06. Juni 2024
Derzeit wird verstärkt an einem Narrativ gearbeitet, die EU vertrete – ob mit ökonomischer Soft Power oder militärischer Hard Power – stets nur die Werte des Guten in der Welt. Lassen wir uns nicht täuschen: Außenpolitik ist knallharte Interessenpolitik.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf der Digitalmesse Re:publica, Aufnahme vom 27. Mai 2024.
Seit dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine werden zunehmend Narrative aufgebaut, die die NATO- und EU-Strategie untermauern, diesen Krieg mit Waffenlieferungen zu verlängern, statt politische und diplomatische Maßnahmen zu ergreifen, um ihn zu beenden. Dabei wird auch immer wieder das Wort Solidarität bemüht. Und ja, selbstverständlich gibt es keine Rechtfertigung – für niemanden –, sein Nachbarland anzugreifen. Doch die Bevölkerung, auch hier, auf einen langen Krieg und das Wegwischen von allen internationalen diplomatischen Bemühungen einzuschwören, ist fatal.
Die bundesdeutschen Debatten, wie auch die breiteren Debatten innerhalb der EU, triefen von der Militarisierung der Gesellschaft. Der Kriegstüchtigkeit wird das Wort geredet, nachdenkliche Stimmen werden beiseite gewischt oder als Putin-Versteher gebrandmarkt. Dabei soll der breiten Öffentlichkeit das Gefühl vermittelt werden, dass die Regierenden mit hehren Zielen, aus europäischen Werten heraus handeln und doch nur internationales Recht verteidigen.
Bundeskanzler Scholz hat sogar behauptet, es handele sich bei Russlands Invasion der Ukraine um den ersten völkerrechtswidrigen Krieg in Europa seit 1945. Leider scheint hier ein Gedächtnisverlust vorzuliegen, der den völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz im ehemaligen Jugoslawien und ferner die vielen Kriege der NATO und auch vieler EU-Staaten außerhalb Europas ausblendet, ob in Afghanistan, in Libyen oder im Irak.
Auf die Frage, warum man diese vermeintliche Solidarität nicht auch beispielsweise der kurdischen Bevölkerung im Norden Syriens zuteilwerden lässt, wenn die Türkei unter dem Erdogan-Regime immer wieder völkerrechtswidrig Dörfer bombardiert, weiß die Bundesregierung keine Antwort. Und nicht nur der NATO-Partner Türkei erhält Waffen made in EU, auch die Autokratie in Saudi-Arabien wurde in ihrem Krieg gegen den Jemen mit Waffen aus der EU und den USA beliefert.
Das gilt auch für den Krieg im Gazastreifen. Während der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Israels Regierungschef Netanyahu wegen Kriegsverbrechen im Gaza beantragt hat, hat Deutschland seine Waffenausfuhren nach Israel seit dem 7. Oktober verzehnfacht. Während Spanien, Norwegen, Irland und Slowenien in den vergangenen Wochen Palästina als Staat anerkannt haben, sieht Deutschland weiterhin davon ab – trotz Sonntagsreden für eine Zwei-Staaten-Lösung.
Es ist also einerseits offensichtlich, dass diese Politik moralische Doppelstandards aufweist und andererseits, dass die angeblich vorhandene »europäische Außenpolitik« in Wirklichkeit keine gemeinsame Außenpolitik ist. Es gibt lediglich allgemeine und bei aktuellen Entwicklungen punktuelle Vereinbarungen oder Präferenzen verschiedener Mitgliedsstaaten der EU zu bestimmten internationalen Fragen, die dann von der Kommission beziehungsweise dem Hohen Vertreter umgesetzt werden, falls sie im EU-Rat eine Mehrheit gefunden haben.
So bleibt festzuhalten: Außenpolitik ist knallharte Interessenpolitik, bei der es nicht vordergründig um Menschenrechte oder hehre Werte geht, sondern um Einflusszonen. Man agiert da gemeinsam, wo man gemeinsame Interessen sieht.
Derzeit wird in der EU ein »Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten« angestrebt, das teilweise bereits Realität ist. Es würde nicht überraschen, wenn in der nahen Zukunft auch bezüglich der Außenpolitik eine ähnliche Struktur geschaffen würde.
Die EU-Außenpolitik wird zwar von der EU-Kommission betrieben, aber durch die Interessen und Präferenzen der größten und stärksten Mitgliedsstaaten vermittelt. Angesichts der Herausforderungen der neuen Weltlage erweist sich diese bisherige Weise, Außenpolitik zu gestalten, zunehmend als unwirksam. Es ist abzusehen, dass die Diskussionen über die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in Schlüsselbereichen zunehmen werden und es auch einige Veränderungen in der Gestaltung der europäischen Außenpolitik geben wird.
