23. September 2022
Warum die Preiskrise auch eine ökologische Krise ist – und wie wir beides durch öffentliche Versorgungssysteme bekämpfen können.
Über Wochen schwelten diesen Sommer Waldbrände im Südwesten Frankreichs, 10. August 2022.
IMAGO / NurPhotoDie Kosten für Heizen, Wohnen, Lebensmittel und Mobilität explodieren, die soziale Krise spitzt sich zu. Immer mehr Menschen müssen feststellen, dass sie sich ganz alltägliche Grundbedürfnisse nicht mehr leisten können. Doch da die Bundesregierung bestenfalls halbherzig gegen den dramatischen Anstieg der Lebenshaltungskosten vorgeht und sich weigert, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, steht ein »heißer Herbst« der sozialen Proteste bevor.
»Die mit Abstand wichtigste Ursache für die drastische Erhöhung der Lebenshaltungskosten ist die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern.«
Die Linke muss in dieser Lage eingängige Gegenvorschläge zur Politik der Regierung formulieren. Diese müssen sowohl kurzfristig Abhilfe schaffen, gleichzeitig aber auch die zugrundeliegenden Ursachen der Inflation adressieren – und dabei können ökosozialistische Ideen eine zentrale Rolle spielen. Denn in diesem Herbst wird letztlich darüber verhandelt, wer die Rechnung für die Auswirkungen der ökologischen Krisen zahlen soll, die zunehmend auch Europa erreichen.
Wie jede Inflation ist die gegenwärtige Preiskrise im Kern ein Konflikt zwischen sozialen Klassen um die Verteilung eines begrenzten Angebots an Gütern, die die Gesellschaft als Ganzes produzieren kann. In einer Situation allgemeiner Knappheit, wie sie aktuell vorliegt, haben Unternehmen durch ihre Fähigkeit, Preise festzusetzen, einen strukturellen Vorteil gegenüber Beschäftigten, die nur gemeinsam und meist nur verzögert höhere Löhne durchsetzen können. Die Konzentration von Marktmacht in vielen Branchen erlaubt es großen Unternehmen, steigende Kosten für Rohstoffe und Vorprodukte nicht bloß weiterzugeben, sondern gleichzeitig ihre Profitmargen zu erhöhen. Auch Spekulationsblasen in hochvolatilen Finanzmärkten, die letztlich eine Wette auf physische Knappheit darstellen, bescheren einigen hohe Profite, während sie die Preise für alle in die Höhe treiben.
Zudem sorgt zurzeit in vielen Märkten das Prinzip der Grenzkosten für Übergewinne, etwa im Stromsektor: Wenn die Nachfrage nach einem knappen Gut so hoch ist, dass auch die Anbieter mit den höchsten Einkaufs- und Produktionskosten noch einen Käufer finden, dann können auch diejenigen Anbieter, die selbst günstiger einkaufen und produzieren, ihre Preise anheben. Die Differenz zwischen dem Preis eines Produkts und den Stückkosten der Hersteller steigt also – und damit der Gewinn. Genau dies lässt sich gerade in vielen Branchen beobachten. Laut Schätzungen des Economic Policy Institute entfällt zumindest in den USA der Großteil der derzeitigen Preissteigerungen auf höhere Profite.
Das bedeutet: Arbeiterinnen übernehmen zurzeit nicht nur fast die gesamte Rechnung für steigende Produktionskosten, sondern überweisen zusätzlich noch einen immer größeren Teil ihres Einkommens zurück an die Unternehmen, den diese als Gewinn verbuchen. Während viele Konzerne, wie etwa im Energiesektor, Übergewinne einfahren, hinkt die Lohnentwicklung hinter den Preissteigerungen her, sodass die reale Kaufkraft von Arbeitern sinkt.
Auch die Zentralbanken schlagen sich in diesem Konflikt auf die Seite des Kapitals, weil sie durch Zinserhöhungen versuchen, die Nachfrage so weit zu dämpfen, dass die Arbeitslosigkeit steigt. Im Prinzip sollen die Preise also dadurch gesenkt werden, dass sich weniger Menschen bestimmte Güter leisten können. Die wachsende »Reservearmee« von Arbeitssuchenden beschränkt zudem die Verhandlungsmacht von Arbeiterinnen und damit deren Lohnforderungen.
