18. Mai 2020
Das Herz des EU-Binnenmarktes ist eine grundlegend ungleiche Arbeitsteilung, die hunderttausende osteuropäische Arbeiterinnen und Arbeiter für einen Hungerlohn vertreibt.
Spargelernter in Kerzers, Schweiz.
Einige Tage bevor die orthodoxe Kirche Ostern feierte, fanden sich tausende Rumäninnen und Rumänen dicht gedrängt auf einem provinziellen Flughafen in der Stadt Cluj wieder. Sie waren auf dem Weg nach Deutschland, um inmitten einer Pandemie in der Spargelernte zu arbeiten. Obwohl der rumänische Staat »Social Distancing« strikt durchsetzt und eine Rekordzahl an Strafen gegen Menschen verhing, die gegen die Quarantäne verstoßen hatten, wurden Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem ganzen Land (einschließlich aus solchen Regionen, die sich in einem militärischen Lockdown befanden) in Bussen zusammengepfercht und an einem überfüllten Flughafen rausgeworfen, wo sie stundenlang ohne Schutzausrüstung warten mussten.
So schockierend das auch sein mag, steht diese Szene doch stellvertretend für die generelle Tatsache, dass »Social Distancing« und Isolationsmaßnahmen, die einer Ausbreitung von COVID-19 vorbeugen sollen, ein Privileg sind, das nur manchen offen steht. Trotz des Lockdowns müssen Millionen Menschen auf der Welt zur Arbeit gehen, nicht nur, um zu überleben, sondern auch weil gerade ihre Arbeit unverzichtbar ist, um die Lockdowns für alle anderen aufrechtzuerhalten. Nahrungsmittel müssen geerntet, verarbeitet und transportiert werden. Die Infrastruktur muss aufrechterhalten werden und die Grundversorgung muss weiterlaufen. All das wäre unmöglich ohne die Menschen, die bereit sind diese notwendige Arbeit zu leisten. Und Unternehmerinnen und Unternehmer werden alles tun, um sie ausfindig zu machen.
Genau so war es bei den rumänischen Spargelstecherinnen und -stechern. Mit Verweis auf die verrottende Ernte auf den Feldern kam der deutsche Staat dem Landwirtschaftssektor zu Hilfe und überzeugte Rumänien davon, gecharterte Auslandsflüge für die Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter zu erlauben. Der rumänische Staat folgte ordnungsgemäß – allerdings nicht aus blindem Gehorsam dem europäischen Hegemon gegenüber, sondern weil die Versorgung reicher EU-Staaten mit billigen und flexiblen Arbeitskräften bereits seit drei Jahrzehnten gängige Praxis ist. Anschließend wurden weitere Flüge für Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Weg nach Großbritannien autorisiert. Weniger als einen Monat vorher wurde rumänischen Pflegekräften erlaubt nach Österreich zu reisen, um dort das Virus zu bekämpfen, obwohl das rumänische Gesundheitssystem ohnehin schon eines der schwächsten in Europa ist.
Entgegen der Zusicherungen seitens der Regierung und der Unternehmen, die die Arbeiterinnen und Arbeiter unter Vertrag nahmen, wurde schnell klar, dass sie großer Gefahr ausgesetzt wurden. Vielleicht wenig überraschend, mussten viele erfahren, dass ihre Löhne nicht so großzügig ausfielen, wie es ihnen von den Anwerbenden versprochen wurde. Mehrere Videos zeigten wie Arbeiterinnen und Arbeiter in kleinen Barracken zusammengezwängt wurden, manche von ihnen schliefen sogar auf dem Boden.
Isoliert vom Rest der Welt und ohne Reisepässe, die von den Unternehmen eingezogenen worden waren, wurde von den rumänischen Gelegenheitsarbeiterinnen und -arbeitern erwartet, zehn Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche zu arbeiten und ihre Unterkunft und Versorgung selbst zu bezahlen. Gerade als die Berichte über die Arbeitsbedingungen auf den Sozialen Medien die Runde zu machen begannen, starb ein Rumäne auf tragische Weise auf einer Spargelfarm bei Freiburg, nachdem er sich mit dem Virus angesteckt hatte. Zwei Wochen später wurden fast 300 rumänische Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in einem Fleischverarbeitungsbetrieb bei Pforzheim positiv getestet.