Vor allem Frankreich und Deutschland wollen das Prinzip der qualifizierten Mehrheit. De facto würde das allerdings geradezu eine Sperrminorität für diese beiden Länder bedeuten – ohne sie wäre keine Entscheidung möglich. Deshalb wehren sich vor allem kleinere Mitgliedsstaaten gegen die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips.
»Ein Schelm, wer bei der Europäischen Nachbarschaftspolitik an Verfolgung von geopolitischen Interessen, Öffnung von neuen Märkten für europäische Konzerne und Monopole oder die Verdrängung von rivalisierenden Staaten denkt.«
Wenn von europäischer Außenpolitik die Rede ist, dann ist im Kern immer ein gemeinsames Handeln der Kernmächte gemeint. Da die Außenpolitik der EU aber eine höhere Legitimität besitzt als nationale militärische Alleingänge, wird diese derzeit grundsätzlich verändert. Die EU wird immer stärker in die Lage versetzt, auch militärisch zu agieren. Bis vor kurzem stützte sich die Interessendurchsetzung hauptsächlich auf Soft Power, also vor allem auf ökonomischen Druck. Jetzt wird dies immer mehr durch Hard Power ersetzt beziehungsweise ergänzt. Nun ist es nicht so, dass die EU in der Vergangenheit mit Soft Power keine geopolitischen Ziele verfolgt hätte.
Die aktuelle Aufrüstung in den Mitgliedstaaten der EU und auf EU-Ebene folgt augenscheinlich der Devise, bei der Neuverteilung von Macht und Einfluss in der Welt nicht zu kurz kommen zu wollen. Auch wenn dieser Kurs überraschen mag, so liegt es doch in der Natur des Systems, notfalls auch militärische Konflikte zu riskieren, um bestimmte Kapitalinteressen zu sichern. Tatsächlich geht es in der globalen Aufrüstungsspirale und bei Kriegen um nichts weniger, als um die Interessen des Kapitals, die geopolitisch untermauert werden.
Die inneren Widersprüche der führenden EU-Staaten – und auch der transatlantischen Partnerschaft – sind nicht gerade geringer geworden. Doch die europäischen Führungsmächte Deutschland und Frankreich wissen, dass sie die EU als größeren Zusammenschluss brauchen, um in Zeiten der verhärteten Konkurrenz mit anderen großen ökonomischen oder militärischen Mächten mithalten zu können.
Dass die EU-Kommission in den letzten Jahren (beschleunigt vor allem durch den Ukrainekrieg) einer immer stärker auf Hard Power setzenden Außenpolitik das Wort redet und dazu die militärische Aufrüstung in Europa vorantreibt, ist natürlich kein Zufall. Soft Power reicht in vielen Fällen nicht mehr, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Dazu kommen Herausforderungen, die es zuvor nicht gab, wie zum Beispiel die steigende Gefahr der Fragmentierung des Weltmarktes beziehungsweise Welthandels, die Neustrukturierung der Liefer- und Wertschöpfungsketten und die Geopolitisierung von Rohstoffzufuhren, allen voran Energie. Diese Herausforderungen gehen einher mit Verlusten von Marktanteilen europäischer Konzerne und Monopole. Es kommt zu Verschiebungen innerhalb der internationalen Kräfteverhältnisse, wobei die EU tendenziell auf dem absteigenden Ast sitzt.
Die Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock fabuliert weiterhin über wertebasierte Außenpolitik und behauptet – ja, glaubt womöglich selbst –, Deutschland stünde mit der EU »im Kampf der Demokratie gegen Autokratie auf der Seite der Freiheit und der Menschenrechte« und die forcierte Aufrüstung in Deutschland und der EU diene diesem hehren Ziel. Dabei stellte die konservative EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union am 15. September 2021 (also schon vor dem Ukrainekrieg) nüchtern fest, die Welt trete »in eine neue Ära verstärkter Konkurrenz ein«.
Man befinde sich in einer »Ära regionaler Rivalitäten und großer Mächte, die ihr Verhältnis zueinander neu austarieren.« Um bestehen zu können, brauche es eine »Europäische Verteidigungsunion«. Dazu gehören aus ihrer Sicht nicht nur europäische Interventionskräfte, sondern auch der »politische Wille«, sie einzusetzen. Ferner will von der Leyen ein europäisches »Lage- und Analysezentrum« sowie »gemeinsame europäische Plattformen, von Kampfflugzeugen bis hin zu Drohnen und im Cyber-Bereich« aufbauen.
