14. April 2020
Die Beschlüsse der Euro-Finanzminister zur Corona-Krise sind ein schlechter Kompromiss und eine herbe Niederlage für Südeuropa. Die Existenz der Europäischen Union steht nun auf dem Spiel.
Die deutsche Politik stiehlt sich aus der Verantwortung. Foto: Flickr / Inga Kjer
Nach drei Tagen Verhandlungen einigten sich die Finanzminister der Eurostaaten am 9. April auf ein Maßnahmenpaket zur Bewältigung der wirtschaftlichen Corona-Folgen. Für die Länder Südeuropas ist es ein äußerst schlechtes Übereinkommen, das die Probleme, für die es bestimmt ist, nicht löst. Womöglich abgelenkt von internen Turbulenzen unterschätzen die europäischen Regierungschefs zudem völlig die Tragweite der Frage, die derzeit tatsächlich auf dem Tisch liegt: die des Überlebens der Europäischen Union als politisches Projekt.
Das Schlussdokument des Treffens der sogenannten Eurogruppe sieht die Möglichkeit des Zugangs zu drei Finanzierungsmechanismen sowie zu einem wirtschaftlichen Konjunkturprogramm vor. Zu allen vieren stehen wichtige Details noch aus. Zu den ersteren gehören das SURE-Programm zur Unterstützung von Lohnersatzleistungen (wie dem deutschen Kurzarbeitergeld), die Menschen in der Krise vor Arbeitslosigkeit bewahren sollen; die Ausweitung der Darlehen der Europäischen Investitionsbank (EIB) an Unternehmen; sowie die Aktivierung außerordentlicher Kreditlinien des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) für Mitgliedsländer, ohne strenge Auflagen, jedoch ausschließlich zur Deckung von Gesundheitskosten.
Zumindest auf dem Papier sind diese Instrumente gut 540 Milliarden Euro wert, also zwischen 3 und 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Union. Sie belaufen sich jedoch auf kaum mehr als ein Drittel der 1.500 Milliarden Euro, die nach den Angaben der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Bewältigung der Krise notwendig sind.
Der Beschluss kündigt zuletzt auch die Einrichtung eines befristeten Fonds für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Krise an, »der den außerordentlichen Kosten der gegenwärtigen Krise angemessen ist«. Dieser Fonds könnte – der Konjunktiv ist hier angebracht – Mittel in Höhe von weiteren 500 Milliarden verfügbar machen. Auch hier lassen sich die europäischen Regierungen Zeit: Die Diskussionen werden möglicherweise in den kommenden Wochen fortgesetzt.
Es wird dem Europäischen Rat obliegen, »praktische und rechtliche Aspekte, einschließlich seiner Beziehung zum EU-Haushalt« sowie die »Finanzierungsquellen« zu definieren. Bezüglich letzterer spricht das Kommuniqué auch von »innovativen Finanzinstrumenten, die mit den EU-Verträgen in Einklang stehen«. Vage Worte, die wenig Einfluss auf die Substanz der Vereinbarung haben: es erfolgt keine Teilung der Schulden, die Last des Wiederaufbaus bleibt ganz auf den Schultern der Mitgliedsländer. Für Italien und Südeuropa ist dies eine schwere Niederlage.
All diese von der Eurogruppe beschlossenen Maßnahmen agieren auf einem Niveau, das zur Bewältigung der Krise völlig unzureichend ist. Nehmen wir die von der EIB garantierten Direktdarlehen an Unternehmen: Die Operation erinnert an den Juncker-Plan von 2015, mit einem Garantiefonds von 25 Milliarden Euro, der zusätzliche Kreditlinien von bis zu 200 Milliarden Euro mobilisieren kann. Verglichen mit den von den nationalen Regierungen in den letzten Wochen gewährten Garantien (allein 820 Milliarden in Deutschland) ist diese Zahl sehr gering.
