere Familien haben sollen, damit die dann die Kosten der Versorgung der Alten tragen. Man soll also wieder von seinen Kindern abhängig sein, wenn man nicht mehr arbeiten kann. Damit sind Versuche verbunden, das Renteneintrittsalter anzuheben. Es liegt in den USA bereits bei 67, aber sie wollen es auf 70 anheben.
In der internen Kommunikation der politischen Eliten wird also offen ausgesprochen, dass der Angriff auf den Sozialstaat und reproduktive Rechte zwei Seiten derselben Medaille sind: Es geht darum die Arbeiterklasse dazu zu zwingen, die Kosten für die soziale Reproduktion wieder selbst zu schultern.
Nun, sie drücken es zwar nicht in diesen Worten aus, aber ja, das könnte man so sagen. Beim Thema Einwanderung sieht man das besonders deutlich: Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Jeb Bush hat zusammen mit einem Typen namens Clint Bolick, selbst eine ziemlich schillernde Figur, das Buch Immigration Wars geschrieben. Ihr Zugang zum Thema Einwanderung ist: Wir wollen ja eigentlich nur die Arbeitskräfte. Wir wollen keine Familienzusammenführung, weil uns das wirtschaftlich nichts bringt, anders als Menschen, die im arbeitsfähigen Alter zu uns kommen. Familienmitglieder sind alt oder jung, sie brauchen vielleicht medizinische Versorgung, sie müssen vielleicht betreut und ausgebildet werden, und wir wollen nichts davon bezahlen. Diese Kosten sollen von dem Land getragen werden, aus dem die Einwanderer kommen; wir nehmen sie nur auf, damit sie hier arbeiten können, möglichst als Gastarbeiter, damit wir sie wieder abschieben können, sobald sie am Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht werden. Auf diese Weise etabliert sich in den USA ein neuer Teil der Arbeiterklasse, der überhaupt keine Rechte hat, was für die Arbeitgeber ideal ist.
Was den aktuellen Geschehnissen um Roe v. Wade für Außenstehende besonders hervorsticht, ist das Problem der demokratischen Legitimation: Die große Mehrheit der US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner sind dagegen, das Urteil zu Roe v. Wade außer Kraft zu setzen. Jetzt ist es trotzdem geschehen. Warum obliegt diese Entscheidung überhaupt dem Obersten Gerichtshof?
In den späten 1960ern war die Frauenbewegung im Aufbruch, und es formierte sich eine sehr stark in der Mittelklasse verhaftete Bewegung. Die hatte in erster Linie ein ethischen Selbstverständnis und arbeitete auf graduelle Veränderungen der Gesetzeslage hin. Die Bundesstaaten gerieten daraufhin unter Druck. Im Staat New York, wo es eine starke feministische Bewegung gab, wurden Abtreibungen 1970 bis zur 24. Schwangerschaftswoche legalisiert, solange sie von einem Arzt durchgeführt wurden. Die Legislative wollte damit möglichen juristischen Entscheidungen zuvorkommen, die die Regulierung von Abtreibungen möglicherweise ganz außer Kraft hätten setzen können.
Was den Obersten Gerichtshof der USA anging, so war die Situation damals ähnlich. Man wollte verhindern, dass die Verfassungsgerichte der Bundesstaaten die jeweiligen lokal gültigen Gesetze für ungültig erklären würden. Stattdessen wollte man eine national einheitliche Regelung etablieren und hat sich bei der Entscheidung im Fall Roe v. Wade das New Yorker Gesetz zum Vorbild genommen. Nach diesem Urteil hatten die Parlamente der Bundesstaaten keinen nennenswerten Anreiz, sich mit diesem, aus ihrer Sicht heiklen, Thema zu befassen. Der Hauptgegner war damals die Katholische Kirche, die sehr gut organisiert war und eine Menge politischen Druck aufgebaut hat.
1976, drei Jahre nach dem Urteil, hat der Kongress dann beschlossen, dass keine Mittel der Bundesregierung für Abtreibungen aufgewendet werden dürfen. Diesen Beschluss hat damals eine demokratische Mehrheit gefasst und er wurde von einem demokratischen Präsidenten, Jimmy Carter, mitgetragen. Beide Parteien waren damals dagegen, dass Bundesgelder für Abtreibungen verwendet werden durften. Das bedeutete, dass Medicare, die staatliche Krankenversicherung für Menschen mit geringem Einkommen, diese Leistung nicht mehr erbrachte. Es war eine Art Gradmesser, der die Stimmung im Kongress zum Thema Abtreibung andeutete. Die Mehrheit war nicht bereit, reproduktive Rechte zu unterstützen.
