19. November 2020
Monokulturen, leere Fabriken, Arbeitslosigkeit – die zu erwartenden Folgen des EU-Mercosur-Abkommens sind für die Länder Südamerikas verheerend. Trotzdem hält die EU an dem Abkommen fest. Denn die europäische Industrie profitiert von dem Deal.
Der Anbau von Monokulturen zählt zu den Haupttreibern der Abholzung, wie hier im Gran Chaco in Argentinien.
»Ich wähle meine Worte vorsichtig, wenn ich sage, dass heute ein historischer Moment ist.« Diese Worte des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker geben die euphorische Stimmung wieder, die nach dem Erreichen der politischen Einigung über ein Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay am 28. Juni 2019 unter den Verhandlungsführern herrschte. 20 Jahre stockende Verhandlungen waren beendet. Das Möglichkeitsfenster, das sich mit dem Rechtsruck in der Region ab 2016 ergeben hatte, wurde ausgenutzt, oder wie es der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments formulierte: »Erst der Amtsantritt von unternehmensfreundlichen Mitte-rechts-Regierungen in Argentinien und Brasilien ermöglichte das Voranbringen der Verhandlungen.« Entsprechend sind auch die Gewinner und Verlierer des Abkommens leicht auszumachen.
Nicht ohne Grund haben die Verhandlungen über das EU-Mercosur-Abkommen zwei Jahrzehnte gedauert. Die progressiven Regierungen des Mercosur unterbrachen die Gespräche in regelmäßigen Abständen, denn die absehbaren negativen Konsequenzen für deren Industrie und Wirtschaft übertrafen mögliche Gewinne bei weitem. Dabei ging es ihnen nicht um die Folgen für den Amazonas und andere Urwälder, wie den Gran Chaco, sondern vielmehr um den Verlust von Arbeitsplätzen und die Schwächung ihres industriellen Sektors. Während Jean-Claude Juncker also den Abschluss der Verhandlungen als historischen Moment feierte, der europäischen Unternehmen Einsparungen von bis zu vier Milliarden Euro brächte, veröffentlichte der Gewerkschaftsdachverband des Cono Sur eine Erklärung, in der er feststellte: »Das Abkommen ist ein Todesurteil für unsere Industrien und einen Großteil der guten, qualitativ hochwertigen Arbeitsplätze.«
Denn das EU-Mercosur-Abkommen sieht vor, über 90 Prozent der Zölle auf verarbeitete Waren zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken abzuschaffen. Vor allem im Mercosur sind diese Zölle zum Teil sehr hoch und ein wichtiger Faktor zum Schutz der eigenen Industrien. Bislang müssen europäische Autobauer für den Import von Autos in den Mercosur bis zu 35 Prozent Zoll entrichten, bei Autoteilen sind es bis zu 18 Prozent. Das hat dazu geführt, dass viele europäische Autobauer Fabriken in Brasilien und Argentinien errichtet haben und vor Ort produzieren. Volkswagen, Mercedes Benz, Renault, Citroen, Peugeot und Fiat sind nur einige der Unternehmen, die in Argentinien und Brasilien Autos für den südamerikanischen Markt herstellen. Mit dem Abkommen würden die genannten Zölle innerhalb von 15 Jahren auf null sinken. Der Anreiz der europäischen Unternehmen, teure Fabriken in Südamerika aufrechtzuerhalten, wenn sie die eigenen, zu fast 50 Prozent in Billiglohnländern in Asien produzierten Autos ohne Kosten für Zölle aus der EU importieren können, sinkt damit erheblich. Gleiches gilt für Zölle auf chemische und pharmazeutische Produkte sowie Maschinen und Textilien, die in nur zehn Jahren abgeschafft würden.
Für Textilien ändern sich außerdem die Herkunftsregeln. Bislang gilt im Mercosur die Regelung, dass vom Garn bis zur Produktion des Kleidungsstückes alles an einem Ort hergestellt werden muss, um als »made in« deklariert zu werden. Sprich, nur wenn das Garn des Stoffes, aus dem das Kleidungsstück hergestellt wird, bereits in der EU produziert wurde, gilt es als »made in the EU« und erst dann fallen keine Zölle auf den Import von Textilien in den Mercosur an. Das Garn für die europäische Stoffproduktion importiert die EU aber zu großen Mengen und beginnt die Produktion erst ab der Herstellung des Stoffes. Deswegen war es im Interesse der EU, dass der Mercosur seine Regeln in diesem Fall ändert. Und das hat sie geschafft. Wesentlich mehr Textilien – ein weiterer zentraler Sektor asiatischer Billiglohnarbeit –, erhielten dann mit dem EU-Mercosur-Abkommen präferentiellen Zugang zum Mercosur-Markt. Laut der Nachhaltigkeitsfolgenabschätzung der EU-Kommission wird aufgrund dieser veränderten Herkunftsregeln der Export von Textilien in den Mercosur um mehr als 400 Prozent gesteigert werden.
