07. Juni 2024
Bei der Europawahl droht den Linksparteien ein herber Rückschlag. Das liegt sicher nicht daran, dass alle Wähler mit dem Ist-Zustand zufrieden sind. Doch die Linke schafft es offenbar nicht mehr, die Frustration der Arbeiterklasse aufzunehmen.
Zum Abschluss des Europaparteitags der Linken halten Delegierte Plakate mit politischen Botschaften und Forderungen in die Höhe, Augsburg, 18. November 2023.
Kurz vor der Europawahl haben die Parteien der Linken wenig Grund zur Vorfreude. In einem Land nach dem anderen halten sich die Kräfte, die vor zehn Jahren eine kontinentweite Revolte gegen die Austeritätspolitik anzuführen schienen, kaum noch über Wasser. Podemos in Spanien und die Linkspartei in Deutschland liegen in den Umfragen zwischen 2 und 3 Prozent. La France Insoumise, die bei den Präsidentschaftswahlen 2022 noch 22 Prozent der Stimmen erhielt, liegt bei 8 Prozent. In Griechenland, dem einstigen Epizentrum der Revolte, dümpelt Syriza, die inzwischen jeden Anspruch auf Radikalität verloren hat, bei etwa 15 Prozent – gleichzeitig ist ungewiss, ob eine von mehreren linken Abspaltungen der Partei überhaupt Sitze ergattern wird. Nur im kleinen Belgien, wo die Partei der Arbeit (PTB) in den Umfragen rund 17 Prozent erreicht – eine Verdoppelung ihres Ergebnisses von 2019 – scheint die Linke diesem Trend bedeutend zu trotzen.
Zweifellos könnten die Umfragen täuschen. Europawahlen waren auch noch nie die Stärke der Linken. Die Wahlbeteiligung ist in der Regel niedrig und die Wahl spricht eher die Mittelschicht an, was Parteien wie den Grünen einen natürlichen Vorteil verschafft. Doch dieses Mal ist es nicht die politische Mitte, auf die ein großer Sieg zukommt, sondern die extreme Rechte. Die AfD steht in den Umfragen immer noch an zweiter Stelle, trotz mehrerer Skandale um den Kandidaten Maximilian Krah und der Anstalten von Marine Le Pen, sich von ihren deutschen Verbündeten loszulösen. In Frankreich führt Le Pens Rassemblement National wiederum die Umfragen mit großem Abstand an und könnte ein Drittel der Stimmen auf sich vereinen.
Die Parteien, die die beiden rechtsextremen Fraktionen im EU-Parlament bilden – Identität und Demokratie (ID) und die Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR), – werden wahrscheinlich etwa 150 der 720 Sitze gewinnen. Die Linke hingegen, die ohnehin schon die kleinste Fraktion bildet, wird voraussichtlich nur knapp über 30 Sitze ergattern, was einen weiteren Rückgang gegenüber ihrem Höchststand von 52 Sitzen im Jahr 2014 bedeutet, der bereits 2019 auf 41 gefallen war. Bis vor Kurzem gab es sogar Gerüchte, dass eine Linksfraktion überhaupt nicht zustande kommen könnte.
»Die schlechten Umfragewerte der Linken sind, gepaart mit dem Rechtsruck, eine weitere Bestätigung dafür, dass ihr Vormarsch nicht nur ins Stocken geraten ist, sondern droht, den Rückwärtsgang einzulegen.«
Angesichts des notorischen Demokratiedefizits des Europäischen Parlaments (es hat keine Befugnis, Gesetze einzubringen) würde selbst ein spektakuläres Ergebnis der europäischen Linken wohl kaum eine reelle Chance bedeuten, die Architektur der EU wirklich zu verändern. Dazu wären linke Mehrheiten in den einzelnen nationalen Parlamenten nötig, wo praktisch alle legislativen Siege errungen wurden.
Nichtsdestotrotz sind die schlechten Umfragewerte der Linken, gepaart mit dem Rechtsruck, eine weitere Bestätigung dafür, dass ihr Vormarsch nicht nur ins Stocken geraten ist, sondern droht, den Rückwärtsgang einzulegen. Der Wahlsieg von Syriza 2015 schien kurzzeitig eine neue Stufe des politischen Kampfes innerhalb des Staatsapparats einzuläuten, bevor sie kleinlaut kapitulierte und die Sparmaßnahmen umsetzte, die sie aufzuhalten versprochen hatte. Seitdem befinden sich die Linksparteien in einer schweren Glaubwürdigkeitskrise, die zumindest in einigen EU-Mitgliedstaaten droht, sie endgültig zu erledigen.
