29. Januar 2024
Während die geopolitische Lage zunehmend eskaliert, diskutiert man nun, ob die EU nicht eigene Atomwaffen bräuchte. Doch das wäre der falsche Weg und würde uns nur der Vernichtung näher bringen.
Aufnahme eines französischen Atombombentests in Mururoa in den 1970ern.
Die geopolitische Krise, die der Krieg Russlands gegen die Ukraine erheblich verstärkt hat, lässt längst tot geglaubte Debatten wieder aufleben. Dazu gehört auch die mögliche Bewaffnung Deutschlands beziehungsweise der EU mit Atomwaffen. Ex-Außenminister Joschka Fischer sprach sich jüngst in einem Interview für »eine eigene atomare Abschreckung« Europas aus. Kurz zuvor hatte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler etwas ganz Ähnliches gesagt: »Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert.« In der Politik wurde der Spielball mitunter dankend angenommen, so etwa vom EVP-Chef Manfred Weber. Die Gedankenspiele stießen auf wenig Gegenrede aus den Ampel-Regierungsparteien.
Weitgehend unbemerkt von dieser öffentlichen Debatte in Deutschland haben sich Ende November 2023 bei den Vereinten Nationen die Vertragsstaaten des Atomwaffenverbotsvertrages (AVV) getroffen. Die Mehrheit der Staatengemeinschaft unterstützt den Vertrag, der seit Januar 2021 in Kraft ist, und setzt damit weiterhin auf nukleare Abrüstung.
Die derzeit wieder einmal neu inszenierte Debatte um eine atomare Bewaffnung Europas erfolgt nicht in einem rechtsfreien Raum. Zwar ist Deutschland beschämenderweise nicht Vertragsstaat dieses zentralen UN-Abrüstungsvertrages. Die Bundesrepublik hat aber sehr wohl den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet und damit nicht nur formell auf Atomwaffen verzichtet, sondern sich auch zur atomaren Abrüstung verpflichtet. Auch wenn Deutschland mit einem umstrittenen Vorbehalt bei der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags meint, die Stationierung von US-Atomwaffen im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« sei erlaubt: Eine Beteiligung an einer »Eurobombe« würde klar gegen diesen wichtigen Vertrag verstoßen.
»Die Bundesrepublik, die US-Atomwaffen auf ihrem Territorium stationiert, will sich als verantwortungsvolle Friedensmacht darstellen, ist aber unter diesem Gesichtspunkt nichts anderes als das ›Belarus der NATO‹.«
Aus dieser völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik auszuscheiden, wäre eine deutliche Eskalation im bestehenden Konflikt mit Russland. Zu glauben, die atomare Abschreckungsdoktrin schaffe Sicherheit, ist ein Mythos. Die atomare Aufrüstung Europas würde uns im Gegenteil an den Rand eines Atomkrieges führen.
Nicht umsonst bestimmt das aktuelle Abschlussdokument der Konferenz des Atomwaffenverbotsvertrages es als wesentliche Aufgabe, die atomare Abschreckungsmittel-Ideologie zu demystifizieren. Anderenfalls wird es sehr schwierig werden, den Widerstand zu brechen, mit dem sich die Atommächte und ihre Verbündeten dagegen wehren, in Sicherheit und Abrüstung zu investieren.
Die Bundesrepublik, die US-Atomwaffen auf ihrem Territorium stationiert, will sich als verantwortungsvolle Friedensmacht darstellen, ist aber unter diesem Gesichtspunkt nichts anderes als das »Belarus der NATO«. Denn indem Putin russische Atomwaffen im verbündeten Nachbarland stationiert, spiegelt er ja einfach nur die nukleare Teilhabe des Westens. Man sollte sich fragen, wie er versuchen wird, Parität mit einer Eurobombe herzustellen. Denn jede Aktion der westlichen Staatengemeinschaft kann zu einer unangenehmen Reaktion auf der russischen Seite führen. Das zeigt deutlich, wie Abschreckung wirklich funktioniert: eskalierend.
Die aktuelle Krisensituation schreit danach, ein neues System internationaler Sicherheit zu etablieren – mit entsprechenden Kontrollmechanismen und Vertragswerken unter der Kontrolle supranationaler Institutionen wie der UN, aber sicher nicht unter der Kontrolle von interessengeleiteten Militärbündnissen wie der NATO.
Gerade jetzt ist es wichtig, die grundlegenden Rüstungskontroll-Verträge um den Atomwaffensperrvertrag zu erhalten und die Zustimmung für den Atomwaffenverbotsvertrag auszuweiten. Die Atomwaffenstaaten und auch die NATO tun dies bisher allerdings nicht. Dies übrigens in schöner Einigkeit mit China, Nordkorea und Russland – Ländern also, denen wir angeblich moralisch so weit überlegen sein sollen. In der Abrüstungspolitik stimmt das leider nicht. Da kommt der NATO-Hochmut vor dem Fall.
Auf atomare Abschreckung zu setzen, bindet Ressourcen und finanzielle Mittel, die wir angesichts vielfältiger gesellschaftlicher Herausforderungen wie der Klimakrise gar nicht haben. General Lee Butler, der ehemalige Oberbefehlshaber der US-Atomstreitkräfte, hat im Jahr 2014 gesagt, es sei nur Glück und Gott zu verdanken, dass es bislang nicht zu einem Atomkrieg gekommen ist. Es wäre klüger, sich seiner Worte zu erinnern, als ideologische Atomwaffen-Hasardeure aufs Feld der politischen Debatte zu schicken. Gerade in der Krise sind neue diplomatische Initiativen der einzig gangbare Weg in die Zukunft.
Lars Pohlmeier ist Vorsitzender der deutschen Sektion der Organisation Internationale Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) und Facharzt für Innere Medizin.