06. November 2023
Es heißt, der Markt gebe uns jede Möglichkeit, uns gesund und nachhaltig zu ernähren – wer es nicht tut, sei selbst schuld. Diese Erzählung ist sehr bequem für Lebensmittelindustrie und Regulierungsbehörden. Doch sie ist völlig haltlos.
Hunger?
Wie oft essen wir am Tag? Frühstück, Mittagessen, Abendessen, vielleicht noch ein paar Snacks – sagen wir fünfmal. Morgens ein Brötchen, Müsli oder nur einen Kaffee? Nudeln zum Mittagessen oder lieber zum Abendessen? Kichererbsen oder Lachs? Tja, im Laden gibt es keinen Naturjoghurt mehr, dann wohl doch den mit Zucker. Und schau mal, die Tiefkühlpizza ist diese Woche im Angebot. Ja, ich weiß, ich wollte mich eigentlich gesünder ernähren. Aber ich bin müde, habe keine Zeit, und sie ist im Angebot.
Solche Entscheidungen treffen wir jeden Tag – beim Einkaufen, in der Kantine, beim Bäcker, vor dem Kühlschrank. Bei fünf Mahlzeiten: Zehn, zwanzig, vielleicht sogar fünfzig. In den meisten Fällen merken wir nicht mal, dass wir dabei sind, eine Entscheidung zu treffen.
Unser alltägliches Ernährungsverhalten ist viel komplexer, als es scheint. Und es wird nur zum Teil bewusst von uns gesteuert: Das allermeiste läuft sozusagen im Hintergrund, wie die Schrittzähler-App auf dem Handy. Wir merken nicht, dass da was aktiv ist, aber am Ende macht es einen Unterschied, wie viel wir uns bewegt haben. Im Fall der Ernährung macht es einen Unterschied (und zwar einen riesengroßen) wo wir uns bewegen, also in welcher Ernährungsumgebung. Denn unser Autopilot verlässt sich gerne auf das, was gerade verfügbar, bequem oder gewohnt ist. Alltägliche Essensentscheidungen basieren selten (nur) auf Informationen – und das hat Konsequenzen.
Dass Ernährung einen enormen Einfluss auf die körperliche und psychische Gesundheit hat, ist inzwischen den allermeisten bewusst. Viele Menschen versuchen zumindest in Teilen dementsprechend zu essen, wählen in der Kantine häufiger das Sellerie-Schnitzel statt den Burger und essen abends auf der Couch Obst und keine Schokolade. Doch wir essen immer noch zu viel Zucker, Salz, Fett, Fleisch und Fertigprodukte, und zu wenig Gemüse, Vollkorngetreide, Pilze, Hülsenfrüchte, Nüsse, Obst – obwohl eine gesunde Ernährung auch noch nachhaltiger ist: Denn ein erheblicher Teil der ernährungsbezogenen CO2-Emissionen und des Biodiversitätsverlusts ist auf die Herstellung von tierischen Produkten zurückzuführen.
In den letzten Jahrzehnten hat sich das politische Narrativ der »verantwortungsvollen Verbraucherentscheidungen« etabliert. Diesem Ansatz liegt die Vorstellung zugrunde, dass Sensibilisierung und Aufklärung über gesunde und nachhaltige Lebensmittelauswahl die Menschen dazu bringen würden, ihr Ernährungsverhalten zu ändern. Dieser Diskurs entlastet Lebensmittelindustrie, -handel und Regulierungsbehörden weitgehend und überträgt den konsumierenden Bürgerinnen und Bürgern eine große Verantwortung.