»Bei einer ganzen Reihe von politischen Themen haben wir gesehen, dass es der Oberste Gerichtshof darauf anlegt, die Macht der Konzerne von sämtlichen gesetzlichen Einschränkungen zu befreien.«
Seitdem hat sich viel verändert, denn im letzten Herbst hat das Repräsentantenhaus mit den Stimmen aller Demokraten, außer Henry Cuellar, beschlossen, Roe v. Wade in ein bundesweit gültiges Gesetz zu gießen. Im Senat haben alle Demokraten außer Joe Manchin das Gesetzesvorhaben unterstützt. 1975 war die Situation noch eine ganz andere, damals gab es eine große Mehrheit gegen das Recht auf Abtreibung, die sich aus beiden Parteien rekrutierte.
Doch selbst wenn Manchin den Gesetzentwurf unterstützt hätte, wäre dieser Entwurf höchstwahrscheinlich nicht durchgekommen und an der Filibuster-Regel gescheitert. Ohne diese Regel hätte es nur eine einzige weitere Stimmte gebraucht, um Abtreibungen landesweit zu legalisieren und die jetzige Entscheidung des Obersten Gerichtshofs hinfällig zu machen. Aber solange diese Regel Teil der Geschäftsordnung des Senats ist, bedeutet sie im Grunde genommen, dass 41 Senatorinnen oder Senatoren zusammen mehr oder weniger jedes Gesetzgebungsverfahren blockieren können. Das zeigt noch einmal, wie undemokratisch diese Regelung ist.
Bei einer ganzen Reihe von politischen Themen – vom »Citizens United«-Urteil, das Parteispenden durch Konzerne in unbegrenzter Höhe de facto zugelassen hat, bis zur landesweiten Legalisierung von gewerkschaftsfeindlichen »Right-to-Work«-Gesetzen – haben wir gesehen, dass es der Oberste Gerichtshof darauf anlegt, die Macht der Konzerne von sämtlichen gesetzlichen Einschränkungen zu befreien. Aufgrund der Filibuster-Regel ist der Kongress nicht in der Lage, darauf durch den Beschluss neuer Gesetze zu reagieren. Wir haben es also mit einer Taktik zu tun, die uns zwischen diesen beiden Institutionen aufreibt: Das Gericht beschließt irgendetwas Maßloses – und erteilt zum Beispiel Bundesstaaten das Recht, Abtreibung zu verbieten – und der Senat, der daran prinzipiell etwas ändern könnte, ist durch die Blockadehaltung einer Minderheit nicht dazu in der Lage. Unser schwerfälliges politisches System ist auf den Umgang mit einer so politisierten Judikative nicht ausgelegt. Die Justiz war schon immer politisch, aber sie ist in den letzten Jahrzehnten extremer, und vor allem rechter geworden.
Wenn das Gericht mit seiner jetzigen Entscheidung durchkommt, müssen wir dann damit rechnen, dass es sich andere, in der Bevölkerung populäre Gesetze und Urteile vorknöpfen wird?
Wenn sie damit durchkommen, werden sie vor nichts zurückschrecken: Arbeitnehmerrechte oder das Recht der Regierung, Emissionen zu regulieren, was für die Bekämpfung des Klimawandels essenziell ist, könnten ebenfalls ins Visier geraten. Einige der Argumente, die Alito in seinem Urteil formuliert, berühren auch das Grundrecht auf Privatsphäre. Damit wurde das Recht auf den Zugang zu Verhütungsmitteln und deren Legalisierung in den USA erstritten, erst im Jahr 1965 für verheiratete Paare, und 1972 für unverheiratete Menschen. Verhütungsmittel stehen also ebenfalls zur Disposition. Es gibt bereits Initiativen, um die Pille danach zu verbieten, ebenso wie die Verhütung per Spirale.
