28. Januar 2022
Die Lage im Ukraine-Konflikt ist komplexer als oft dargestellt: Putin will die Sowjetunion nicht neu errichten und die Ukraine ist selbst uneins in der NATO-Frage. Nur eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung kann den Frieden garantieren.
Yavoriv Combat Training Center
In den letzten Wochen haben westliche Medien verstärkt zu Analogien aus den 1930er-Jahren gegriffen, um darzustellen, was bei einem potentiellen »heißen Krieg« zwischen der Ukraine und Russland auf dem Spiel stünde. Warnungen vor einem »Appeasement« des Kremls dienen dazu, die Ausweitung der Militärhilfen an die Ukraine zu rechtfertigen, während das Recht des Landes auf einen NATO-Beitritt als existentiell wichtig behandelt wird.
Professor Richard Sakwa, Autor von Frontline Ukraine: Crisis in the Borderland, zeichnet ein komplexeres Bild der russisch-ukrainischen Beziehungen. Er analysiert den lang anhaltenden Konflikt in der ukrainischen Gesellschaft zwischen Kräften, die eine »pluralistische« Sicht auf das Land und seine Außenbeziehungen propagieren, und nationalistischen Kräften, die eine NATO-Mitgliedschaft verfolgen und mit Russland brechen wollen.
Die Maidan-Proteste von 2014, der bewaffnete Konflikt im Donbass, und die russische Annexion der Krim scheinen diese Spaltung nur verhärtet zu haben. Trotzdem ist die Unterstützung für den im Minsk-II-Abkommen vereinbarten Prozess und das Normandieformat in der Ukraine ebenso ungebrochen wie die Popularität von Kandidatinnen und Kandidaten, welche Deeskalation versprechen – wie etwa der gegenwärtige Präsident Wolodymyr Selenskyj nach seinem Wahlsieg 2019. Doch eine aggressive, rechtsextreme Minderheit in der Ukraine »hält die Politik als Geisel«, wie Sakwa es ausdrückt – und von ihrer Blockadehaltung profitieren auch Hardliner in Moskau.
David Broder spricht im JACOBIN-Interview mit Professor Sakwa über die Gründe der gegenwärtigen Spannungen und die Aussichten auf eine friedliche Lösung des Konflikts.
In den westlichen Medien wird die Ukraine oft lediglich durch die Linse der Konflikts mit Russland betrachtet. Kürzlich zitierte ein Titel der Times einen ukrainischen General, »die Ukrainer seien bereit, Russen mit bloßen Händen zu zerreißen«. Vor allem seit dem NATO-Gipfel von 2008 wird die Situation oft so dargestellt, dass die Ukraine unbedingt in die NATO will, und Russland sie aufhält. Welche Indizien gibt es für diese Sichtweise?
Das geht noch viel weiter zurück als bis zum NATO-Gipfel von 2008 in Bukarest, auf dem sowohl Georgien als auch die Ukraine das Angebot für einen zukünftigen Beitritt gemacht wurde. Die ukrainische Politik wurde lange entlang der europäischen Frage definiert – in der die Bevölkerung selbst äußerst gespalten ist, wie Umfragen wieder und wieder zeigen. Es gibt immer wieder Verschiebungen in die eine oder andere Richtung, aber im Wesentlichen will sich der westliche Teil des Landes – der galizische Teil – nicht nur nach Westen orientieren, sondern alle Verbindungen zu Russland kappen.
Der postkoloniale Zustand, wenn wir dieses Modell hier anwenden können, impliziert eine Vielschichtigkeit auf der sprachlichen und kulturellen Ebene, doch die kulturellen Separatisten glauben, Postkolonialität bedeute, dass man alle Bindungen lösen muss. Im südlichen und östlichen Teil des Landes möchte man jedoch die Beziehungen zu Russland aufrechterhalten. Auf seine Art hat Wladimir Putin recht, wenn er sagt, das russische und das ukrainische Volk seien durch Kultur, Geschichte, Ehen und so weiter verbunden. Er hat auch nie gesagt, dass sie in einem einzigen Staat leben sollten – ein wichtiger Unterschied.
Ich bin 2008 in den Donbass gereist und habe überall den Schriftzug »Nein zur NATO« auf Gebäuden gesehen. Die 2010 und 2011 durch WikiLeaks veröffentlichten Dokumente des US-Außenministeriums zeigen aber, dass der US-Botschafter in Kiew ständig die Nachricht nach Washington schickte, die Leute wollten in die NATO. Das war von Anfang an Wunschdenken und ein Hirngespinst, weil es auf der Annahme beruhte, es gebe eine einfache, binäre Entscheidung für den Westen. Russland wurde als Bösewicht dargestellt, der die Ukraine geopolitisch, entwicklungspolitisch und vor allem demokratisch zurückhält.
