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15. Dezember 2025

Die EU steht vor einem Gelbwesten-Moment

In den nächsten Jahren soll der EU-Emissionshandel auf Gebäude und Verkehr ausgeweitet werden. Das wird das Leben weiter verteuern, Proteste sind absehbar. Anders als bei den Gelbwesten von 2018 sollte die Linke diesmal bereit sein, die Bewegung anzuführen.

2018 wurde Frankreich von der Gelbwesten-Bewegung erfasst – bald könnte es zu einer europaweiten Neuauflage kommen.

2018 wurde Frankreich von der Gelbwesten-Bewegung erfasst – bald könnte es zu einer europaweiten Neuauflage kommen.

IMAGO / Panoramic by PsnewZ

Im Keller der Europäischen Union tickt eine sozialpolitische Bombe. Während große Teile der arbeitenden Bevölkerung schon jetzt unter steigenden Lebenshaltungskosten leiden, soll der CO₂-Emissionshandel ausgeweitet werden. »EU ETS 2« heißt das Instrument, das den bestehenden Zertifikatehandel der Industrie auf die Bereiche Gebäude und Verkehr ausdehnt – mit erheblichem sozialem Sprengstoff.

Das Prinzip dahinter: Wer fossile Brennstoffe verbraucht, muss dafür ein Zertifikat kaufen, wobei die Gesamtmenge der Zertifikate sich an den EU-Klimazielen orientiert. Gehandelt werden diese Zertifikate an europäischen Energiebörsen, wobei sich der Preis über Angebot und Nachfrage bildet. Damit sollen finanzielle Anreize geschaffen werden, um individuelle Emissionen zu reduzieren. Solange also die Investitionskosten für den Umstieg auf alternative, klimafreundliche Technologien niedriger sind als der Kauf von Zertifikaten, lohnt sich dieser Schritt – so zumindest in der Theorie. Doch was passiert, wenn es für viele Menschen gar keine realen Alternativen gibt? Etwa weil man als Mieter keinen Einfluss auf die Heizungsanlage im Keller hat oder aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsanbindung auf das Auto angewiesen ist?

Man braucht keine Glaskugel, um zu verstehen, dass durch die Einführung des ETS 2 die CO₂-Preise für die Verbraucher europaweit massiv steigen werden. Viele osteuropäische EU-Staaten – etwa Polen, Tschechien, Ungarn, Zypern oder die Slowakei – erheben bislang gar keine sektorübergreifenden CO₂-Abgaben und fordern deshalb, den ursprünglich für 2027 geplanten Start des ETS 2 auf 2030 zu verschieben. In Deutschland kostet eine Tonne CO₂ derzeit rund 55 Euro. Mit der Einführung des ETS 2 wird der Preis EU-weit auf 80 bis 300 Euro pro Tonne steigen. Die genaue Höhe ist den Launen der Märkte überlassen und damit schwer vorherzusagen.

»An den Zapfsäulen dürfte die CO₂-Bepreisung mit bis zu 30 Cent pro Liter zu Buche schlagen und eine durchschnittliche Familie muss mit mehreren Hundert Euro Mehrkosten fürs Heizen rechnen – pro Jahr.«

Zwar will die EU-Kommission anfangs durch zusätzliche Zertifikate das Preisniveau »stabilisieren«. Absehbar wird der Start auch auf 2028 verschoben. Langfristig ist aber klar: Es wird teuer. Zumindest wenn die Kommission den Emissionshandel nicht vor vornherein ad absurdum führen will. An den Zapfsäulen dürfte die CO₂-Bepreisung mit bis zu 30 Cent pro Liter zu Buche schlagen und eine durchschnittliche Familie muss mit mehreren Hundert Euro Mehrkosten fürs Heizen rechnen – pro Jahr. Hinzu kommt, dass die Menge an Zertifikaten mit dem verbleibenden CO₂-Budget zur Erreichung der EU-Klimaziele kontinuierlich sinkt – und damit absehbar auch der Preis weiter steigt. Die Europäische Union steht damit vor einem Gelbwesten-Moment. Und die europäische Linke muss darauf vorbereitet sein.

Protest mit Ansage

Zur Erinnerung: Es waren ähnliche Umstände, die die Gelbwesten in Frankreich 2018 auf die Straße brachten. In einer Situation steigender Lebenshaltungskosten hatte Emmanuel Macron zuerst die Vermögenssteuer abgeschafft und dann die Preise für Diesel und Benzin durch eine zusätzliche Abgabe erhöht. Das führte zu einer breiten und politisch heterogenen Bewegung von Hunderttausenden, die über Monate auf die Straße gingen. Bald forderten sie auch einen höheren Mindestlohn und bessere Renten sowie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer.

Trotz der Popularität linker Forderungen in der Bewegung gaben bei einer Umfrage von 2014 44 Prozent der damals Protestierenden an, bei den anschließenden Europawahlen den rechtsextremen Front National wählen zu wollen. Es ist ein wiederkehrendes Muster: Die Angst vor sozialem Abstieg, der Wunsch nach Respekt und die Wut auf die Regierenden führen überproportional zur Unterstützung der Rechten – als vermeintlich größtmöglicher Stinkefinger gegen die Herrschenden.