Die EU hat sehr viel unternommen, um sich in die Lage zu versetzen, in der »Ära verstärkter Konkurrenz« ihre Pfründe militärisch zu sichern: In den letzten fünf Jahren wurden vier Rüstungsfonds und -budgets auf EU-Ebene eingeführt. Auch wird verstärkt am Ausbau einer schlagkräftigen Rüstungsindustrie gearbeitet.
Wenn man sich die verschiedenen Äußerungen von EU-Vertreterinnen und -vertretern anhört, mit denen sie durch die Blume erklären, warum in der europäischen Außenpolitik eine Wendung von latenter zu offener Geopolitik vollzogen wird, zeigt sich ein roter Faden: Die Erzählung, das Ganze sei nur eine Reaktion auf die Aktivitäten »böser Mächte« von außen, die alles Erdenkliche tun, um die »regelbasierte Weltordnung« zu untergraben.
Nach diesem Narrativ stellt die EU »das Gute« dar. Sie betreibe beispielsweise eine Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP), die ausschließlich Positives zum Ziel habe, wie etwa die Förderung von Stabilität, Wohlstand und Sicherheit. Ein Schelm, wer bei der ENP an Verfolgung von geopolitischen Interessen, Öffnung von neuen Märkten für europäische Konzerne und Monopole oder die Verdrängung von rivalisierenden Staaten denkt.
Dabei bleibt erklärungsbedürftig, wie das jahrzehntelange Wirken des Guten das Böse in der Welt so verstärkt haben kann. Ja, die EU war und ist nicht lediglich Zuschauerin in einer Ära der verstärkten Konkurrenz, sondern auch Akteurin und Rivalin, die weltweit eigene Kapitalinteressen forciert und diese sichern möchte. Diese neue Ära ist auch ihr Werk – sie reagiert nicht als eine Unbeteiligte auf etwas, womit sie bisher nichts zu tun hatte.
Die »Ära verstärkter Konkurrenz« bedeutet nicht nur eine zunehmende Militarisierung der EU, die immer mehr die Außenpolitik durchdringen wird. Sie bedeutet zugleich, dass die bisherige relative Kongruenz zwischen den Ansprüchen des Binnenmarktes und den geopolitischen Anforderungen der Außenpolitik vermehrt neuen Spannungen ausgesetzt sein wird. Die veränderte Lage macht es jetzt schon zu einem schwierigen Unterfangen, zwischen der Vertiefung des Binnenmarktes (zum Beispiel der Banken- oder Kapitalmarktunion) und der Erweiterung der EU (etwa der Aufnahme der Westbalkan-Länder) die richtige Balance zu finden.
»Allgemeine Übereinstimmung besteht darin, dass die Armen und die Arbeitenden bis hin zu den Mittelschichten Europas die Zeche für die anstehenden Transformationen bezahlen sollen.«
Jedes kapitalistische Land hat eine jeweils eigene wirtschaftliche Struktur und ein bestimmtes Wachstumsmodell, das seinen Platz in der Weltwirtschaft widerspiegelt. Darin unterscheiden sich Länder wie Deutschland und Frankreich oder Italien und Spanien – und diese Unterschiede werden auch durch die gemeinsame Mitgliedschaft in der EU nicht aufgehoben.
Das heißt: Die bisherigen Kompromisse in den verschiedenen Bereichen – von der Schaffung einer europäischen Rüstungsindustrie bis zur Bankenunion – müssen im Lichte der veränderten Situation erneuert werden. Diese Unterschiede bedingen nämlich, dass die jeweiligen Mitgliedsstaaten von der »Ära verstärkter Konkurrenz« unterschiedlich betroffen sind. Es liegt auf der Hand, dass zum Beispiel eine neue Welle von Protektionismus in der Weltwirtschaft Deutschland viel stärker treffen würde als Frankreich.
Die Rückwirkungen derartiger Entwicklungen in der »Ära verstärkter Konkurrenz« haben also zur Folge, dass auch die mächtigsten Staaten innerhalb der EU »ihr Verhältnis zueinander neu austarieren« müssen. Und sicherlich wird keiner der großen Mitgliedsstaaten dabei den Kürzeren ziehen wollen. Diese Rückwirkungen zwingen also zum einen zu Geschlossenheit innerhalb der EU, zum anderen aber vertiefen sie die Unterschiede in den Interessenlagen der EU-Länder, die von der jeweiligen besonderen wirtschaftlichen Struktur dieser Länder herrühren. So ist es auch kein Zufall, dass die EU-Länder, wenn es um außenpolitische Fragen geht, unterschiedlich reagieren und agieren.