Die tatsächliche Situation ist viel komplexer, wie Umfragen bis heute zeigen. Gerard Toal und sein Team haben gezeigt, dass sich ein erstaunlich hoher Anteil der Bevölkerung – 30 bis 40 Prozent, selbst wenn man die Krim und den Donbass nicht mit einrechnet – enge Beziehungen zu Russland wünscht. Manche von ihnen wollen sogar der Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten. Es handelt sich also, wie Zbigniew Brzezinski und vor ihm Samuel Huntington die Situation beschrieben haben, um ein gespaltenes Land. Es ist einfach falsch, dass sich die Ukraine vorbehaltlos für die NATO entschieden hat. Diese Entscheidung wurde von den seit Februar 2014 regierenden nationalistischen Kräften forciert.
Die Analysen der Umfragedaten durch Volodymyr Ishchenko scheinen zu zeigen, dass die Unterstützung für einen NATO-Beitritt in den 1990er Jahren sehr niedrig war, diese aber angestiegen ist. Man kann sich gut vorstellen, dass sich durch den Krieg von 2014 die Positionen verhärtet haben. Doch die Wahl von Wolodymyr Selenskyj wurde allgemein als Mandat für einen Spannungsabbau interpretiert: Bei dieser Wahl verloren Pro-Maidan-Kräfte an Einfluss, während Selenskyj seine Unterstützung für das Minsk-II-Abkommen bekräftigte. Warum ist es nun doch anders gekommen?
Das stimmt. Selenskyj wurde als Kandidat des Friedens gewählt. Ich würde aber noch weiter gehen und sagen, dass dies auf Petro Poroshenko und seine Wahl im Mai 2014 ebenso zutrifft. Er wurde als Oligarch mit engen Verbindungen nach Russland angesehen. Doch keinem der beiden ist es gelungen, die Beziehungen zu Russland zu verbessern.
Im Dezember 2019 tagte das Normandieformat mit Deutschland, der Ukraine, Russland und Frankreich, und Selenskyjs Stabschef hat versucht, Fortschritte zu erzielen. Doch noch während des Gipfels gab es erneute Proteste auf dem Maidan von Leuten, welche die Position vertreten haben, dass sie weder Verhandlungen noch eine Umsetzung des Minsk-II-Abkommens akzeptieren würden, wenn dies zu Autonomierechten für den Donbass führen würde.
Der erste Faktor ist also eine hoch mobilisierte, radikalisierte Minderheit in der Ukraine, welche die Politik als Geisel hält. Zweitens wird diese Minderheit – obwohl man sich über ihre hässlicheren Extreme lieber ausschweigt – geopolitisch von den westlichen Kräften, die ich als atlantisches Machtsystem bezeichnen würde, unterstützt. Es handelt sich dabei nicht nur um die NATO, sondern, was meiner Ansicht nach viel skandalöser ist, die EU, die hier wirklich mit ihren eigenen Grundsätzen bricht.
Selenskyj ist sogar noch schlimmer als Poroschenko: er hat russischsprachige Kultur- und Medieninstitutionen noch stärker eingeschränkt und zeichnet ein verzerrtes Bild der Geschichte. Man kann also sagen, dass interne und externe Faktoren zusammenspielen. Trotzdem zeigen Umfragen in der Ukraine, dass die Bevölkerung weiterhin gespalten ist, obwohl sich die Stimmung hin zu der Position verschoben hat, die Souveränität des Landes zu verteidigen.
Generell ist die ukrainische Gesellschaft sehr friedliebend. Deswegen ist es so katastrophal, dass wir nun von Krieg und Konflikt sprechen müssen. Doch dies fügt sich in ein größeres Gesamtbild eines neuen Kalten Kriegs. Wenn es sich wirklich um einen Kalten Krieg handelt, dann müssen wir lernen, mit Konflikten umzugehen. Ich würde sagen, dass wir heute die Kubakrise in Zeitlupe erleben. Sie wurde im Oktober 1962 friedlich gelöst: Jupiter-Raketen wurden aus der Türkei abgezogen, die Sowjetunion hat ihre Raketen aus Kuba entfernt, und die USA haben versprochen, dort nicht einzufallen.