Das SURE-Programm (Support to Mitigate Unemployment Risks in an Emergency) basiert auf einem System freiwilliger Garantien der Mitgliedsstaaten, das es der Europäischen Kommission erlauben soll, zu niedrigen Zinssätzen Kredite von bis zu 100 Milliarden Euro zur Finanzierung der nationalen Lohnersatz- und Kurzarbeitsfonds zu gewähren. SURE hat jedoch zwei Probleme. Erstens, dass es sich auf Garantien der Mitgliedsländer stützt, aber weder klar ist, wie viele und welche Mittel hierfür herangezogen werden, noch wann der Start erfolgt. Zweitens, dass das Programm anscheinend de facto bloß Darlehen von 10 Milliarden Euro pro Jahr für alle 27 EU-Länder garantieren kann. Außerordentlich wenig zur Bewältigung einer Krise, die nach Ansicht der Internationalen Arbeitsorganisation ILO »vernichtende« Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben wird. Um eine Vorstellung von den Zahlen zu bekommen, die auf dem Spiel stehen: Im März wurde allein der italienische Lohnersatzfond Cura Italia mit außerplanmäßigen 3,2 Milliarden Euro finanziert.
Zuletzt sieht das Abkommen die Öffnung von Kreditlinien durch den Rettungsschirm ESM vor, mit denen die »Finanzierung von direkten oder indirekten Gesundheitsausgaben, Behandlungs- und Präventionskosten im Zusammenhang mit COVID-19« unterstützt werden sollen. Die abrufbaren Mittel würden sich auf 240 Milliarden Euro belaufen (von den 410 Milliarden, über die der ESM insgesamt verfügt). Diese Kredite sind zunächst an keine Auflagen geknüpft.
Die Architektur des ESM macht ihn jedoch zu einem ungeeigneten Instrument für diese Zahlungen. Denn die Unterstützung ist an einen Prozess wiederholter Solvenzprüfungen seitens der Kommission und des Europäischen Rats gekoppelt, die Bedingungen für den Zugang zur Finanzierung werden laufend neubewertet. Das von der Eurogruppe ausgearbeitete Dokument weist ausdrücklich auf die Notwendigkeit hin, nach dem Ende der Pandemie »die wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen in einer Weise zu stärken, die mit dem Rahmen der europäischen Verpflichtungen in Einklang steht«. Die sogenannten Konditionalitäten des ESM, also der Zwang zu Sozialkürzungen und Sparmaßnahmen, die man gerade zur Tür verabschiedet hatte, kommen so durchs Fenster wieder herein.
Die Anwendung des ESM ist in der gegebenen Situation falsch; und in der Tat haben Italien und Spanien bereits erklärt, wenn möglich nicht auf ihn zurückgreifen zu wollen. Die Last der Schulden, die für Notfallausgaben und den Neustart der Wirtschaft anfallen werden, werden so allein von den nationalen Regierungen geschultert. In Ermangelung einer gemeinsamen Fiskalpolitik muss die Europäische Zentralbank nun auch in Zukunft eine Schlüsselrolle spielen. Sie muss weiterhin den finanziellen Handlungsspielraum der Mitgliedsstaaten garantieren, indem sie den Anstieg des Spreads eindämmt [des Risikoaufschlags für Staatsanleihen, der entscheidet, zu welchen Konditionen die von der Krise betroffenen Länder auf den Finanzmärkten Kredite aufnehmen können; Anm.d.Red.].
Doch auch so haben die Staaten sehr unterschiedliche fiskalische Spielräume, sodass die Krisenbewältigung unweigerlich die Spaltung zwischen den Ländern des Nordens und des Südens vertiefen wird. Ob mit ESM oder ohne: Letztere werden in einigen Monaten, wenn die Ausbreitung des Virus vermutlich nachlässt, gezwungen sein, ihre Haushalte mit waghalsigen Manövern auszugleichen. Ausgerechnet in Zeiten wachsender sozialer Risiken wird ein einschneidender Rückbau der öffentlichen Finanzen erforderlich sein, wie bereits nach der Krise von 2008. All dies in der Hoffnung, dass die EZB die Finanzmärkte weiterhin mit Liquidität überschwemmt und so stabilisiert.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht vorherzusehen, wie sich der Fond für den Wiederaufbau auf diesen Prozess auswirken wird. Viel wird von der Höhe der Investitionen abhängen: 500 Milliarden werden sicherlich nicht ausreichen, vor allem, wenn der wirtschaftliche Shutdown noch viel länger andauert. Außerdem wird die Verteilung der Mittel entscheidend sein sowie vor allem ihre Finanzierung: Werden die Milliarden aus einem Vorschuss des EU-Haushalts für 2021-2027 kommen, über den derzeit noch keinerlei Konsens besteht? Werden die Wertpapiere von der EZB gekauft und damit ein Teil der Gelder für die Sanierung »monetarisiert« werden? Wird es eine Vermittlung durch die EIB geben? Wie lange wird der Fonds umgesetzt werden?