Die offizielle Antwort des rumänischen Botschafters, Emil Hurezeanu, war zwar wortreich, aber blieb oberflächlich. Er lobte die deutschen Unternehmen und Behörden überschwänglich in ihrem Bemühen, die Arbeit während der Pandemie zu organisieren. Aber er hatte wenig über das Schicksal seiner Landsleute zu sagen, die als Folge nun gegen die Krankheit kämpften. Statt die Rechte rumänischer Bürgerinnen und Bürger im Ausland zu vertreten, schien er eher damit beschäftigt, die Arbeitsmigration von Ost nach West aufrechtzuerhalten, koste es, was es wolle.
So schrecklich das auch klingen mag, daran ist nichts unerwartet oder einzigartig. Hunderttausende Landarbeiterinnen und -arbeiter aus Lateinamerika schuften unter unerträglichen Bedingungen auf den Feldern der USA. Undokumentierte Migrantinnen und Migranten aus Nordafrika und Südasien werden auf den Plantagen in Spanien, Italien und Griechenland grausam ausgebeutet unter Bedingungen, die an Sklaverei grenzen. Überall auf der Welt – insbesondere in der Landwirtschaft – werden körperlich Arbeitende ausgebeutet und misshandelt.
Allerdings zeigt die Art und Weise, wie rumänische und andere osteuropäische Arbeiterinnen und Arbeiter in völliger Missachtung ihrer Sicherheit und mit der Zustimmung ihrer Regierungen abtransportiert wurden, die Besonderheiten der Arbeitsmigration innerhalb der EU auf, wo ein Binnenmarkt und offene Binnengrenzen es Arbeiterinnen und Arbeitern ermöglichen, angeblich gleichwertige Mitgliedsstaaten frei zu durchqueren. Hinter dieser formellen Gleichheit verstecken sich jedoch die stummen Zwänge materieller Notwendigkeit, die Hunderttausende zur Abwanderung vom ärmeren Osten und Süden gen Westen treiben.
Das Herzstück Europas ist eine hochprofitable Industrie, die darin spezialisiert ist, billige Arbeitskräfte aus dem Osten in verschiedene Staaten des Zentrums zu importieren. Das ist nichts Neues, aber es wird selten als grundlegende Eigenschaft des europäischen Projektes diskutiert. Professionalisierte Rekrutierungsagenturen und die Institutionalisierung auf EU-Ebene haben dieser Industrie in den letzten Jahrzehnten einen Schein der Legitimität verliehen, der jetzt erschüttert wird durch die schlechte Optik armer Migrantinnen und Migranten, die gezwungen werden, während einer Pandemie auf deutschen Höfen zu arbeiten.
Rumänische Arbeiterinnen und Arbeiter sind äußerst wichtige Wertanlagen im Westen, weil sie bereit sind, Knochenarbeit für deutlich weniger Geld als heimische Arbeiterinnen und Arbeiter zu leisten und weil sie seit der EU-Osterweiterung im Jahr 2007 legal einreisen können. Dies versetzt sie in die nicht gerade beneidenswerte Lage, flexible Arbeitskräfte zu sein, die nichtsdestotrotz verhältnismäßig »privilegiert« sind gegenüber Nicht-EU-Migrantinnen, Flüchtlingen und undokumentierten Arbeitern. Dank ihres EU-Passes verringern sie die Umzugskosten für Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter und sind damit günstigere Neueinstellungen. Warum sollten Unternehmen undokumentierte Migrantinnen schmuggeln, wenn Osteuropäer bereitwillig kommen und sogar für ihr eigenes Ticket zahlen?