Dies zeigt sich bei fast allen außenpolitischen Verhältnissen und Ereignissen, wie zum Beispiel bei der Beziehung der EU zur China, beim Gaza-Krieg, bei den verschiedenen Herausforderungen im Nahen Osten und in Afrika. Ja sogar bezüglich der Ukraine, wo es augenscheinlich eine große Einheit gibt, kann man bei genauerem Hinhören die außenpolitische Kakofonie bemerken. Wir werden in der nahen Zukunft sehen, inwiefern es den mächtigsten Staaten in der EU gelingt, ihr Verhältnis so neu auszutarieren, dass sie die anstehenden Herausforderungen als EU meistern und außenpolitisch an einem Strang ziehen können.
Allgemeine Übereinstimmung besteht jedoch darin, dass die Armen und die Arbeitenden bis hin zu den Mittelschichten Europas die Zeche für die anstehenden Transformationen bezahlen sollen.
Die Wendung von latenter zu offener Geopolitik geht einher mit der Neubegründung der Mission der EU. Früher war von Friedenswahrung in Europa und auf der Welt die Rede. Geopolitische Ziele sollten über »Wandel durch Handel« erzielt werden. Heute ist Kriegstüchtigkeit die Devise. Es heißt, eine EU ohne diese Eigenschaft würde abgehängt werden, da sie sich im Kampf großer Mächte sonst nicht durchsetzen könne.
Eine EU der Kriegstüchtigkeit ist jedoch ein Staatenbund, dessen Einheit nicht auf Hoffnung und Frieden baut, sondern auf das Schüren von Angst vor einem vermeintlich drohenden Angriffskrieg – und auf die Angst davor, Einflusszonen zu verlieren und somit Marktanteile abzugeben. Eine EU der Kriegstüchtigkeit kann keine Friedenspolitik nach außen betreiben. Diese Neubegründung wird auch nach innen ihre unausweichlichen Folgen haben, wie zum Beispiel vermehrte Zweckentfremdung von gesellschaftlichen Ressourcen für imperialistische Ziele sowie Einschränkungen demokratischer Grundrechte und Freiheiten.
Diese Wende verlangt auch eine Erneuerung der herrschenden Narrative, um innerhalb der Bevölkerung eine breite Akzeptanz für die offene Geopolitik zu erreichen. So suggeriert man den Menschen, dass vor allem Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit den europäischen Lebensstandard und die europäische Lebensweise bewahren könnten.
Es ist im Grunde die gleiche alte Geschichte. Zuerst hieß es, die unteren Klassen müssten für »die Wirtschaft« (ein Synonym für Monopole) Verzicht üben, damit es ihnen durch eine gestärkte »Wirtschaft« besser gehe. Doch für die unteren Klassen wurde es nur schlimmer, während »die Wirtschaft« vor lauter Profiten kaum laufen konnte. Wenn die Mär von der Trickle-down-Ökonomie gestimmt hätte, dann wäre Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums nicht so rasant gestiegen.
Jetzt heißt es: Für die Marktanteile europäischer Konzerne müssen wir militärisch aufrüsten und gegebenenfalls diese Anteile auch mit Gewalt verteidigen. Ansonsten würde die Arbeitslosigkeit steigen und der europäische Lebensstandard gefährdet. Dabei hat das verfehlte Trickle-down-Narrativ eindeutig bewiesen, dass die Gleichsetzung der Interessen von Monopolen mit denen der arbeitenden Bevölkerung vorne und hinten nicht stimmt.
Und hier liegt des Pudels Kern: Der Wendung europäischer Außenpolitik zu offener Geopolitik mit all ihren Implikationen können wir nur gegenhalten, wenn wir es schaffen, in Europa eine Friedensbewegung aufzubauen, die nicht nur aus moralischen Gründen handelt, sondern den Zusammenhang zur politischen Ökonomie des Kapitalismus herstellt.
Die herrschenden Narrative demaskieren und ein Bewusstsein über die Zusammenhänge schaffen – dieses Gebot der Stunde ist auch die Mission einer Europäischen Linken , die wohl die einzige Kraft im Europäischen Parlament sein wird, wenn es darum geht, den Frieden und die demokratischen Freiheiten in Europa und weltweit zu verteidigen.
Özlem Demirel ist Abgeordnete der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament.