16. Juni 2022
Kapitalverbände klagen, Gewerkschaften jubeln: Der neue EU-Mindestlohn könnte die Bedingungen von 25 Millionen Beschäftigten verbessern. Damit bei der Umsetzung keine Abstriche gemacht werden, müssen progressive Kräfte die Richtlinie jetzt verteidigen.
Für Millionen Beschäftigte in der EU verspricht die neue Richtlinie Löhne und Bedingungen zu verbessern.
Heute verabschiedet der Ministerrat der EU die Richtlinie für angemessene Mindestlöhne in Europa – ein enormer Erfolg, denn sie sieht neben einem europäischen Rahmenwerk für die Einrichtung angemessener Mindestlöhne auch die Förderung von Flächentarifverträgen vor, die als wesentliches Instrument zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit identifiziert werden. Die Richtlinie markiert damit eine wesentliche Kehrtwende europäischer Arbeitspolitik. Nun muss im September nur noch das Parlament zustimmen.
Die Debatten über einen europäischen Mindestlohn sind etwa so alt wie das europäische Projekt. Das Recht auf einen fairen Lohn wurde bereits in der 1961 verabschiedeten Sozialcharta festgeschrieben. Allerdings blieben Initiativen für eine Harmonisierung der Löhne oder eine Verbesserung der Lohnfindung erfolglos. Richtig in Fahrt kam die Diskussion erst mit der Einführung des europäischen Binnenmarktes und der Verabschiedung des Maastrichter Vertrags in den 1990er Jahren. Die Debatte entzündete sich an der neoliberalen Grundannahme des Binnenmarktprojektes, der zufolge ein gemeinsamer Markt zu einer automatischen Angleichung der Löhne und einer gerechten Verteilung des Wohlstandes führen würde. Insbesondere die französische Linke und der Europäische Gewerkschaftsbund machten sich daher für einen europäischen Mindestlohn stark, um den negativen Lohndruck eines gemeinsamen Marktes abzuschwächen und die unteren Lohngruppen nach oben zu ziehen.
Die Vorschläge variierten von einem einheitlichen Mindestlohn für alle EU-Mitgliedstaaten über verschiedene Mindestlohnsätze für unterschiedliche Ländergruppen bis hin zu einer Harmonisierung der relativen Mindestlöhne, also der jeweiligen Mindestlöhne der einzelnen Mitgliedstaaten. Insbesondere letzterer Vorschlag war für die europäische Debatte anschlussfähig, da er nur die Definition einheitlicher Kriterien für die Bestimmung des Mindestlohns vorsah und somit auf europäischer Ebene umsetzbar erschien. Zudem ermöglichte das Konzept, die wirtschaftliche Ungleichheit innerhalb der EU-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen und zugleich eine relative Harmonisierung des Lohnniveaus zu garantieren.
Im Jahr 2005 veröffentlichte eine deutsch-französisch-schweizerische Forschergruppe um die gewerkschaftsnahen Arbeitswissenschaftler Thorsten Schulten und Reinhard Bispinck 14 Thesen für einen europäischen Mindestlohn und schlugen ein konkretes Kriterium vor: Inspiriert durch die angelsächsische Debatte über einen Living Wage forderten die Wissenschaftler, dass »alle europäischen Länder eine nationale Mindestlohnnorm von mindestens 60% des nationalen Durchschnittslohns anstreben sollten«.
In Bezugnahme auf den sogenannten Kaitz-Indikator, der das Verhältnis zwischen Mindestlohn und durchschnittlichem Bruttomonatsverdienst bei Vollzeitbeschäftigten misst, gelten 60 Prozent als angemessenes Maß für einen Lohn. Ein Mindestlohn in dieser Höhe ermöglicht nicht nur gesellschaftliche Teilhabe, sondern gewährleistet auch eine angemessene Rente. Dementsprechend wurde ein europäischer Mindestlohn von 60 Prozent des Durchschnittslohns fortan zu einer zentralen Forderung der europäischen Linken.