Diese Regelungen erlauben es, mittleren und großen landwirtschaftlichen Betrieben in Deutschland, Italien, Spanien und Großbritannien stattliche Profite einzufahren, während sie vertriebenen Arbeiterinnen und Arbeitern harte Bedingungen aufzwingen, gegen die sie sich aufgrund von mangelnden Ressourcen nicht wehren können. Wie das alte Sprichwort sagt: »Ein hungriger Arbeiter aus dem Ausland ist so viel wert wie zwei von hier.« Die Arbeitsprodukte dieser Migrantinnen und Migranten landen perverserweise wieder in Rumänien in den Regalen von deutschen und französischen Supermärkten, die wiederum lokale Produzierende aus dem Markt drängen. Letztere sind dann beim Versuch im Wettbewerb zu bleiben gezwungen entweder ihre Arbeiterinnen und Arbeiter zu feuern oder die Löhne zu kürzen. Das schafft einen Teufelskreis, weil noch mehr Arbeitslose produziert werden, die Willens sind, ins Ausland zu gehen.
»Selbst wenn die politischen Winde sich im Sinne der Linken drehen würden, was sollte das ändern?«
Es wird geschätzt, dass sich die Arbeitsmigration verdoppelt hat, seitdem die EU begann, sich im Jahr 2004 nach Osten auszudehnen, und dass sie hauptsächlich von Ost nach West stattfindet. Dieses fluide Netzwerk von Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeitern, die ihrer Rechte beraubt und von Arbeiterinnenorganisationen abgeschnitten sind, reicht über die Landwirtschaft hinaus und hinein in die Sorgearbeit, das Transportwesen, das Baugewerbe, die Gastronomie, das Gaststättengewerbe und den Tourismus.
Migrantinnen und Migranten wurden doppelt getroffen, als sich das Virus in westlichen Ländern auszubreiten begann, insbesondere in Italien und Spanien, wo die meisten Rumäninnen und Rumänen arbeiten. Als die Lockdowns die Wirtschaft zum Stillstand brachten, wurden die meisten von ihnen entlassen. Sie mussten zurückziehen nach Rumänien und dem Minimum an sozialer Zugehörigkeit, was immer sie dort noch hatten. Im Westen wurden sie ausgeschlossen als überflüssige und wegwerfbare Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht für Sozialleistungen oder andere Formen von Sozialversicherung berechtigt sind. Daheim wurden sie als Träger einer tödlichen Krankheit ausgegrenzt– nicht nur wegen des Virus, sondern auch aufgrund ihres Status als arbeitslose und ungeschützte Arbeiterinnen und Arbeiter, die ein schon fragiles und auseinanderbröckelndes Sozialsystem zusätzlich belasten.
Hier tritt der Gesellschaftsvertrag im Herzen der EU deutlich zutage: Länder des Zentrums häufen Profite an, die durch billige osteuropäische Arbeitskräfte produziert werden, während die meisten Kosten auf sie und ihre Heimatländer abgewälzt werden. Anhand dieser Verhältnisse erübrigt sich jeder weitere Kommentar zur hohlen Natur der »europäischen Solidarität«.
Die gegenwärtige Situation hat weder mit dem Coronavirus begonnen, noch ist sie lediglich ein Detail im größeren Beziehungsgeflecht innerhalb der EU. Sie bildet ein strukturelles Element der Funktionsweise des europäischen Kapitalismus. Tatsächlich hält sie die Union zusammen und ist der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit vieler Wirtschaftsbranchen wie etwa der Pflege, der Industrie und des Tourismus. Es ist daher umso perverser, dass dieses ausbeuterische Verhältnis oft als Privileg für Osteuropäerinnen und Osteuropäer dargestellt wird, das sie dankbar begrüßen sollen.
Es ist bezeichnend, dass Mainstreamkommentatorinnen die Mobilität osteuropäischer Arbeiterinnen und Arbeiter als Erfolgsgeschichte der post-sozialistischen Transformation und der EU-Erweiterung lobpreisen. Zynisch könnte man sagen: Damit liegen sie richtig. Denn für die rund vier Millionen Rumäninnen und Rumänen, die in den letzten drei Jahrzehnten auf der Suche nach Arbeit das Land verlassen haben, wäre es vielleicht ein schlimmeres Schicksal gewesen, zu Hause überhaupt nicht ausgebeutet worden zu sein.