Ein ähnlich exponentieller Anstieg wird für die Mercosur-Länder nicht erwartet. Stattdessen gerät die dortige Produktion verstärkt unter Druck. Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen befürchten, dass es in diesem wie in anderen Bereichen des verarbeitenden Gewerbes zu Arbeitsplatzverlusten kommt. Eine Studie der Universidad Metropolitana von Buenos Aires errechnete 2018, dass allein in Argentinien 186.000 Arbeitsplätze verloren gehen könnten. In der Textilindustrie wären es fast die Hälfte aller 98.000 Arbeitsplätze. Ein Großteil der dort Angestellten sind Frauen – in Argentinien sind es 80 Prozent und in Brasilien sind von den 1.5 Millionen Angestellten sogar 94 Prozent Frauen. Gleichzeitig sind die erwarteten Wohlstandsgewinne des Abkommens insgesamt gering, im Falle Uruguays wird sogar mit Verlusten von 100 Millionen Euro gerechnet.
Das liegt jedoch nicht nur daran, dass mit dem Handelsabkommen die Industriestrukturen und regionalen Wertschöpfungsketten von Industrieprodukten geschwächt würden. Die Mercosur-Länder würden außerdem noch stärker auf ihre Rolle als Lieferanten von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten festgelegt, die sie bereits jetzt in der internationalen Arbeitsteilung einnehmen. Zölle auf Fleisch, Bioethanol aus Zuckerrohr, Orangensaft und andere Agrarprodukte aus dem Mercosur fielen weg – oder würden zumindest erheblich gesenkt –, während Einfuhrquoten anstiegen. Für Soja würden die vor allem von Argentinien erhobenen Exportsteuern abgeschafft, die derzeit bei etwa 30 Prozent liegen und eine wichtige Einnahmequelle für die Staatskassen des chronisch kriselnden Landes darstellen.
Soja, Fleisch und Zuckerrohr gehören außerdem zu den Haupttreibern der Abholzung des Amazonas. Auf über 60 Prozent der entwaldeten Flächen in diesem Urwald grasen heute Rinder. Eine von der französischen Regierung in Auftrag gegebene Studie zur Folgenabschätzung des EU-Mercosur-Abkommens prognostiziert, dass allein aufgrund der zusätzlichen Exportmengen an Rindfleisch die Abholzung des Amazonas innerhalb von sechs Jahren nach Inkrafttreten des Abkommens um 25 Prozent zunehmen könnte. Nebenbei stiege der Bedarf an Pestiziden, die heute schon großzügig auf den Soja- und Zuckerrohrmonokulturen aus dem Flugzeug versprüht werden. Auch hier hat das Abkommen etwas für europäische Konzerne in Petto. Denn die Importzölle von Pestiziden in den Mercosur, die heute bei bis zu 14 Prozent liegen, fielen weg. Zwar werden viele Pestizide im Mercosur selbst hergestellt. Bayer, BASF und Co. exportieren aber auch jährlich hunderte von Tonnen. Insgesamt beliefen sich die Pestizidausfuhren aus der EU in den Mercosur 2019 auf knapp eine Milliarde Euro, darunter auch Pestizide, die aufgrund ihrer Risiken in der EU nicht zugelassen sind.
Gerade dieser Anstieg der Importe von landwirtschaftlichen Gütern aus dem Mercosur setzt auf der anderen Seite des Atlantiks die europäischen Bäuerinnen und Bauern unter Druck. Bereits seit Jahren beobachten wir ein Höfesterben, das durch dieses Abkommen weiter begünstigt würde. Nicht ohne Grund haben die EU-Verhandlerinnen und -Verhandler einen Notfallfond von einer Milliarde Euro aufgesetzt, sollte es durch das EU-Mercosur-Abkommen zu starken Verwerfungen in der EU-Landwirtschaft kommen.