Allerdings hatte die Forderung lange keine Aussicht auf Realisierung. Denn nicht nur die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten blockierte jeden Versuch, Regelungen zu erlassen, um die Lohnentwicklung in der EU zu stärken. Auch innerhalb der europäischen Gewerkschaftsbewegung gab es lange Vorbehalte gegen Mindestlöhne im Allgemeinen und einer europäischen Regulierung im Besonderen. Vor allem die starken nordeuropäischen Gewerkschaften stemmten sich über Jahre gegen diese Forderung und verhinderten, dass der Europäische Gewerkschaftsbund einen EU-weiten Mindestlohn zum zentralen Thema seiner Agenda macht. Auch die deutschen Gewerkschaften – insbesondere aus den Industriesektoren – waren lange skeptisch, auch wenn sie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland unterstützten. So befürchteten die Gewerkschaften einen Eingriff in ihre Autonomie der Lohnsetzung und negative Auswirkungen auf ihre Tarifverträge.
Die Durchsetzung der europäischen Mindestlohnrichtlinie ist nicht zuletzt auch deshalb gelungen, weil die deutschen Industriegewerkschaften ihren Widerstand inzwischen aufgegeben haben. Die deutschen Gewerkschaften wurden zu einem zentralen und einflussreichen Befürworter der Forderung, insbesondere nachdem der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Jahr 2014 angekündigt hatte, einheitliche Kriterien für Mindestlöhne in Europa aufzustellen. Diesen sozialpolitischen Vorstoß hatte Juncker angesichts des Erfolgs rechtspopulistischer Parteien ganz bewusst mit der Bearbeitung des Legitimationsdefizits der EU verbunden. Ein europäischer Mindestlohn sollte als symbolisches Projekt nach der Eurokrise den sozialen Verwerfungen in den Mitgliedstaaten teilweise entgegenwirken.
Im Frühjahr 2020 begann die Kommission unter Ursula von der Leyen eine Konsolutation mit den europäischen Tarifpartnern und formulierte erstmals die Absicht, das 60-Prozent-Kriterium in einer Richtlinie festzuschreiben. Da im Vorfeld ausschließlich über eine eher unverbindliche Mitteilung der Kommission diskutiert wurde, war der im Oktober 2020 veröffentlichte Richtlinienentwurf eine Überraschung. Denn eine Richtlinie hat im Vergleich zu einer Mitteilung eine andere Verbindlichkeit und kann bei nicht ordnungsgemäßer Umsetzung ein Vertragsverletzungsverfahren und empfindliche Strafen nach sich ziehen. Damit wagte sich die Kommission auf juristisch unsicheres Terrain.
Allerdings wurde der Richtlinienentwurf – trotz Drohungen vonseiten der Kapitalverbände – bereits als rechtssicher eingestuft, da er weder direkt in die Bestimmung der Mindestlohnhöhe eingreift noch ein bestimmtes Mindestlohnsystem vorschreibt, sondern lediglich einheitliche europäische Kriterien formuliert. Nachdem das Europäische Parlament im November 2021 eine ambitionierte Resolution zum Kommissionsvorschlag verabschiedet hatte, waren die Verhandlungen im Trilog mit den Mitgliedstaaten ein Kraftakt. Es hatte sich ein Bündnis aus nord- und osteuropäischen Staaten zusammengefunden, die eine Einigung blockierten.
Dass es dennoch zu einer Einigung kam, ist vor allem ein Verdienst der französischen Ratspräsidentschaft und der Verhandlungsdelegation des Europäischen Parlaments. Insbesondere die ausdrückliche Betonung, dass Mitgliedstaaten ohne gesetzlichen Mindestlohn nicht zu Einrichtung von diesen verpflichtet werden, ebnete einer Einigung den Weg. Denn vor allem jene Staaten, die über keinen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn verfügen, standen der Mindestlohnrichtlinie kritisch gegenüber. In diesen Staaten werden Mindestlöhne nur für einzelne Branchen und Berufsgruppen über Tarifverträge festgelegt. Dementsprechend berührt die Richtlinie im wesentlichen nur die Regelungen gesetzlicher Mindestlöhne. Trotz dieser Zugeständnisse stimmten Dänemark und Schweden am Ende dagegen.