Gleichzeitig erfreut sich das in Rumänien investierte westliches Kapital einer der höchsten Profitabilitätsraten in Europa. Obwohl die Steuersätze auf Unternehmensgewinne schon jetzt einem Steuerparadies gleichen während die Steuern auf Lohneinkommen unverhältnismäßig hoch sind, sind ausländische Firmen im Stande, ihre Profite durch Steueroptimierungen weiter zu externalisieren. Außerdem ist der rumänische Staat institutionell zu schwach und politisch zu desinteressiert, um Steuern einzutreiben. Stattdessen wird das Wirtschaftswachstum durch billige Industriearbeit im eigenen Land aufrechterhalten, die im Dienste der EU-Exportwirtschaft mit Deutschland an der Spitze steht.
»Die Pandemie hat den Sozialdarwinismus der EU offengelegt.«
Thomas Piketty hat beschrieben, wie der Westen von der ungleichmäßigen Entwicklung innerhalb der EU durch die Aneignung von Ressourcen und Profiten aus den ehemals kommunistischen Ländern profitiert. Lohnunterschiede sind nur ein Teil der Geschichte – exorbitante Profite werden kassiert durch Investitionen, die Privatisierung von ehemaligem Staatseigentum, eine niedrige Besteuerung und eine großzügige Gesetzgebung, die es einfach (wenn nicht gar legal) macht, Profite abzuschöpfen, von denen nur ein Bruchteil mittels des gehypten EU-Haushaltsmechanismus wieder in die Region zurückkehrt.
Wie sollen diese Länder geringe Defizite beibehalten, während gleichzeitig in Entwicklungsvorhaben, Infrastruktur, Gesundheit und Bildung investiert werden soll? Natürlich können sie das nicht. Das Exempel, das an Griechenland statuiert wurde, ist der mit Abstand bekannteste Fall, aber die Lage in den Ländern der Peripherie außerhalb der Eurozone ist ähnlich.
Als das Coronavirus durch Westeuropa wütete, prangerten Mainstreammedien zu Recht die mangelnde Solidarität mit Italien an, das von seinen Nachbarn auf dem Höhepunkt einer tödlichen Pandemie im Stich gelassen wurde. Ähnliches hätte über den Umgang mit Osteuropa gesagt werden können – aber wie immer wurde nichts gesagt. Immer und immer wieder zeigt sich, dass, wenn es wirklich ans Eingemachte geht, die strukturellen Hierarchien in der EU das Verfolgen von nationalen Interessen befördern, die einer innereuropäischen Solidarität vorgezogen werden.
Das ohrenbetäubende Schweigen der westeuropäischen Linken zu diesem Thema war jedoch noch enttäuschender. Das verwundert nicht, da große Teile der Linken immer noch um einen kohärenten Ansatz zur Politik der EU ringen, der über zahnlose und abstrakte Appelle zur »Solidarität« hinausgeht. Teile der Linken verschreiben sich der Idee, dass eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit nur innerhalb nationaler Grenzen möglich sei, und haben daher migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern wenig anzubieten. Allgemeiner jedoch liegt die Herausforderung darin, eine Reihe klarer Forderungen aus einer Position der Schwäche und innerhalb eines institutionellen Rahmens, der gegen die organisierte Arbeiterinnenschaft und die Linke gerichtet ist, zu formulieren.
Mit nichts in der Hand außer Plattitüden ist es schwer verwunderlich, dass sich viele Wählerinnen und Wähler der arbeitenden Klasse in Ländern wie Polen, Ungarn und der Slowakei entschieden haben, gegen dieses strukturelle Ungleichgewicht aufzubegehren, indem man sich hinter dem Nationalismus und Protektionismus von Demagogen wie Viktor Orbán versammelt. Das politische Klima in Rumänien ist spürbar anders, weil große Teile der Bevölkerung immer noch auf die ungleiche Arbeitsteilung in der EU angewiesen sind. Sie »bevorzugen«, wie es der rumänische Präsident Klaus Iohannis unverblümt ausdrückte, als er nach dem überfüllten Flughafen in Cluj gefragt wurde, in Europa ausgebeutet zu werden als das Elend zu Hause erdulden zu müssen, wo Gehälter mit zu den niedrigsten in der EU gehören und wo der Staat den kleinsten Anteil des Bruttoinlandsproduktes für das Gesundheits- und Sozialwesen bereitstellt.