Das ist im Grunde, was Putin will, wie schon Boris Jelzin und Michail Gorbatschow vor ihm, welche immer argumentiert haben, dass eine Expansion des atlantischen Sicherheitssystems bis an die russische Staatsgrenze inakzeptabel sei. Mit dieser Frage schlagen wir uns also schon seit dreißig Jahren herum. 2018 hat Putin in seiner Rede zur Lage der Nation gesagt: »Ihr habt damals nicht auf uns gehört, also hört jetzt zu«, als er Überschallraketen und so weiter angekündigt hat. Das ist der Hintergrund der heutigen Situation.
Im Grunde ist die ukrainische Gesellschaft uneins. Es gibt starke Unterstützung für den Frieden, doch der Westen unterstützt die schlimmsten Elemente in der ukrainischen Politik, aus geopolitischen Erwägungen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sich die Ukraine zur Neutralität verpflichtet. Wenn Irland neutral sein kann, wenn Österreich neutral sein kann, wenn Finnland neutral sein kann, warum dann nicht auch die Ukraine, vor allem, wenn es für diese Position viel Unterstützung in der Bevölkerung gibt? Dies war ja auch offizielle Politik des Landes bevor nationalistische Kräfte 2014 die Macht übernahmen.
In der Medien wird oft über Gorbatschows Aussage berichtet, dass eine Osterweiterung der NATO am Ende des Kalten Kriegs nie zur Debatte stand, was die Behauptung der russischen Regierung entkräften soll, dass »Versprechen nicht eingehalten wurden«. Doch wird hier nicht ein wichtigerer Punkt außer acht gelassen, nämlich, dass die Erweiterung der NATO unter Ausschluss Russlands erfolgte und gegen Russland gerichtet schien? Wie ernst sollten wir Gorbatschows Vorschlag für ein »größeres Europa« als Alternative zu einem zweiten Kalten Krieg nehmen, welches Russland mit einschließt, der von Jelzin und Putin ja wiederholt wurde?
Absolut. Es waren ja nicht nur Gorbatschow, Jelzin und Putin, die diese Idee hatten. Der Gaullismus hat ebenso propagiert, dass Europa sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss. François Mitterrand hat ebenfalls eine Europäische Konföderation zur Debatte gestellt.
Gorbatschow hat die missverständliche Aussage gemacht, dass es keine Versprechen gab, die NATO nicht zu erweitern, aber niemand versteht so richtig, warum er das tat. All die nach 2017 veröffentlichten Dokumente des National Security Archive zeigen, dass dutzende westliche Politikerinnen und Politiker sich darin einig waren, dass die NATO nicht über die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands hinaus erweitert werden sollte. Das steht völlig außer Frage. Es ist Teil der außerordentlichen Propagandaschlacht, die wir im Moment erleben, wenn westliche Akademikerinnen und Politiker einfach behaupten, es habe keine Zusagen gegeben.
Letztlich standen zum Ende des Kalten Kriegs zwei Friedensordnungen zur Wahl, beides gute Optionen: Es gab die westliche Version, ein »geeintes und freies Europa«. Doch das [von Russland bevorzugte] »gemeinsame Haus Europa« basierte auf der Idee der Transformation. Die NATO-Erweiterung an sich war nicht einmal unbedingt das Problem, sondern, dass sie ohne einen angemessenen Rahmen stattfand, in dem die Sicherheitsinteressen Russland hätten berücksichtigt werden können.
Ein »gemeinsames Haus Europa« ist der einzige Ausweg. Leute machen sich heute über die Idee lustig, aber ich gehöre nicht dazu. Und es gibt viele Leute in Russland, die das genauso sehen – Liberale, und sogar einige Konservative. Natürlich stellt sich die Frage, welche Form es annehmen würde. Gorbatschow und andere wollten die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unbedingt zu einer wichtigen Sicherheitsorganisation ausbauen, mit einem Sicherheitsrat, also eine Art regionale Version der Vereinten Nationen, wodurch das Problem gelöst worden wäre. Die NATO hätte dann erweitert werden können. Denn es gibt durchaus gute Argumente, sie auszudehnen. Die NATO hindert kleinere Staaten daran, miteinander Kriege zu führen, und wird Griechenland und die Türkei hoffentlich weiter davon abhalten, in einen Konflikt zu geraten.