Das Ergebnis der Verhandlungen ist dennoch bemerkenswert, weil verschiedene Beobachterinnen und Beobachter – inklusive mir selbst – erwartet hatten, dass der ursprüngliche Kommissionsentwurf deutlich abgeschwächt wird. Das ist nicht passiert. Ganz im Gegenteil: Die Stoßrichtung des Entwurfs wurde nicht nur beibehalten, wesentliche Kennzahlen und Bestimmungen wurden sogar erweitert. So zielt die Richtlinie darauf ab, einen »angemessenen Lebensstandard zu erreichen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Konvergenz nach oben zu fördern und das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu verringern«. Zugleich umfasst sie neben dem Rahmenwerk für die Definition nationaler Mindestlöhne auch Regelungen zur Stärkung nationaler Tarifvertragssysteme und zum Schutz von Beschäftigten und Gewerkschaften.
Konkret definiert das Rahmenwerk vier allgemeine Kriterien für die Angemessenheit, die bei der Festlegung des nationalen Mindestlohns mindestens berücksichtigt werden müssen. Dies sind neben der allgemeinen Höhe der Löhne und ihrer Wachstumsraten auch die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne und die nationale Produktivitätsentwicklung. Die Nationalstaaten können weitere Kriterien in die Indexierung des Mindestlohns einbeziehen, allerdings nur wenn diese der Zielsetzung der Richtlinie entsprechen und nicht zu einer Senkung des Mindestlohns führen. Dementsprechend sind der Einbeziehung dämpfender Kriterien gewisse Grenzen gesetzt.
Für die indikative Definition der Mindestlohnhöhe empfiehlt die Richtlinie mit einer »Kann«-Bestimmung die »international gebräuchlichen […] Referenzwerte von 60% des Bruttomedianlohns und 50% des Bruttodurchschnittslohns«. Dies ist eine deutliche Verbesserung im Vergleich zum Kommissionsvorschlag – einerseits weil die Referenzwerte von Bewegungsgründen in den Richtlinientext gewandert sind und damit nochmals deutlich an Verbindlichkeit gegenüber den Mitgliedstaaten gewonnen haben. Die Formulierung verpflichtet die Mitgliedstaaten zwar nicht direkt zur Einhaltung der Kriterien, definiert allerdings einen normativen Referenzrahmen, an dem sich die nationale Mindestlohnentwicklung in Zukunft messen lassen muss. Andererseits sind die beiden empfohlenen Referenzwerte in der Formulierung durch ein »und« miteinander verbunden worden, womit sie nicht als Alternativen, sondern als Ergänzung zueinander verstanden werden müssen. Dadurch definiert die Richtlinie ein faktisches Doppelkriterium, womit deutlich mehr Mitgliedstaaten unter diese Richtwerte fallen werden. Nach Angaben der Wissenschaftler Thorsten Schulten und Torsten Müller würde die Erfüllung des Doppelkriteriums für mehr als 25 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter in der EU eine Erhöhung ihrer Löhne bedeuten.
Darüber hinaus sieht die Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen, um einerseits den Zugang zum Mindestlohn zu gewährleisten als auch Rechtssicherheit für die Beschäftigten schaffen, wenn diese Verstöße gegen den Mindestlohn melden. Was erstmal sehr technisch-juristisch klingt, ist für die flächendeckende Umsetzung unverzichtbar, zeigt doch gerade das deutsche Beispiel, dass Unternehmen den Mindestlohn umgehen, wenn es weder eine offizielle und anonyme Meldestelle gibt noch wirksame Sanktionen. So hatte der Bundestagsabgeordnete der LINKEN Victor Perli über eine selbstbetriebene Meldestelle herausgefunden, dass sogar der FC Bayern München seine Beschäftigten unter dem Mindestlohnniveau bezahlt hatte. Solchen Vergehen will die Richtlinie einen Riegel vorschieben, verlangt sie doch von den Mitgliedstaaten, dass diese »wirksame, verhältnismäßige und abschreckende« Sanktionen gegen Mindestlohnverstöße einführen.
Der zweite Schwerpunkt der Richtlinie ist die Stärkung von Tarifverhandlungen. In diesem Bereich hat es enorme Verbesserungen im Vergleich zum Kommissionsentwurf gegeben. So werden die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, öffentliche Aufträge nur an Unternehmen zu vergeben, die die Verpflichtungen einhalten, die in Tarifverträgen festgelegt sind. Darüber hinaus werden alle Mitgliedstaaten, deren Tarifbindung unter 80 Prozent liegt, dazu verpflichtet, Kollektivverhandlungen zu fördern. Damit verbunden ist die Entwicklung konkreter Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der Tarifbindung sowie ein konkreter Zeitplan für deren Umsetzung. Dieser Aktionsplan soll regelmäßig durch die Kommission kontrolliert und alle fünf Jahre durch die Mitgliedstaaten überarbeitet werden. Da die Tarifbindung derzeit nur in Schweden, Finnland, Belgien, Österreich und Frankreich über 80 Prozent liegt, wird diese Regelung einen Großteil der Mitgliedstaaten betreffen.