Einer der Gründe, warum unsere Geburtenrate in den 1990ern und 2000ern so viel höher war als in Europa, war der schlechtere Zugang zu Abtreibungen und Verhütungsmitteln. Seither haben sich die Werte angeglichen, was auch daran liegt, dass langfristig wirkende, reversible Verhütungsmittel heute wesentlich leichter zu bekommen sind. Und die sind einfach viel effektiver. Genau das macht sie zur Zielscheibe. Es geht darum, die Optionen zur Schwangerschaftsverhütung langsam und graduell einzuschränken. Ich glaube, Alito wollte mit seinem Urteil die Möglichkeit eröffnen, das Bundesstaaten in Zukunft auch den Zugang zu den besonders effektiven, langfristigen Verhütungsmethoden einschränken können.
Als Obamas Gesundheitsreform beschlossen wurde, gab es den Versuch, bestimmte Verhütungsmittel aus dem Leistungskatalog zu streichen. Sie werden alles daran setzen, Verhütung immer teurer und schwieriger zu machen. Die Rechte von Lesben und Schwulen könnten ebenfalls zur Disposition stehen. Bis zur Entscheidung im Fall Lawrence v. Texas [im Jahr 2003] gab es in Texas »Sodomiegesetze«, die schwulen Sex unter Strafe stellten. Auf der Bundesebene könnten die Rechte von Schwulen und Lesben also angegriffen werden. Wir sollten uns auf diesen Fall vorbereiten.
Das Hauptproblem ist aber weiterhin, dass unser politisches System dem Gericht kaum etwas entgegenhalten kann. Der einzige Grund, warum überhaupt irgendwelche Beschlüsse gefasst werden, ist, dass der Kongress – und insbesondere das Repräsentantenhaus – das Budgetrecht innehat. Wäre das nicht so, hätten wir überhaupt keine handlungsfähige Bundesregierung.
Wir befinden uns in einer tiefen Krise des politischen Systems und sie wird sich immer weiter zuspitzen, sollte der Oberste Gerichtshof alle seine regressiven Vorhaben umsetzen. Die Frage wird sein: Gibt es die Möglichkeit, dass die Legislative auf dieses antidemokratische Projekt der letzten zwanzig Jahre eine Antwort findet? Bisher ist das nicht gelungen, es muss sich also etwas verändern.
Was muss geschehen?
Wenn genug Organisierung stattfindet und wir eine Massenbewegung auf die Straße bekommen, die Druck von links auf die Demokraten ausüben kann, glaube ich, dass wir diesen großen Felsen ins Rollen bringen können. Die Krisen häufen und verschärfen sich immer mehr, und wir haben viele Gelegenheiten, um aufzuzeigen, dass dieses System nicht den Interessen der großen Mehrheit dient. Alle unsere bisherigen Siege haben wir auf Basis von Massenmobilisierungen erkämpft, und manchmal braucht es zusätzlich auch eine Schwachstelle im System, die man ausnutzen kann. Und im Moment gibt es davon eine ganze Menge – das US-System hat ein massives Legitimationsproblem und kann auf unsere Anliegen kaum reagieren.
Deiner Meinung nach muss also das politische System und die Verfassungsordnung der USA von der breiten, arbeitenden Mehrheit herausgefordert werden – und sie muss diesen Kampf gewinnen. Ansonsten werden, die Konservativen von jetzt an durchregieren, und zwar nicht nur im Hinblick auf reproduktive Rechte?
Nun, ich sage niemals »von jetzt an«. Denn am Ende werden wir gewinnen. Aber ja, es muss fundamentale Veränderungen geben. Deswegen kann die feministische Bewegung oder die Gewerkschaftsbewegung oder eine andere soziale Bewegung diesen Kampf auch nicht alleine gewinnen. Dafür brauchen wir eine massive, geeinte linke Front.
Jenny Brown ist Mitglied der National Women's Liberation und ehemalige Redakteurin bei »Labor Notes«. Sie ist Ko-Autorin von »Women's Liberation and National Health Care: Confronting the Myth of America« und Autorin von »Birth Strike: The Hidden Fight Over Women's Work«. Ihr neuestes Buch ist »Without Apology: The Abortion Struggle Now«.
Jenny Brown ist Mitglied der National Women's Liberation und ehemalige Redakteurin bei »Labor Notes«. Sie ist Ko-Autorin von »Women's Liberation and National Health Care: Confronting the Myth of America« und Autorin von »Birth Strike: The Hidden Fight Over Women's Work«. Ihr neuestes Buch ist »Without Apology: The Abortion Struggle Now«.