Andererseits, selbst wenn die politischen Winde sich im Sinne der Linken drehen würden, was sollte das ändern? Die Verfasstheit der Europäischen Union, die die historisch angehäuften Ungleichheiten zwischen Ländern und Regionen festschreibt, kann nicht durch politische Reformen allein aus den Angeln gehoben werden, ganz egal wie weitreichend oder tiefgreifend diese sein mögen. Auf einer kleineren Stufe jedoch könnten einige europaweite Änderungen die Not migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter lindern, sie ermächtigen und vielleicht sogar einen Weg für radikalere Entwürfe ebnen.
Solche Maßnahmen beinhalten die Einführung eines realistischen existenzsichernden Lohns in allen europäischen Ländern. Rumäniens Netto-Mindestlohn liegt bei 290 Euro pro Monat, wovon man in großen Städten nicht einmal die Miete bestreiten kann. Eine wesentliche Erhöhung des Mindestlohns würde den Druck, ins Ausland zu ziehen, erheblich mildern sowie den Konsum und die Steuereinnahmen erhöhen. Vorschläge für ein Grundeinkommen auf europäischer Ebene verdienen ebenfalls ernsthafte Aufmerksamkeit, weil es die verwundbarsten Gruppen unmittelbar entlasten und damit den Druck nehmen würde, unter gefährlichen Bedingungen für das nackte Überleben arbeiten zu müssen, wie es für so viele der Fall ist während der aktuellen Pandemie.
Ein radikalerer Ansatz müsste das Ende Osteuropas als Reservoir für billige Arbeitskräfte in den Blick nehmen. Osteuropäerinnen und Osteuropäer erhalten niedrigere Löhne nicht nur im Vergleich zu ihren westlichen Kolleginnen und Kollegen, sondern auch im Verhältnis zu ihrer eigenen Arbeitsproduktivität. Unternehmen in Osteuropa sollten durch europäisches Recht gezwungen werden, ihre Profitmargen zu reduzieren und höhere Löhne zu zahlen. Die Wiedereinführung eines wirksamen Arbeitsrechts ist außerdem von entscheidender Bedeutung. Osteuropäische Länder haben auf ihrer Suche nach ausländischen Direktinvestitionen die Steuersätze gekürzt und die die Arbeiterinnen schützenden Arbeitsgesetze aus sozialistischer Zeit abgeschafft. Dies hat die prekäre Beschäftigung drastisch verschärft und den Grundstein für die Herausbildung einer europäischen Reservearmee gelegt.
Solange eine große Zahl von Osteuropäerinnen und Osteuropäern nach Westen ziehen, um in den Staaten des Zentrums der EU zu arbeiten, sollten diese Regierungen unter Druck gesetzt werden, mehr Verantwortung für alle Arbeiterinnen und Arbeiter innerhalb ihrer Grenzen zu übernehmen. Der Ausbau und die Vertiefung der Sozialsysteme und der Gesundheitsversorgung auf der europäischen Ebene würden den Arbeiterinnen und Arbeitern mehr Schutz gewährleisten und die Kosten der gesellschaftlichen Reproduktion gleichmäßiger zwischen den Mitgliedsstaaten verteilen.
Dies sind recht moderate und basale Vorschläge, aber sie könnten zentral sein, um Millionen von osteuropäischen (und anderen) migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern zu schützen, die jeden Tag unvorstellbaren Bedrohungen und Widerständen ausgesetzt sind, nur um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Pandemie hat den Sozialdarwinismus der EU offengelegt. Wenn die Linke dies nicht kritisiert und dagegen vorgeht, dann wird die reaktionäre Alternative der Orbáns und Le Pens die einzige im Angebot sein.
Florin Poenaru ist Dozent in Sozialanthropologie an der Universität Bukarest und Ko-Redakteur von CriticAtac.
Costi Rogozanu ist Autor und Journalist in Bukarest und Ko-Redakteur von CriticAtac.