Es ist klar, dass das Treffen der Eurogruppe nur den Zeitpunkt verschoben hat, an dem Europa aufgerufen ist, sich mit den grundlegenden Fragen des europäischen Projekts auseinanderzusetzen. Wieder einmal betreiben die Regierungen unangemessene Finanzpolitik mit erheblichen Verzögerungen. Für Europa, das in Zukunft im Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten und China vor enormen Herausforderungen steht, bleiben Fragen einer stärkeren Koordinierung zwischen Geld- und Fiskalpolitik ungelöst; ebenso die weniger diskutierte Notwendigkeit einer europäischen Steuerpolitik und eines industriepolitischen Ausgleichs zwischen den Mitgliedsländern. Ohne neuen Schub in beide Richtungen werden die sich vertiefenden strukturellen Ungleichgewichte das europäische Projekt über kurz oder lang zerreißen.
Es ginge, ohne allzu viele Worte zu verlieren, darum, wie man die Realwirtschaft finanziell unterstützen kann, ohne die bereits verwüsteten Finanzen der Länder Südeuropas weiter zu beanspruchen. Eurobonds oder ein ähnliches Instrument können Teil der Lösung sein. Die direkte Finanzierung durch die EZB, in Form des Ankaufs von EU- oder EIB-Anleihen für Wiederaufbauprogramme und den europäischen Haushalt könnte ein zusätzliches Instrument darstellen. Vergessen wir nicht, dass die Bank of England gerade erst beschlossen hat, die britische Staatskasse direkt zu finanzieren (wenn auch nur vorübergehend).
Eine andere Möglichkeit besteht darin, der Europäischen Investitionsbank EIB eine größere Rolle zuzuweisen, deren Rolle innerhalb der EU sich im Laufe ihrer Geschichte ohnehin immer wieder stark gewandelt hat. Sie war zunächst eine Bank für regionale Entwicklung und förderte in den 1970er Jahren vor allem die Unabhängigkeit im Energiebereich. In den folgenden Jahren war sie Teil der Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik und zuletzt das Ventil des Juncker-Plans, Europa durch Investitionen eine kurze Atempause zu verschaffen. In den letzten Jahren hat die EIB auf der Grundlage von Partnerschaften zwischen öffentlichen Institutionen und privaten Akteuren ein breites Spektrum an Fachwissen und Instrumenten entwickelt, die es ihr ermöglicht haben, effizient auf den Finanzmärkten tätig zu werden.
Sie ist nach wie vor mit Zwängen behaftet, die sie für die Finanzierung bestimmter Investitionen ungeeignet machen (insbesondere dort, wo die Aktivitäten stark öffentlich ausgerichtet sind und eine hohe technologische und marktbezogene Unsicherheit besteht). Doch eine Weiterentwicklung der EIB könnte ihr eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung einer neuen Fiskal- und Industriepolitik zukommen lassen, die mit dem Mandat zur Reform der Wirtschaftstätigkeit der Europäischen Union in Einklang steht: eine öffentliche Investitions- und Wiederaufbaubank, die in der Lage ist, den Ländern mit den größten Schwierigkeiten fiskalischen Spielraum zu verschaffen und strukturelle Ungleichgewichte zwischen den Ländern der Union einzudämmen, indem sie gemeinsame Produktionskapazitäten schafft.