Doch im Gegenzug muss Russland auf einer andere Art in die Sicherheitsordnung einbezogen werden, und das ist nicht geschehen. Es gab den Ständigen NATO-Russland-Rat von 1997, und den NATO-Russland-Rat von 2002, aber ich würde sie eher als Schadensbegrenzungsmaßnahmen bezeichnen, welche das Problem nicht wirklich gelöst haben. Fraglos haben sich seit 2018 Putin und sein Team – seine Hardliner – durchgesetzt. Ihre Aussage war : »Uns reicht es jetzt, wir können dem Westen nicht trauen, sie bewegen sich auf unsere Grenze zu.« Und es geht hier nicht nur um die NATO. Es geht auch um Raketenabwehrsysteme in Rumänien und Polen, und die [Senkrechtstartanlagen] MK-41 des Programms Aegis Ashore. Wenn es endlose Provokationen gibt, wenn atomwaffenfähige B-52-Bomber die Grenze abfliegen und in der Ostsee endlos Kriegsschiffe aufkreuzen, was Russland als Militärübungen betrachtet, sagt der gesunde Menschenverstand, dass es irgendwann eine Gegenreaktion geben wird. Besonders bedrückend ist an diesem zweiten Kalten Krieg, dass kaum jemand im Westen zu verstehen scheint, wie viel auf dem Spiel steht.
Wir haben gesehen, dass die Ukraine kein Monolith ist, aber es gibt Kräfte, die den Konflikt mit Russland aus eigenen Motiven aufheizen wollen. Ähnliches könnte man aber auch über Russland behaupten. Über Alexei Nawalny hinaus – der im Time Magazine den Westen des Appeasements bezichtigt hat – gibt es auch oppositionelle Kräfte in Russland, die Putin nicht aus einer pro-westlichen Perspektive kritisieren. Welchen Glauben sollte man der These schenken, dass Putin diese Forderungen an den Westen stellt, um seine innenpolitische Position zu verbessern und die Bevölkerung durch den drohenden Krieg hinter seiner Führung zu vereinen – oder, wie manche behaupten, um die Gaspreise in die Höhe zu treiben?
Besonders ärgerlich an der heutigen Situation in Russland ist, dass Liberale zu versuchen scheinen, ihre schwache innenpolitische Position dadurch zu stärken, dass sie sich mit dem Westen verbünden. Bei den Umfragen zur Präsidentschaftswahl von 2018, als er noch frei war, lag Nawalny bei 1 bis 2 Prozent, und selbst heute, nach der ganzen Publicity, hält sich die Unterstützung für ihn in Grenzen. Die Liberalen sind in einer Todesspirale gefangen, weil sie in dieser fürchterlichen Sprache des Kalten Kriegs als »fünfte Kolonne« und »Ablenker« bezeichnet werden, obwohl die meisten von ihnen es nicht sind und nur mehr Demokratie und verfassungsmäßige Rechte fordern. Sie spielen mit dem Westen ein gefährliches Spiel.
Aber die öffentliche Meinung in Russland ist nicht militaristisch – ganz im Gegenteil. Dasselbe gilt übrigens für die Ukraine. Lediglich im Westen scheint die Bevölkerung außer Rand und Band zu sein. In der Ukraine sind die Leute friedfertig, genauso in Russland.
Doch der wesentliche Punkt, den westliche Kommentatorinnen immer und immer wiederholen, dass Putins Säbelrasseln dazu dienen soll, seiner abnehmenden Beliebtheit entgegenzuwirken, trifft schlicht und einfach nicht zu. Zwar ist seine Beliebtheit etwas gesunken, aber sie ist immer noch sehr hoch (um die 65 Prozent) für jemanden, der zwanzig Jahre lang an der Macht war. Ich bin kein harter offensiver Realist wie John Mearsheimer, der die Meinung vertritt, dass Innenpolitik keinerlei Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik hat, aber einige seiner Argumente leuchten mir ein.