Über die Entwicklung der europäischen Linken seit 2007 muss nicht viel gesagt werden. Die Finanzkrise diskreditierte den politischen Mainstream (und insbesondere die Mitte-Links-Kräfte), als angeblich sozialdemokratische Parteien die Arbeiterklasse und die Mittelschicht brutal auspressten, um Rettungspakete für Banken und Großunternehmen zu schnüren. Alte und neue linke Parteien – von denen einige kurz vor der Finanzkrise in Opposition zur Neoliberalisierung der Sozialdemokratie entstanden waren – bekamen eine einmalige Gelegenheit, den aufkommenden Volkszorn in die Politik zu kanalisieren. Schon bald verzeichneten viele zweistellige Wahlergebnisse, wie es sie seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Ära der kommunistischen Massenparteien in Westeuropa nicht mehr gegeben hatte.
Was hat sich seitdem geändert? Oberflächlich betrachtet ließ die Wirtschaftskrise allmählich nach, und mit ihr die politische Stimmung, die der Linken Auftrieb gab. Ende der 2010er Jahre hatte sich das Pro-Kopf-BIP in den meisten europäischen Ländern erholt – abgesehen von Griechenland, Spanien und Teilen Süditaliens. Die Jugendarbeitslosigkeit blieb in Südeuropa hartnäckig hoch, konnte aber zumindest teilweise durch Zuwanderung nach Deutschland und in andere nördliche Nachbarländer aufgefangen werden. Die Immobilienwerte – eine wichtige Grundlage für die finanzielle Sicherheit der Mittel- und Arbeiterklasse in diesen Ländern – erholten sich ebenfalls und übertrafen bald das Vorkrisenniveau, was die sozialen Spannungen weiter verringerte.
Doch auch wenn sich die wirtschaftliche Lage im Vergleich zum Höhepunkt der Krise verbessert hat, bleiben ernsthafte Probleme bestehen. In den meisten europäischen Ländern ist das Wachstum nach wie vor mager, und im Süden, wo linke Parteien in den 2010er Jahren die größten Erfolge verbuchen konnten, liegen die Löhne weit unter dem EU-Durchschnitt. Auch wenn die griechische Wirtschaft in den letzten Jahren vergleichsweise hohe Wachstumsraten verzeichnet, bleibt die Situation für die griechischen Arbeiterinnen und Arbeiter prekär: Die Arbeitslosigkeit liegt nach wie vor bei über 10 Prozent und die meisten Arbeitsplätze entstehen im Niedriglohnsektor.
In diesem Sinne bleiben viele der Probleme, zu denen die Linksparteien Kampagnen durchführen, bestehen – aber die Wählerinnen und Wähler scheinen immer weniger davon überzeugt zu sein, dass die Linke wirklich etwas gegen diese Missstände tun kann. Dies hat sicherlich etwas mit dem Giftbecher zu tun, der den linken Parteien in einer Reihe von Ländern nach ihren beeindruckenden Wahlerfolgen gereicht wurde: Parteien wie Podemos oder die slowenische Levica waren zu stark, um aus Koalitionsverhandlungen rausgehalten zu werden, aber nicht stark genug, um allein zu regieren, und wurden deswegen zu Junior-Koalitionspartnern der linken Mitte. Sie bekamen einige Ministerien zugeteilt und konnten einige symbolische Reformen durchsetzen, waren aber nicht in der Lage, die Regierungslinie vorzugeben oder ihre Programme umfassend umzusetzen.
»Viele der Probleme, zu denen die Linksparteien Kampagnen durchführen, bleiben bestehen – aber die Wählerinnen und Wähler scheinen immer weniger davon überzeugt zu sein, dass die Linke wirklich etwas gegen diese Missstände tun kann.«
Die Bilanzen dieser Regierungen waren bei weitem nicht durchgehend katastrophal – die meisten verabschiedeten zumindest einige sinnvolle Schutzmaßnahmen für die arbeitende Bevölkerung und trugen dazu bei, die Auswirkungen der Krise abzumildern. Aber Politik ist nicht fair, und in den meisten Fällen – wie in Spanien oder etwas früher in Portugal – ernteten die dominierenden Mitte-Links-Parteien die Lorbeeren für die Erfolge der Regierung, während die Linken bestenfalls übersehen oder schlimmstenfalls für Misserfolge verantwortlich gemacht wurden.
Ein ähnliches, vielleicht noch schlimmeres Schicksal ereilte die deutsche Linkspartei, als sie in eine Reihe von Landesregierungen eintrat, die nicht über die finanziellen Mittel verfügten, um ein linkes Programm umzusetzen, und manchmal sogar Sparmaßnahmen einführten. Das Ergebnis waren ausnahmslos abstürzende Umfragewerte. Das gilt sogar für Thüringen, wo der charismatische Bodo Ramelow bis vor kurzem noch in der Lage schien, den Laden alleine durch die Kraft seiner Persönlichkeit zusammenzuhalten.