Eines immerhin haben die Eurogruppen-Verhandlungen der letzten Woche erreicht: Sie haben zum ersten Mal einen Block von Ländern sichtbar gemacht, die zentrale Instrumente zur Teilung der Schuldenlast für gemeinsame Herausforderungen befürworten. Der Block besteht aus den Ländern an der Peripherie Europas, aber auch aus Frankreich, Belgien und Irland. Die weitere Formierung eines solchen Bündnisses der Peripherie ist vielversprechend. Entsprechend ‘variabler Geometrien verstärkter Zusammenarbeit’, wie es im EU-Jargon heißt, könnten Abkommen zwischen einigen dieser Länder sowie zwischen ihnen und den USA oder China neue Szenarien für die Zukunft eröffnen.
Italien steht mit einer Zahl von über 17.000 Toten, einer Zwangsschließung des Landes, die mindestens bis Mai andauern wird, und einem Jahrzehnt der tiefen wirtschaftlichen Schwächung vor der schlimmsten Krise der Nachkriegszeit. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt immer noch 5 Punkte unter dem von 2008 (zum Vergleich: das Spaniens ist um 4 Punkte gewachsen, Frankreichs um 7, Deutschlands um 10): ein Rückgang, der mit dem Verlust des Produktionsniveaus, nicht nur in den südlichen Regionen verbunden ist, wie auch mit einer zunehmenden Spezialisierung auf traditionelle Dienstleistungen und Sektoren mit niedrigem Technologieniveau, bei denen allesamt die Möglichkeiten zur produktiven Diversifizierung und Absorption neuer Technologien stark eingeschränkt sind. Strukturelle Ungleichgewichte, die sich durch die Architektur der Europäischen Union dramatisch verschärft haben.
Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Sparmaßnahmen werden für Italien schwerwiegend und für die Europäische Union kontraproduktiv sein. Die Einengung wohlfahrtsstaatlicher Spielräume, etwa in Form von Kürzungen der Gesundheitsausgaben, ist das genaue Gegenteil dessen, was in der jetzigen Situation nötig ist. Eine weitere Runde dieser Art von Politik wird den ohnehin schwachen Konsens für die Unterstützung des europäischen Projekts untergraben, der in unserem Land immer noch vorhanden ist.
Im September 2011 richteten der scheidende EZB-Präsident Jean-Claude Trichet und sein neu ernannter Nachfolger Mario Draghi ein Schreiben an den Premierminister der italienischen Regierung, Silvio Berlusconi, in dem sie eine Reihe von Maßnahmen vorschlugen, mit dem die Wirtschaftspolitik der Regierung auf die wachsende Besorgnis der Finanzmärkte über die Stabilität der öffentlichen Finanzen Italiens reagieren könne: Sparmaßnahmen, Privatisierung der öffentlichen Dienste, Schwächung der Mechanismen kollektiver Lohnverhandlungen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Reformen des Rentensystems, usw. Ein neoliberales Programm, das die technokratische Nachfolgeregierung von Mario Monti nur teilweise in die Tat umsetzen konnte.
Diese Maßnahmen haben sich nicht nur als kontraproduktiv für das Wachstum des Landes und die Reduzierung der Schuldenquote erwiesen, sondern haben auch tiefe und anhaltende Umwälzungen auf politischer Ebene verursacht, mit dem Aufstieg der Fünf-Sterne-Bewegung und dem Vordringen der »souveränistischen« Lega. Der Nationalismus ist seit 2011 stetig stärker geworden. Das politische Europa hingegen hat so gut wie gar keine Fortschritte gemacht: Europa ist und bleibt ein unvollendetes Projekt, das nicht in der Lage zu sein scheint, allen seinen Bürgerinnen und Bürgern eine Entwicklungsperspektive zu bieten. Heute wie damals erscheint Europa als nicht zukunftsfähig. Machen wir uns bereit.
Matteo Lucchese ist Volkswirt beim italienischen Statistikamt ISTAT in Rom.
Mario Pianta ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Scuola Normale Superiore in Florenz. Dieser Beitrag erschien zuerst auf Sbilanciamoci.info.