Ein dritter Schwerpunkt liegt auf dem Schutz von Arbeitnehmerrechten und Gewerkschaften. So verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Arbeit von Gewerkschaften und organisierten Beschäftigten nicht gestört wird. Ganz explizit fordert die Richtlinie von den Mitgliedstaaten jegliche Form von Union Busting zu verbieten und unter Strafe zu stellen.
Durch die positive Bezugnahme auf Tarifverhandlungen zeichnet sich insbesondere vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik, die kollektive Arbeitsbeziehungen als Hindernis und in der Eurokrise als Hemmnis zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit betrachtete, eine elementare Kehrtwende in der europäischen Lohnpolitik ab. Erstmals seit 1993 wird Arbeitspolitik auf europäischer Ebene wieder explizit in einen marktkorrigierenden Kontext gestellt und Kollektivvereinbarungen zwischen den Tarifparteien als wesentliches Instrument zur Bekämpfung von Armut verstanden.
Allerdings bleibt die Richtlinie in manchen Teilen unkonkret und überlässt – wohl oder übel – die Definition der konkreten Mindestlohnhöhe den nationalen Mitgliedstaaten. Hier besteht weiterhin viel Spielraum für die Mitgliedstaaten, die Richtlinie bei der nationalen Umsetzung zu verwässern. Das zu verhindern, wird vor allem Aufgabe der progressiven Kräfte der jeweiligen EU-Staaten sein.
Auf europäischer Ebene wird es darauf ankommen, die quantitativen Empfehlungen in Bezug auf die Mindestlohnhöhe und die Tarifbindung in einen Rahmen zu überführen, der eine verbindlichere Überwachung ermöglicht. So bestünde die Möglichkeit, die Indikatoren in das Social Scoreboard der Kommission zu integrieren und sie im Europäischen Semester zu überwachen. Zugleich sollten sie in den länderspezifischen Empfehlungen eine größere Rolle spielen, um »wirtschaftspolitische« Empfehlungen zu verhindern, die in Löhnen vor allem Kostenfaktoren und in Kollektivverhandlungen Wettbewerbshemmnisse sehen.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Mindestlohnrichtlinie ein elementarer Schritt in Richtung eines sozialen Europas darstellt. Vor dem Hintergrund der lohnbasierten Krisenbearbeitung und der Etablierung einer Neuen Europäischen Arbeitspolitik stellt die Mindestlohnrichtlinie eine Neuausrichtung der Arbeitspolitik dar. Damit kann sie nicht nur zu einer Stärkung der nationalen Mindestlöhne führen, sondern bietet den progressiven Kräften in allen europäischen Mitgliedstaaten ebenso die Möglichkeit, auf eine Stärkung bzw. Re-Etablierung sektoraler Tarifverhandlungen zu drängen.
Wie nachhaltig diese Kehrtwende ist, wird letztlich von den nationalen und europäischen Kräfteverhältnissen abhängen. Hier wird es die Aufgabe der progressiven Kräfte sein, die Mindestlohnrichtlinie zu verteidigen – in ihrer Umsetzung auf nationaler Ebene und gegen die bereits angekündigten Klagen von Wirtschafts- und Kapitalverbänden auf europäischer Ebene. Allerdings scheint die Richtlinie bereits vor ihrer offiziellen Annahme durch das Parlament zu wirken. Vorgestern gab der irische Arbeitsminister bekannt, dass der nationale Mindestlohn zu einem Living Wage ausgebaut werden soll.
Dr. Felix Syrovatka ist Politikwissenschaftler und Postdoktorand an der Freien Universität Berlin. Er forscht zur europäischen Arbeits- und Sozialpolitik und ist derzeit Gastwissenschaftler am University College in Dublin. Zuletzt veröffentlichte er im April 2022 sein Buch Neue Europäische Arbeitspolitik im Campus Verlag.
Felix Syrovatka ist Politikwissenschaftler und Redakteur der »PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften«.