Starke Gewerkschaften sollten für die Interessen der arbeitenden Klasse kämpfen. Doch ihre tatsächliche Macht ist in der gegenwärtigen Situation begrenzt. Von den Preissteigerungen sind alle der 34 Millionen in Deutschland sozialversicherungspflichtig Beschäftigten betroffen. Gleichzeitig können nach den üblichen Regeln der Tarifpolitik in diesem Jahr nur rund 10 Millionen Beschäftigte überhaupt neue Löhne aushandeln. Selbst die Forderung der IG Metall, die vielleicht mächtigste Gewerkschaft des Landes, entspricht mit 8 Prozent mehr Lohn höchstens einem Inflationsausgleich. Mutmaßlich will die Gewerkschaft vermeiden, tatsächlich eine Lohn-Preis-Spirale in Gang zu setzen, die bislang eine bloße Chimäre ist. Doch selbst wenn die Gewerkschaften auf breiter Front höhere Löhne erzwingen könnten, würde dies bestenfalls einer Verteidigung des Status quo gleichkommen. Angesichts der drohenden Rezession stehen die Chancen hierfür aber ohnehin schlecht.
»Austerität bedeutet auch, dass Grundbedürfnisse zunehmend über den Markt befriedigt werden müssen.«
Zudem sind die bisherigen Entlastungspakete der Ampelkoalition gänzlich unzureichend. Viele Haushalte erhalten nicht, was sie kurzfristig bräuchten, um einigermaßen durch den Winter zu kommen. Tarifpolitische Erfolge sind also fraglos notwendig, müssen aber von weiteren staatlichen Unterstützungsmaßnahmen flankiert werden, um den realen Kaufkraftverlust zumindest zu bremsen. Doch auch sie können die zugrundeliegenden Ursachen der Teuerung nicht bekämpfen. Erstens sinkt insgesamt das Angebot an Energie und Lebensmitteln – eine Auswirkung der ökologischen Krisen und der zögerlichen Abwicklung des fossilen Zeitalters – und zweitens geht die Befriedigung essenzieller Bedürfnisse im neoliberalen Kapitalismus unvermeidlich mit Ungerechtigkeit und Ineffizienz einher.
Wir erleben derzeit, wie die Vorhersagen von Naturwissenschaftlerinnen und heterodoxen Ökonomen, die uns schon lange vor den Folgen unserer Wirtschaftsweise warnen, eine nach der anderen eintreten. Wichtige Güter des täglichen Bedarfs verknappen sich durch Klimakollaps, Pandemie und andere ökologische Krisen, hinzu kommt der Krieg in der Ukraine als akute Katastrophe.
Extremwetter und Klimaveränderungen sorgen über fast alle Sektoren hinweg für höhere Preise. Durch den vierten Dürresommer in Folge sind zum Beispiel die Pegelstände vieler Flüsse in Deutschland auf ein Rekordtief gefallen, was die Kosten der Binnenschifffahrt und damit vieler Güter nach oben treibt, weil Lastkähne im niedrigen Fahrwasser nur teilweise beladen werden können. Häufigere Extremwetter sorgen aber nicht nur für Verzögerungen auf verschiedenen Transportrouten, sondern auch für höhere Versicherungsprämien. Diese preisen inzwischen sogar das Risiko ein, dass Konzerne wegen ihrer klimaschädlichen Geschäftspraktiken verklagt werden könnten. Die Preissprünge bei Rohstoffen wie Holz werden maßgeblich von klimawandelbedingten Waldschäden sowie dem notwendigen Wiederaufbau von Häusern, die durch immer häufigere Naturkatastrophen zerstört werden, verursacht. Schließlich nimmt auch schon jetzt die Arbeitsproduktivität in vielen Teilen der Welt ab, weil es schlicht zu heiß ist.
Die Klimakrise trifft aber vor allem die drei Sektoren besonders hart, die laut Analyse der EZB die aktuellen Preissteigerungen nahezu vollständig verursachen: Landwirtschaft, Mobilität und Wohnen (wozu die Statistik auch Heizen und den privaten Stromverbrauch zählt). In allen anderen Sektoren liegt die Inflation unter dem aktuellen Gesamtdurchschnitt von 8,3 Prozent. Ein Blick auf alle drei Wirtschaftsbereiche macht deutlich, dass die Kosten durch die verschiedenen ökologischen Krisen in die Höhe getrieben werden.
Besonders deutlich wird dies bei den seit Jahren steigenden Lebensmittelpreisen. Neben dem kriegs- und sanktionsbedingten Stopp von Nahrungsmittelexporten aus der Ukraine, Russland und Indien haben vor allem die Auswirkungen der Erderhitzung die globale Landwirtschaft in den letzten Jahren maßgeblich beeinträchtigt. Der gesamte amerikanische Westen und weite Teile Europas waren in diesem Sommer mit schweren Dürren konfrontiert, was zu geringeren Erträgen oder sogar vollständigen Ernteausfällen und damit höheren Preisen geführt hat. Die Auswirkungen der Klimakrise auf die Lebensmittelpreise sind ein langfristiger Trend, der sich nur noch verstärken wird, wenn keine drastischen Klimaschutzmaßnahmen ergriffen werden. Um ein Beispiel zu nennen: Der Weltklimarat IPCC ging 2020 davon aus, dass die Preise für Getreide bis 2050 aufgrund extremerer Wetterbedingungen um bis zu 30 Prozent steigen werden. Die Auswirkungen verschiedener ökologischer Krisen, von der Bodenerosion bis hin zum Massensterben von Bestäubern, zwischen denen auch ursächliche Zusammenhänge bestehen, waren in dieser Prognose noch nicht einmal vollständig berücksichtigt.
Doch laut jüngsten Mitteilungen der Welternährungsorganisation sind die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt bereits von 2020 auf 2021 um genau diese 30 Prozent gestiegen. Der globale Nahrungsmittelpreisindex der Welthungerhilfe hat sich zwischen 2020 und 2022 beinahe verdoppelt. Auch in Deutschland steigen die Preise für Nahrungsmittel seit Jahren, zuletzt im Schnitt um 15 Prozent – bei vielen Gütern wie Pflanzenölen, Weizen oder Schweinefleisch sogar um über 50 Prozent. Was für von Armut betroffene Menschen in Deutschland massive Einschränkungen und für die Tafeln einen Rekordzulauf bedeutet, ist für Millionen von Menschen rund um den Globus eine Frage von Leben und Tod.
Natürlich spielen neben den gestiegenen Kosten auch bei Nahrungsmitteln höhere Gewinnmargen eine wichtige Rolle – nicht zuletzt, weil ein Oligopol aus vier Handelsketten die Verbraucherpreise zum Großteil diktieren kann. Außerdem folgen die Lebensmittelpreise in der Regel den Energiepreisen, da die Landwirtschaft noch immer überwiegend mit fossilen Brennstoffen und Düngemitteln betrieben wird. Hohe Energiepreise sind darüber hinaus ein Anreiz für Landwirtinnen, von der Nahrungsmittel- auf die Biokraftstoffproduktion umzusteigen, die in der EU in den letzten drei Jahren stetig zugenommen hat. Und schließlich nehmen die Spekulanten auf den globalen Rohstoffmärkten jeden Anstieg der Lebensmittelkosten vorweg und verschärfen ihn dadurch noch, ganz gleich, ob der Anlass nun Kriege oder Missernten sind.
»Eine solidarische Grundversorgung erzeugt den gleichen Nutzwert bei niedrigerem Energieverbrauch.«
Von den schlimmsten Preissteigerungen sind neben Lebensmitteln die Grundbedürfnisse Heizen und Mobilität betroffen. Mehr als die Hälfte der Inflation in der Eurozone entfiel im Frühjahr 2022 auf steigende Energiekosten und Profite von Energiekonzernen. Während die Gaspreise weiter steigen, hat nun auch der Strompreis in Deutschland zwischenzeitlich Rekordhöhen von über 1.000 Euro pro Megawattstunde erklommen. Viele Haushalte in Deutschland bangen mittlerweile darum, ob sie sich das Heizen im Winter überhaupt leisten können werden.
Die mit Abstand wichtigste Ursache für die aktuelle drastische Erhöhung der Lebenshaltungskosten ist die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, die aus dem verschlafenen Ausbau von erneuerbaren Energiesystemen und einer nachhaltigen öffentlichen Verkehrsinfrastruktur resultiert. Dabei wirkt der Ausfall von Gas- und Ölimporten aus Russland im Vergleich zur drastischen Reduktion des Verbrauchs von fossilen Brennstoffen, die notwendig wäre, um eine katastrophale Erderhitzung noch zu vermeiden, geradezu vernachlässigbar. Zunehmende Hitze und häufigere Extremwetterereignisse machen auch der konventionellen Energieproduktion zunehmend zu schaffen. Aufgrund der weltweiten Dürren fielen in den letzten Monaten französische Kernkraftwerke wie auch chinesische Kohlekraftwerke aus.
Seit Monaten arbeitet die Bundesregierung daran, die Menschen in Deutschland davon zu überzeugen, ihren individuellen Energieverbrauch zu reduzieren, während sie gleichzeitig Einnahmen aus der Gasumlage an Energiekonzerne ausschüttet, die ohnehin Rekordgewinne einfahren. Diese Politik steht paradigmatisch für einen zentralen Mechanismus des Kapitalismus: Die künstliche Schaffung von Knappheit, die es Kapitaleigentümern erlaubt, hohe Profite abzuschöpfen.
Es ist offensichtlich nicht hinnehmbar, wenn Verbraucherinnen die Rechnung dafür zahlen, dass mächtige Unternehmen seit Jahren die Energie- und Agrarwende blockieren. Viel schwerer wiegt jedoch, dass Unternehmen mit Marktmacht die resultierenden Kostensteigerungen nutzen können, um zusätzlich ihre Gewinnmargen auszuweiten.
Das grundlegende Problem besteht aber darin, dass essenzielle Bedürfnisse derzeit häufig überhaupt nur durch den Kauf von Waren auf dem Markt befriedigt werden können. Diese Kommodifizierung des Lebens ist verantwortlich dafür, dass steigende Kosten zu massiven sozialen Krisen führen. Während öffentliche Güter prinzipiell zur Befriedigung der Bedürfnisse aller dienen, sind Waren – im Sinn von Gütern, die auf Märkten gehandelt werden – naturgemäß nur denen zugänglich, die über ausreichende Kaufkraft verfügen, um sie zu erwerben.
Dadurch entsteht Knappheit, die drei wesentliche Effekte hat: Erstens erlaubt sie Unternehmen, Profite zu realisieren, denn was es im Überfluss gibt, lässt sich nicht teuer verkaufen. Zweitens führt die Produktion von Waren für den individuellen Konsum zu einem unnötig hohen Verbrauch von Energie und Ressourcen, und treibt gerade damit die ökologischen Krisen an, die wiederum zu weiter steigenden Kosten führen. Marktbasierte Systeme zur Befriedigung von Grundbedürfnissen verbrauchen meist ein Vielfaches der Energie und Ressourcen, die eine äquivalente öffentliche Versorgung beanspruchen würde. Um etwa fünfzig Menschen zu ihrem Arbeitsplatz zu bringen, benötigt ein Bus einen Bruchteil der Energie und Rohstoffe, die fünfzig Autos auf der gleichen Strecke verbrauchen würden. Ein großer Teil der explodierenden Mieten entfällt auf Profite durch Spekulation auf knappen Wohnraum; eine öffentliche Wohnungsgesellschaft müsste daran nicht teilnehmen. Auch die Produktion und Verteilung von Lebensmitteln ist gleichzeitig verschwenderisch und höchst ungerecht: Jedes Jahr landet in Deutschland der Ertrag von 25 Prozent der Ackerfläche in der Mülltonne und 60 Prozent im Futtertrog, während Supermärkte und Spekulantinnen an steigenden Preisen für Grundnahrungsmittel verdienen. Parallel dazu beweisen die Schlangen vor den Tafeln, dass Verschwendung und Knappheit nebeneinander existieren.
Der dritte Effekt der künstlichen Knappheit betrifft die Lohnarbeit: Um sich die Befriedigung von Grundbedürfnissen durch Waren leisten zu können, müssen Arbeiter sehr viel höhere Einkommen erzielen und entsprechend mehr arbeiten, als in einer Welt mit öffentlichen Versorgungssystemen nötig wäre. Das Problem verschärft sich jedes Mal, wenn Gemeingüter – wie etwa Teile des Gesundheitssystems – privatisiert und der Profitlogik unterworfen werden. Anders ausgedrückt: Wir müssen immer mehr Waren für den Markt produzieren, die oft niemand wirklich braucht, nur um Zugang zu dem zu erlangen, was tatsächlich alle brauchen. So wird die Lohnarbeit Teil der kapitalistischen Wachstumsspirale.
In der gegenwärtigen inflationären Krise spitzt sich diese Dynamik weiter zu, weil ein immer größerer Teil des erwirtschafteten Einkommens als Gewinn abgeschöpft wird – die allgemeine Knappheit wichtiger Rohstoffe erlaubt es. Kein Wunder also, dass Neoliberale wie Sigmar Gabriel gerade jetzt eine Verlängerung der Arbeitswoche fordern, um »die Inflation zu bekämpfen«, während Finanzminister Lindner die Not ausgerechnet dadurch verschärft, dass er mit dem 9-Euro-Ticket das bislang wirksamste Instrument der Ampelkoalition gegen die Inflation zerstört. Austerität bedeutet auch, dass Grundbedürfnisse zunehmend über den Markt befriedigt werden müssen, worunter Geringverdienerinnen als erste leiden.
Eine linke Antwort auf die inflationäre Krise sollte darin bestehen, die Befriedigung von Grundbedürfnissen außerhalb des Marktes zu organisieren und damit letztlich dem Begriff »Lebenshaltungskosten« selbst seine Bedeutung zu nehmen. Das ist schließlich der Kerngedanke, den ökosozialistische Ideen von Degrowth bis zum Green New Deal teilen: Eine solidarische Grundversorgung erzeugt den gleichen Nutzwert bei niedrigerem Energieverbrauch, weniger gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit und geringeren Auswirkungen auf die Ökosysteme als kapitalistische Märkte. Sie stellt den universellen Zugang zu den materiellen Voraussetzungen für ein gutes Leben sicher und hebelt damit die zentrale Triebfeder aus, die Menschen im Kapitalismus zu überlanger Lohnarbeit zwingt.
Gleichzeitig ermöglichen öffentliche Dienstleistungen eine demokratisch geplante, sozial gerechte Reduktion des Energie- und Ressourcenverbrauchs. Ohne eine solche Reduktion im Globalen Norden ist es de facto unmöglich, die Erderhitzung noch auf 1,5 Grad zu begrenzen.
Zudem nimmt eine effiziente öffentliche Grundversorgung auch den Preisdruck aus den verbleibenden Märkten, indem sie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach begrenzten Ressourcen und Energie an das sinkende Angebot anpasst. Eine öffentliche Grundversorgung bietet damit ein wirksames Mittel, um sowohl die akute soziale Krise als auch ihre ökonomischen wie ökologischen Ursachen zu bekämpfen.
Die gute Nachricht ist, dass viele ökosozialistische Maßnahmen aktuell enorm populär sind. Dazu zählen die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne, die öffentliche Bereitstellung von Mobilität durch den Ausbau des ÖPNV und einem dauerhaften 9-Euro-Ticket ebenso wie ein Gaspreisdeckel für den Grundbedarf, der in der einen oder anderen Form europaweit eingeführt werden wird – vermutlich auch in Deutschland. Andere Ideen führen noch weiter: Eine Vergesellschaftung der Energieproduktion, wie sie etwa die Kampagne »RWE & Co enteignen« fordert, könnte die Energiewende drastisch beschleunigen, ob beim Ausbau von Erneuerbaren Energien und Speicherkapazitäten, dem Einbau von Wärmepumpen oder bei der Isolierung von Wohnungen.
Auch die Landwirtschaft muss sich wandeln. Doch bislang bleiben nachhaltige Produktionsmethoden weitgehend auf eine soziale Nische beschränkt – vegane, ökologisch und regional produzierte Lebensmittel muss man sich leisten können. Gleichzeitig fehlt es gerade im ländlichen Raum oft an einer elementaren Grundversorgung am Wohnort. Warum also nicht Supermärkte vergesellschaften? Durch demokratische Planung könnten Redundanzen abgebaut, Lebensmittelverschwendung verringert und die gesamte Lieferkette nach sozialen und ökologischen Kriterien statt rein nach Profitlogik organisiert werden. Ein Lebensmittelladen in jedem Dorf, ergänzt durch Gemeinschaftsgärten und öffentliche Küchen – für alle, die diese Angebote nutzen möchten –, könnten für alle Menschen in Deutschland den Zugang zu ökologisch und regional produzierten Lebensmitteln sichern.