Ich war immer der Meinung, dass man die russische Politik am besten als Kampf zwischen verschiedenen Lagern mit unterschiedlichen Interessen versteht, und dass diese Lager von der Normalbevölkerung bis zur Elite reichen. Meinem Verständnis nach haben die sogenannten »Pragmatiker« seit dem Herbst 2019 im Kreml und innerhalb der Elite ihre Machtposition verloren. Im Wesentlichen haben die Hardliner gesagt: »Genug ist genug, der Westen hat uns an der Nase herumgeführt, wir müssen jetzt wirklich dagegen halten.« Leider bedeutet dies für sie auch, der inländischen Opposition das Leben schwer zu machen, was – genau wie zu Sowjetzeiten – ein großer Fehler ist. Die interne Repression untergräbt die Glaubwürdigkeit der russischen Außenpolitik. Dabei hat die russische Seite ein sehr legitimes Anliegen – es gibt für sie ein klares Sicherheitsproblem. Aber diese Argumentation wird untergraben – zum Beispiel durch den Versuch, die Menschenrechtsorganisation Memorial aufzulösen. Für mich war die Existenz von Memorial, solange sie mehr oder weniger normal arbeiten konnten, immer ein Symbol dafür, dass es in Russland immer noch ein gewisses Niveau von Pluralismus und Offenheit gab. Doch seit dem Herbst 2019 greift die Regierung hier sehr hart durch.
Auch die britische Presse betont oft, man dürfe gegenüber Putin kein »Appeasement« betreiben. In Deutschland werden Bezüge zum Zweiten Weltkrieg hergestellt, etwa, wenn Außenministerin Baerbock behauptet, es gebe aus »historischen Gründen« eine Verantwortung, diese Staaten zu verteidigen. Der Gedanke, dass kleine Staaten, wie etwa die baltischen Länder, ein Recht auf Selbstbestimmung haben und nicht wehrlos auf sich selbst gestellt sein sollten, was Putin ja effektiv fordert, leuchtet auf einer gewissen Ebene ein. Doch sicher ist diese Analogie auch problematisch, weil sie in der westlichen Politik ein rhetorisches Element einführt, dass dazu geeignet ist, sämtliche Kritikerinnen und Kritiker zu dämonisieren und alle, welche die Aufrüstung nicht vollumfänglich unterstützen, als »Appeaser« darzustellen.
Die Tendenz, welche Sie beschreiben, ist heute sogar noch schlimmer als im ersten Kalten Krieg, denn damals gab es im Westen wenigstens so etwas wie eine Vielstimmigkeit in der öffentlichen Debatte. Ich habe das Frankreich von Charles de Gaulle erwähnt, und in Westdeutschland gab es die Ostpolitik, welche auf Wandel durch Annäherung setzte – ein Ansatz, der bis in der frühen 1960er Jahre zurückreicht. Was heute wirklich schockiert, ist der Mangel an kritischen Stimmen. Stattdessen wird endlos die Einigkeit der Atlantikmächte propagiert. Doch Einigkeit ist nur etwas gutes, wenn man um eine sinnvolle Politik vereint ist, nicht, wenn sie in eine Echokammer für falsche Analysen führt, über die wackere kleine Ukraine, die von einer revisionistischen Macht bedroht wird. Ich kann dem deutschen Umgang mit der Geschichte viel abgewinnen, doch nichts ist gefährlicher, als ihre falsche Anwendung auf einen anderen historischen Moment. Jede Initiative zur Annäherung – die klassische deutsche Vorgehensweise – und sogar die Fertigstellung von Nord Stream 2 wird als »Appeasement« gesehen.
Die heutige Situation wird gänzlich missverstanden. Putin will das Sowjetimperium nicht wieder auferstehen lassen. Unser Verteidigungsminister in Großbritannien, Ben Wallace, hat Putin diese Woche als Ethnonationalisten bezeichnet. Doch nichts könnte falscher sein: In Russland leben mindestens 150 Nationalitäten. Putin spricht sich wieder und wieder gegen den Ethnonationalismus aus, ganz einfach, weil das Land daran zerbrechen würde. Wenn westliche Politikerinnen und Politiker selbst bei diesen einfachen Tatsachen falsch liegen, werden sie auch bei großen geopolitischen Entscheidungen schwere Fehler machen.
Meiner Ansicht nach ist die gegenwärtige Situation wesentlich gefährlicher, weil es nur ein paar mutige Einzelstimmen gibt, die widersprechen. Ich bin sehr froh, dass es heute das Quincy Institute for Responsible Statecraft gibt; es gibt auch einige Leute in den USA, aber schockierend wenige in Großbritannien – in Deutschland hat sich der Wind gedreht, besonders bei den Grünen, die heute liberale Interventionisten der schlimmsten Sorte in der Tradition Clintons sind – Falken im Kalten Krieg.