Fassen wir also zusammen: Das EU-Mercosur-Abkommen beflügelt die absatzschwache europäische Autoindustrie und andere Zweige des verarbeitenden Gewerbes, deren Produkte einen hohen Mehrwert haben und tendenziell sozialversicherungspflichtige Jobs schaffen. Gleichzeitig schwächt es genau diese Sektoren im Mercosur, während es die dortige industrialisierte Landwirtschaft fördert, in der vor allem prekär beschäftigte Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter beschäftigt sind und die zur Vertreibung von Kleinbäuerinnen und -bauern und Indigenen führt, die wiederum dem ständigen Pestizideinsatz ausgesetzt sind, der sie krank macht. Das altbekannte Muster der Länder des Globalen Südens, deren Rohstoffe von den Industrienationen ausgebeutet werden und die in hohem Maße von letzteren abhängig sind, wird durch dieses Abkommen zementiert.
Interessant ist, dass einige europäische Befürworterinnen und Befürworter dieses ungleichen Handels die genannten negativen Folgen für die Wirtschaften des Mercosur gar nicht erst abstreiten. So zum Beispiel Detlef Nolte, Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), der offen zugibt, dass es der EU mit diesem Abkommen vor allem um die Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen geht. Gleichzeitig hält er es auch für wünschenswert, dass die EU – und eben nicht China oder die USA – dadurch ihre Standards in Südamerika setzen kann. Mit diesem Argument reden sich viele Befürworterinnen und Befürworter das Abkommen schön. Denn ginge es tatsächlich um die Etablierung höherer Standards und nicht einfach die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen, hätte die EU das längst tun können. Seit Jahrzehnten gehört sie zu den drei wichtigsten Handelspartnern des Mercosur. Nichtsdestotrotz sind nach wie vor 50 Prozent des Sojas, das wir heute aus Brasilien importieren, auf Entwaldung zurückzuführen, davon mindestens 20 Prozent sogar auf illegale. Hätte die Europäische Union tatsächlich auf diese Länder einwirken wollen, um die Entwaldungsquote zu senken, hätte sie es bereits tun können. Die Behauptung, dafür ein Handelsabkommen zu brauchen, ist bestenfalls scheinheilig.
Ob das Abkommen schlussendlich ratifiziert wird, ist noch nicht ausgemacht. Der zivilgesellschaftliche Druck ist hoch, viele EU-Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind sehr kritisch und auch einige Mitgliedsstaaten sind unzufrieden. Der französische Präsident Macron erklärte, das Abkommen aufgrund der illegalen Brandrodungen des Amazonas nicht zu unterzeichnen. Die österreichische Regierung legte in ihrem Koalitionsvertrag ein »Nein zum EU-Mercosur-Abkommen« in seiner derzeitigen Form fest. Das niederländische und das wallonische Parlament riefen ihre Regierungen in offiziellen Resolutionen dazu auf, das Abkommen nicht zu unterzeichnen. Die luxemburgische und die irische Regierung knüpften ihre Zustimmung an zusätzliche Verpflichtungen der Mercosur-Länder hinsichtlich des Umwelt- und Klimaschutzes. Selbst die deutsche Bundeskanzlerin äußerte im August 2020 erhebliche Zweifel an einer schnellen Umsetzung des Abkommens.
Nachdem am 6. Oktober 2020 auch das EU-Parlament in einer Resolution eine Ablehnung des Abkommen in seiner derzeitigen Form beschloss, kündigte EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis an, mit den Mercosur-Ländern über Zusatzerklärungen zu verhandeln. In diesen sollen sich Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay zu konkreten Maßnahmen gegen die Abholzung von Urwäldern und für mehr Klimaschutz verpflichten. Allerdings sind diese Zusatzerklärungen vor allem eines: Augenwischerei. Zusatzerklärungen dieser Art kennen wir bereits aus Abkommen mit anderen Ländern, sei es Kanada, Ecuador-Kolumbien-Peru oder Vietnam, und wir wissen, dass sie nichts ändern und ihre Nicht-Umsetzung keinerlei Folgen hat. Dennoch sehen sie auf dem Papier gut aus und könnten manche Regierung, die hin- und hergerissen ist, doch noch von einer Zustimmung überzeugen. Zudem ist davon auszugehen, dass die EU-Kommission und die entsprechenden Wirtschaftsverbände sowie ihre politischen Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter alles daran setzen werden, eine Ratifizierung zu erreichen und den Druck auf Kritikerinnen und Kritiker zu erhöhen. 2021 wird also spannend.
Bettina Müller ist Politikwissenschaftlerin.