Wäre der notwendige massive Ausbau öffentlicher Versorgungssysteme finanzierbar? Nun, der einzig begrenzende Faktor für die Höhe der staatlichen Ausgaben ist gerade die Inflation. Folglich spricht nichts gegen höhere Aufwendungen für Maßnahmen, die die Teuerung und deren soziale Folgen bekämpfen. Jetzt nicht zu investieren, käme einer Kapitulation gleich, bevor der Kampf richtig begonnen hat. Allerdings müsste die Schuldenbremse, die zurzeit bloß trickreich umgangen wird, dafür wohl offiziell abgeschafft werden. Eine Übergewinnsteuer könnte zudem dabei helfen, überschüssige Kaufkraft in den Händen von Konzernen zu eliminieren – und so dazu beitragen, die aktuelle Gewinn-Preis-Spirale zu stoppen.
»Im heißen Herbst müssen wir auch darum kämpfen, den langfristigen Zusammenbruch der ökologischen Systeme zu stoppen.«
Sobald nicht nur der Preis, sondern auch die absolute Knappheit von Energie zum Problem wird – etwa beim Gas – sollten Industriebetriebe, die keine wichtige soziale oder ökologische Funktion erfüllen, zuerst abgeschaltet werden. Da sinnvolle Projekte gegenwärtig an einer echten Knappheit gut ausgebildeter Arbeitskräfte zu scheitern drohen – und sich dies auf absehbare Zeit auch nicht ändern wird –, könnte der Stopp von sozial und ökologisch unsinnigen Projekten wie dem Ausbau von Autobahnen, Flughäfen oder Shoppingmalls Kapazitäten für die notwendigen Vorhaben freisetzen. Ohne eine solche Priorisierung wird die soziale und ökologische Transformation in jedem Fall scheitern.
Selbst die besten Politikkonzepte werden sich niemals von alleine durchsetzen; es braucht politische Akteure, die für sie kämpfen. Folgt aus dem Umstand, dass die Inflation auch von ökologischen Problemen mitverursacht wird, dass für die kommenden sozialen Proteste nicht die Arbeiter-, sondern die Klimagerechtigkeitsbewegung zuständig sein soll? Keineswegs. Vermutlich wäre ohnehin keine der beiden Gruppen alleine imstande, ein so umfangreiches politisches Reformprogramm durchzusetzen. Nur wenn die konkreten Interessen und die relativ große Verhandlungsmacht der Arbeiterinnen mit einer langfristigen Antwort auf die ökologischen Krisen verbunden werden, an der auch Teile des Bürgertums interessiert sind, kann die Umsetzung der populärsten Vorschläge – vom Gaspreisdeckel bis zum dauerhaften 9-Euro-Ticket – errungen werden. Wie es ein Slogan der Gelbwesten ausdrückt: »Ende des Monats, Ende der Welt – das ist derselbe Kampf!«
Die Stagflation der 1970er, die ebenfalls maßgeblich durch Energiekrisen verursacht war, ebnete der neoliberalen Konterrevolution den Weg, deren zentrales politisches Versprechen darin bestand, den akuten sozialen Verteilungskonflikt durch Privatisierungen und mehr Wachstum zu lösen. Der gegenwärtige Moment könnte eine historische Chance sein, eine diametral entgegengesetzte Antwort zu erproben – und dabei eine Allianz aus Gewerkschaften und Klimaaktivisten zu schmieden, auf die vor allem letztere schon so lange hoffen
Wenn die Inflation tatsächlich als eine der ersten Auswirkungen der Klimakrise verstanden werden muss, die auch in Deutschland deutlich zu verspüren ist, scheint diese Allianz mehr als naheliegend. Im »heißen Herbst« müssen wir also auch darum kämpfen, den langfristigen Zusammenbruch der ökologischen Systeme auf der Erde zu stoppen. Es gibt keine Preisstabilität auf einem sterbenden Planeten.
Christopher Olk promoviert an der Freien Universität Berlin zur Politischen Ökonomie des globalen Geldsystems. Er ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.