»2018 stufte die Linke Teile der Gelbwesten-Proteste als ›rechtsoffen‹ ein und verzichtete damit darauf, einer neuen, sozialen Bewegung politische Orientierung zu geben.«

Das Dilemma der europäischen Linken zeigt sich auch daran, dass sie nie eine einheitliche Haltung zu den Gelbwesten-Protesten entwickelte. Während La France Insoumise, Attac und Teile der französischen Gewerkschaften versuchten, die Bewegung von innen zu stärken und so einer Vereinnahmung durch rechte Akteure zuvorzukommen, hielt die damalige Führung der deutschen Linken ebenso wie große Teile der Klimabewegung Abstand. Sie stufte Teile der Proteste als »rechtsoffen« ein und verzichtete damit darauf, einer neuen, sozialen Bewegung politische Orientierung zu geben. Die europäische Linke täte gut daran, aus dem Protest der Gelbwesten zu lernen und den Widerstand gegen den ETS 2 mit einer eigenen Erzählung anzuführen. Ansonsten werden rechte Kräfte es einfach haben, das Thema zu besetzen und sich mit ihrer reaktionären Agenda weiter als Partei der arbeitenden Klasse zu inszenieren.

Dabei geht es mitnichten um eine Abkehr von der Klimapolitik, sondern ausschließlich von ihren marktkonformen Elementen, die stets vor allem im Interesse der Wohlhabenden konzipiert und gegen die breite Bevölkerung gerichtet sind. Die CO₂-Besteuerung verteuert nicht nur das Leben, sie droht auch klimapolitisch nur begrenzte Wirkung zu entfalten, wenn es den Menschen an praktischen Alternativen mangelt. Sicher ist vor allem eines: Steigende Preise machen die Klimapolitik unpopulärer – und sind damit am Ende ihr stärkster Gegner. ETS 2 zu verhindern, wäre kein Rückschritt für den Klimaschutz – es wäre die notwendige Kehrtwende, um einer Sackgasse zu entkommen.

Bauen statt strafen

Auf der anderen Seite steht eine Klimapolitik, die nicht den individuellen Verbrauch bestraft, sondern auf Ordnungsrecht, öffentliche Investitionen und öffentliche Infrastruktur setzt. Das Ziel muss sein, die Klimapolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen: Nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher sollen für vermeintlich falsches Verhalten zur Kasse gebeten werden, sondern es muss die Infrastruktur geschaffen werden, die ein klimaneutrales Leben überhaupt ermöglicht.

Statt Mieterinnen und Mieter mit CO₂-Abgaben zu belasten, braucht es verpflichtende und warmmietenneutrale energetische Sanierungen. Allein damit ließe sich oft mehr als die Hälfte der CO₂-Emissionen einsparen – bei gleichzeitig sinkenden Heizkosten und steigender Wohnqualität. Zentrale Gasheizungen können mit öffentlichen Investitionen auf klimafreundliche Fernwärme umgestellt werden. Und anstatt den Spritpreis künstlich in die Höhe zu treiben, braucht es massive Investitionen in den Ausbau des Nah- und Fernverkehrs sowie eine einkommensabhängige Förderung der Elektromobilität bei weiterem Ausbau von erneuerbarer Energie in öffentlicher Hand. Das ist der Rahmen für eine Klimapolitik, die der arbeitenden Klasse nützt, statt die Kosten auf sie abzuwälzen. Sie bietet gleichzeitig ein Industrieprogramm, das ein Gegenentwurf zur aktuellen Kriegswirtschaft ist.

»ETS 2 zu verhindern, wäre kein Rückschritt für den Klimaschutz – es wäre die notwendige Kehrtwende, um einer Sackgasse zu entkommen.«

Es ist vollkommen klar, dass ordnungspolitische Maßnahmen bei den aktuellen parlamentarischen Mehrheiten schwer durchzusetzen sind. Umso wichtiger ist es, entlang des Weges politische Erfolge vor Ort zu organisieren. Man kann mit Mieterinitiativen für energetische Sanierung kämpfen, mit Bürgerinitiativen für den Ausbau des Nahverkehrs und in den Kommunalparlamenten für den Aus- und Umbau der Fernwärme. Neben dem Klimaschutz selbst geht es auch darum, den Beweis anzutreten, dass eine Klimapolitik im Interesse der breiten Mehrheit möglich ist, und damit den Grundstein für größere Erfolge zu legen.

Ob nun 2027 oder 2028, mit oder ohne Preisstabilisierungsmaßnahmen: Die Einführung des ETS 2 birgt absehbar enormen sozialen Sprengstoff. Angesichts der Erfahrungen mit den Gelbwesten in Frankreich ist kaum vorstellbar, dass dieser Schritt ohne breiten politischen Protest bleibt – und zwar europaweit. Der Konflikt um den ETS 2 wird damit zum Prüfstein für die Zukunft der europäischen Klimapolitik. Mit Blick auf die aktuelle Rechtsentwicklung ist es unwahrscheinlich, dass ein Instrument wie der ETS 2 auf Dauer bestehen bleibt. Entscheidend ist daher die politische Richtung, in die sein Scheitern weisen würde: Kommt es zu einem reaktionären Backlash, der die Klimapolitik insgesamt delegitimiert? Oder gelingt es einer linken Mehrheit, aus der elitären Klimapolitik eine Klimapolitik der Vielen zu machen?

Theo Glauch ist promovierter Physiker und arbeitet in der Klimaforschung. Seine politischen Schwerpunkte liegen in der Mieten-, Wirtschafts- und Klimapolitik. Er ist aktuell Mitglied im Bundesvorstand der Linken.