»Durch ihre Preisstrategien und Werbeaktionen können Unternehmen viel dazu beitragen, bestimmte Ernährungsgewohnheiten zu unterstützen oder zu erschweren.«
Von ihnen wird erwartet, dass sie die »richtigen« Entscheidungen treffen – auf der Grundlage von Informationskampagnen oder Aufforderungen, sich gesünder beziehungsweise nachhaltiger zu ernähren. Schade nur, dass das wenig bringt. Denn Menschen treffen die meisten ihrer Ernährungsentscheidungen (und nicht nur die) in der Regel nicht aufgrund der besten verfügbaren Informationen. Vielmehr spielt eine ganze Reihe von physischen, wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Faktoren eine Rolle – Faktoren, auf die die einzelne Person nur sehr geringen Einfluss hat.
Natürlich macht es einen Unterschied, ob man über Ernährungskompetenzen verfügt, also Kenntnisse über die Zusammensetzung und die Handhabung von Lebensmitteln, die Fähigkeit, diese Kenntnisse einzusetzen, aber auch ausreichende Informationen und schriftsprachliche Grundfertigkeiten, um den Siegel- und Ratgeber-Dschungel zu verstehen oder Werbung zu durchschauen. Solche Kompetenzen sind in der Bevölkerung rückläufig. Nichtsdestotrotz wird im öffentlichen Diskurs meistens auf das Verhalten (der Individuen) und nur sehr selten auf die Strukturen (des Ernährungssystems) fokussiert.
Der Begriff »Ernährungsumgebung« klingt erst einmal kompliziert, doch wir alle wissen, was das ist. Wir leben darin. Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) beschreibt eine Ernährungsumgebung als »der physische, wirtschaftliche, politische und soziokulturelle Kontext, in dem Verbraucherinnen und Verbraucher mit dem Lebensmittelsystem interagieren, um Entscheidungen über die Beschaffung, die Zubereitung und den Verzehr von Lebensmitteln zu treffen«. Damit gemeint sind also persönliche Gewohnheiten, Wissen und Vorlieben, aber auch die Präsenz und die Verfügbarkeit von Lebensmitteln, der physische Zugang dazu, die Größe von Verpackungen und Portionen, Preise, Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft, Werbung und Marketing.
Auch wenn wir meistens nicht darüber nachdenken, macht es einen Unterschied, ob es im Supermarkt dreißig Sorten Joghurt mit Zucker gibt und nur zwei ohne. Es macht einen Unterschied, ob Chips und Süßigkeiten auf den oberen Regalen platziert werden oder unten, wo Kinder sie schnell erreichen. Es macht einen Unterschied, ob bei Bio-Produkten eine größere Marge gesetzt wird als bei konventionellen, und ob sie seltener im Angebot sind. Eine Umfrage unter europäischen Verbraucherinnen und Verbrauchern ergab unlängst, dass Preise das Haupthindernis für eine nachhaltige und gesunde Ernährung sind. Durch ihre Preisstrategien und Werbeaktionen können Unternehmen also viel dazu beitragen, bestimmte Ernährungsgewohnheiten zu unterstützen oder zu erschweren.
»Es macht einen Unterschied, dass wir überall Werbung für Snacks und Fertiggerichte sehen und so gut wie nie für frisches Obst und Gemüse – man könnte fast den Eindruck gewinnen, nur hochverarbeitete Produkte könnten für Genussmomente sorgen.«
Es macht einen Unterschied, ob im Kino 2-Liter-Softdrink und Popcorn XXL genauso viel kosten wie ein kleines Getränk mit kleinem Popcorn. Es macht einen Unterschied, dass wir überall Werbung für Snacks und Fertiggerichte sehen und so gut wie nie für frisches Obst und Gemüse – man könnte fast den Eindruck gewinnen, nur hochverarbeitete Produkte könnten für Genussmomente oder gar Geselligkeit im Alltag sorgen. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind ungesunde Lebensmittel im Lebensmitteleinzelhandel und unterwegs immer leichter erhältlich, erschwinglicher und stärker beworben. Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Stoffwechselforschung in Köln zeigt, dass der regelmäßige Konsum von Zucker und Fetten unser Gehirn verändert, sodass wir immer mehr davon essen.
Es macht auch einen Unterschied, ob man in der Stadt oder auf dem Land lebt, denn auf dem Land gibt es meistens nicht so viele Einkaufsmöglichkeiten – und häufig braucht man zudem ein Auto oder zumindest eine Mitfahrgelegenheit, um sie zu erreichen. Wer Pech hat, muss den Einkauf mit dem Bus stemmen, möglicherweise mit Kindern und Kinderwagen oder Rollator im Schlepptau, auch wenn der Bus nur jede zwei Stunden fährt, wenn überhaupt. Wer in der Stadt lebt, hat aber nicht automatisch mehr Glück: Es kommt darauf an, ob man in einem Stadtviertel mit mehreren Supermärkten, Discountern, Bioläden, Drogeriemärkten, vielleicht sogar einem Foodsharing-Verteiler, einem Wochenmarkt und netten Restaurants lebt – oder doch in einem Quartier mit weniger Geschäften, Fastfood-Ketten und möglicherweise nicht mal einer Ausgabestelle der Tafel.
Food deserts, »Nahrungswüsten«, heißen solche Gegenden: Einkommens- und strukturschwache Gebiete, deren Einwohnerinnen und Einwohner einen sehr eingeschränkten Zugang zu einem gesunden Lebensmittelsortiment haben. Auch Orte, an denen Lebensmittel zwar ausreichend vorhanden sind, jedoch vor allem Produkte, deren übermäßiger Verzehr Gesundheit und Umwelt schadet, haben ihren eigenen Begriff: food swamps, »Nahrungssümpfe«. Menschen, die in solchen Versorgungslücken leben, aufzufordern, »gesunde und nachhaltige Entscheidungen zu treffen«, geht völlig an der Realität vorbei.
Unsere heutigen Ernährungsumgebungen machen richtige Ernährungsentscheidungen also nicht gerade einfach. Im Gegenteil, sie machen es leichter, sich ungesund und nicht nachhaltig zu ernähren. Dies wiederum verstärkt die Vorliebe für ernährungsphysiologisch ungünstige (energiedichte und nährstoffarme) Lebensmittel und verfestigt nicht nachhaltige Lieferketten.
Letztendlich ist es, mal wieder, eine soziale Frage: Wo man wohnt, welche Lebensmittel man sich leisten kann, welcher Bildungsweg hinter einem liegt, über wie viele Ernährungskompetenzen man verfügt und in was für einer familiären Situation man lebt. Studien zeigen, dass sozioökonomisch schwache Haushalte gezwungenermaßen eine deutlich geringere Vielfalt an Lebensmitteln verzehren und hochverarbeitete, günstige und sättigende Lebensmittel gegenüber frischem Gemüse und Obst bevorzugen. Dabei gehen Fettleibigkeit, Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, einige Krebsarten und verfrühte Mortalität verstärkt mit ungesunder Ernährung einher – und werden in diesen Gruppen häufiger diagnostiziert. Die empirischen Erkenntnisse hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit sind eindeutig.
Doch das vorherrschende Narrativ der »verantwortungsvollen Verbraucherentscheidungen« weist den Konsumentinnen und Konsumenten die Schuld zu, wenn sie sich nicht für die gesunden, nachhaltigen Optionen entscheiden. Denn wenn, so wie behauptet, der Markt alle Optionen anbietet und die Menschen die »freie Wahl« haben, können diejenigen, die nicht die »richtigen« Entscheidungen treffen, nur selbst dafür verantwortlich sein – als ob ihre Handlungen ausschließlich auf ihre eigenen Unzulänglichkeiten zurückzuführen wären. Dieser Diskurs ist nicht nur wissenschaftlich haltlos, er hat auch eine gefährliche moralische Kehrseite. Das zeigt sich allzu oft in der Stigmatisierung von Personen mit Übergewicht oder mit niedrigem sozioökonomischen Status.
»Mehrwertsteuervergünstigungen auf ungesunde Lebensmittel könnten aufgehoben werden, oder Abgaben eingeführt. Gesunde Lebensmittel könnten im Gegenzug vergünstigt werden.«
Gleichzeitig zeigen Umfragen, dass viele Menschen durchaus bereit sind, ihre Essgewohnheiten nachhaltiger zu gestalten, sie aber unter den aktuellen Umständen Schwierigkeiten haben, dies zu tun. Zu den größten Hindernissen zählen Preise, fehlende Informationen und die begrenzte Verfügbarkeit passender Lebensmittel. Auch der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung – nicht gerade ein unwichtiges Gremium also – fordert bereits seit geraumer Zeit »faire« Ernährungsumgebungen: Auf die Menschen abgestimmte Rahmenbedingungen, die die nachhaltigere Wahl attraktiver machen und eine gesunde und nachhaltigere Ernährung im Alltag aller ermöglichen. Bei deren Gestaltung liegt Deutschland im internationalen Vergleich zurück.
Der Neoliberalismus und die Art und Weise, wie er in institutionellen Mechanismen verankert wurde, prägt Ernährungsumgebungen und ihre Governance maßgeblich. Um wirklich faire Ernährungsumgebungen zu schaffen, muss man daher den Fokus von den Individuen auf die Strukturen verlagern – auf die Ungleichheit, die vielen Menschen keine Wahl lässt, und auf die Unternehmen, die unser Ernährungsverhalten bewusst in ihrem Profitinteresse beeinflussen. Dabei gibt es sehr viele Stellschrauben, die gedreht werden könnten: Wir haben kein Wissens-, sondern ein Umsetzungsproblem.
Mehrwertsteuervergünstigungen auf ungesunde Lebensmittel könnten zum Beispiel aufgehoben werden, oder Abgaben eingeführt. Gesunde Lebensmittel könnten im Gegenzug vergünstigt werden. Mehr als vierzig Länder weltweit setzen bereits eine Süßgetränkesteuer um. In Südkorea ist der Verkauf von Fastfood und Süßgetränken seit 2010 im Umkreis von zweihundert Metern um Schulen herum eingeschränkt. Und in einer Reihe von Städten in den USA müssen Kindermenüs standardmäßig Wasser oder ungesüßte Getränke enthalten.
In Deutschland sind nicht mal die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für Kitas, Schulen und Care-Einrichtungen verpflichtend. Entgegen dem Vorschlag einer Zuckersteuer hat sich die deutsche Getränkeindustrie im Jahr 2018 (im Rahmen der von Julia Klöckner ins Leben gerufenen Nationalen Reduktionsstrategie für Fertiglebensmittel) freiwillig verpflichtet, den Zuckergehalt unter anderem von Softdrinks von 2015 bis 2025 um 15 Prozent zu reduzieren. Die Zwischenbilanz? Ernüchternd: Bis 2021 betrug die Senkung 2 Prozent. Appelle an den guten Willen der Industrie scheinen also mal wieder nicht zu funktionieren.
Die Lebensmittelindustrie wehrt sich aktuell vehement gegen das Gesetzesvorhaben, mit dem Bundesernährungsminister Cem Özdemir an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit zu viel Zucker, Salz oder Fett einschränken will. Laut einer Umfrage unterstützt die deutliche Mehrheit der Bevölkerung das Vorhaben. Dagegen hat die Ernährungsindustrie die Kampagne »Lieber mündig!« gestartet und Union, FDP sowie auch SPD haben sich sehr kritisch zum Gesetzentwurf geäußert. Das Ergebnis der Verhandlungen ist noch offen. Doch unabhängig davon steht fest: Der wirksamste und gerechteste Weg zu einer gesunden, nachhaltigen Ernährung für alle besteht darin, die strukturellen Faktoren zu ändern, die die Lebensmittelwahl bestimmen und Millionen Menschen benachteiligen.
Silvia Monetti ist Politikwissenschaftlerin, arbeitet im Verbraucherschutz und promoviert zum Thema Ernährungspolitik und soziale Gerechtigkeit.