Außenpolitik sollte immer zwischen Interessen und Werten abwägen. Wenn Russland einfach so in der Ukraine einfallen und die dortige Demokratie unterdrücken wollte, wäre ich der erste, der die Ukraine unterstützen würde. Aber davon reden wir hier nicht. Putins sogenannter Revisionismus hat nichts mit dem Vorgehen Hitlers zu tun. Die endlose, implizite reductio ad Hitlerum ist in diesem Fall einfach Unsinn. Als Putin an die Macht kam, hat er sich dafür ausgesprochen, dass Russland der NATO beitritt. Die Elite und die politische Führung in Russland sind rational. Sie wollen kein Reich erschaffen. Sie sagen einfach nur: »Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Hört endlich auf uns.«
Die Lösung ist auch ganz einfach: eine neutrale Ukraine. Niemand übernimmt das Land. Putin hat das Minsk-II-Abkommen unterstützt, welches einen Rahmen für die Rückkehr des Donbass unter ukrainische Verwaltung schafft. Wo ist hier bitte der Imperialismus? Heute leben 2,5 Millionen Menschen im Donbass, mit ihren eigenen Ansichten. Putins ursprüngliche Mobilisierung war eine Reaktion auf die 100.000 ukrainischen Truppen an der Grenze, auf die türkischen Drohnenraketen, welche im letzten Jahr im Konflikt um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan ihre Effektivität gezeigt haben. Moskau hatte Angst, dass die Ukraine hier dasselbe machen könnte wie Kroatien bei der Operation Oluja beim Angriff auf serbischen Enklaven Mitte der 1990er Jahre. Die Situation ist komplex, aber wie wesentlichen Elemente sind recht klar.
Sie haben die heutige Situation als »Kubakrise in Zeitlupe« bezeichnet. Damals gab es die Möglichkeit einer für beide Parteien gesichtswahrenden Lösung durch beidseitige Deeskalation. Gibt es diese Möglichkeit auch heute, etwa durch eine neue Runde der Normandiegespräche oder die Minsker Abkommen?
Angeblich ist ein neues Gipfeltreffen zwischen Joe Biden und Wladimir Putin geplant, eventuell sogar schon nächste Woche, was sehr zu begrüßen wäre. Jegliche Verhandlungen sind im Moment wichtig. Meiner Ansicht nach ist die Chance fifty-fifty. Ich glaube, es gibt kein wirkliches Verständnis dafür, wie viel Glück wir damals im Oktober 1962 hatten, weil wir im es im Prinzip mit rationalen Entscheidern zu tun hatten, nicht zuletzt Jack und Robert Kennedy, aber auch, weil es direkte Kanäle gab. Ich glaube, das ist heute so gut wie nicht gegeben und wir sind einem echten Krieg näher als damals. Der Westen, und natürlich vor allem die Briten, stolpern da einfach so rein und gießen Öl ins Feuer, sogar Deutschland hat britischen Militärtransporten in die Ukraine seinen Luftraum verweigert.
Ich glaube, es könnte so oder so ausgehen. Die Russen können sich nicht einfach so zurückziehen, ohne etwas in der Hand zu haben, aber der Westen bietet ihnen fast nichts. Am Rande gibt es Gespräche, und das ist gut. Es gibt kleine Angebote – auch gut. Aber sie erreichen nicht die notwendige Größenordnung. Die Russen sagen jetzt, dass wir zur Agenda Gorbatschows, eine neue europäische Friedensordnung zu etablieren, zurückkehren müssen.
Sie haben erwähnt, dass jedes Land selbst entscheiden kann; aber die andere Seite der 1990 etablierten Friedensordnung ist, dass Sicherheit unteilbar ist. Die Russen sagen jetzt: »Wo ist unsere Sicherheit? Man hat uns außen vor gelassen.«
Jetzt sind wir dem Krieg näher. Ich glaube aber nicht, dass das eine Besatzung der Ukraine bedeuten würde. Wahrscheinlicher sind meiner Ansicht nach Artillerieraketen- und Luftangriffe und ähnliches, um die ukrainischen Streitkräfte zu schwächen und den Westen zu ernsthaften Verhandlungen zu zwingen. Bis jetzt halten sich alle an ihr Skript, aber es muss irgendeine Art von Erklärung geben. Die Kubakrise wurde durch gesichtswahrende Zugeständnisse beider Seiten gelöst. Heute brauchen wir mehr als nur Gesichtswahrung, sondern substanzielle Bewegung.
Richard Sakwa ist Professor für russische und europäische Politik an der University of Kent und Autor von »Frontline Ukraine: Crisis in the Borderlands«.
Richard Sakwa ist Professor für russische und europäische Politik an der University of Kent und Autor von »Frontline Ukraine: Crisis in the Borderlands«.