Die politische Folge dieser Stagnation ist ein Prozess der organisatorischen Fragmentierung. Wir haben eine Reihe von Abspaltungen von Syriza in Griechenland, Spaltungen sowohl innerhalb von Podemos als auch zwischen Podemos und Izquierda Unida (jetzt Teil von Yolanda Díaz’ linkspopulistischem Projekt Sumar), den Zusammenbruch der NUPES-Koalition in Frankreich und Sahra Wagenknechts Austritt aus der Linkspartei erlebt.
Das spiegelt sich auch auf gesamteuropäischer Ebene wider. Im Vorfeld dieser Wahlen hat sich das Bündnis »Now the People« (Jetzt das Volk) neu formiert, gewissermaßen in Konkurrenz zur Partei der Europäischen Linken, die 2004 als Allianz zwischen (meist) kommunistischen Parteien gegründet wurde und heute etwa vierzig Organisationen umfasst. Ursprünglich 2018 als Bündnis zwischen France Insoumise, dem portugiesischen Linksblock und Podemos gegründet, hat sich Jetzt das Volk um die skandinavischen Linksparteien und, vielleicht ironischerweise, Die Linke erweitert – zumal sie sich jahrelang mit der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) gegen France Insoumise verbündete.
Alle diese Parteien sind immer noch Mitglieder oder zumindest Beobachter der Partei der Europäischen Linken. Doch diese konkurrierende Formation – unter anderem eine Rüge für kommunistische Parteien, die in den Augen ihrer Kritiker als »prorussisch« gelten – deutet darauf hin, dass die Tage der Partei der Europäischen Linken bald gezählt sein könnten.
Auch wenn die Tendenz insgesamt rückläufig ist, gibt es immerhin ein paar bemerkenswerte Ausnahmen. Insbesondere in Deutschland werden der bereits erwähnte Erfolg der belgischen Partei der Arbeit sowie die jüngsten Wahlerfolge der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) auf kommunaler und regionaler Ebene zunehmend als Musterbeispiele dafür diskutiert, wie man den Abwärtstrend stoppen könnte. Dass sie auch außerhalb von Wahlkampfzeiten Präsenz auf den Straßen und in Stadtvierteln zeigen, sich auf Brot-und-Butter-Themen konzentrieren und sich selbst dazu verpflichten, dass Funktionärinnen und Mandatsträger ihre Gehälter auf Facharbeiter-Niveau stutzen, werden regelmäßig als nachahmenswerte Faktoren genannt.
Sicherlich würde es keiner der kränkelnden linken Parteien in Europa schaden, diese Praktiken zu übernehmen. Dies gilt insbesondere für die Linkspartei, deren parlamentarische Vertreterinnen und Vertreter oft in großer Entfernung von der gewählten Führung agieren, und wo öffentliche Auseinandersetzungen zwischen Fraktion und Partei fast ein Jahrzehnt lang die Norm waren. Doch diese Art der Projektion auf erfolgreiche Kampagnen im Ausland – einige wenige Merkmale herauszupicken und diese als Vorbild hochzuhalten – verschleiert oft mehr, als sie klärt, und kann im schlimmsten Fall dazu dienen, einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung mit den Fehlern der Vergangenheit aus dem Weg zu gehen.
Die »gemeinsame materielle Verbesserung der Lebensverhältnisse« zu fokussieren und »spaltende Kulturkämpfe, Identitäts- und Symbolpolitik« zu vermeiden, wie es zwei KPÖ-Mitglieder kürzlich in einem Artikel für die Rosa-Luxemburg-Stiftung ausdrückten, ist ein Grundprinzip sozialistischer Politik. Gewählte Funktionäre der Parteidisziplin zu unterwerfen und von ihnen zu erwarten, dass sie einen großen Teil ihres Gehalts an die Partei spenden, ist ebenfalls eine Praxis, die eine lange Geschichte hat und an sich nicht revolutionär ist.
Darüber hinaus sind viele linke Parteien in Europa vor Ort verwurzelt und führen Kampagnen zu sozialen Themen durch, und haben dennoch mit Schwierigkeiten zu kämpfen – siehe zum Beispiel die PCF unter ihrem derzeitigen Vorsitzenden Fabien Roussel, der versucht, seine Partei auf einen »Brot-und-Butter«-Kurs zu lenken, gespickt mit patriotischem Schnörkel. Das hat aber bisher lediglich dazu beigetragen, die Stimmen der Linken zu spalten und Jean-Luc Mélenchon daran zu hindern, 2022 in die Präsidentschafts-Stichwahl zu kommen.
Sicherlich gibt es Gemeinsamkeiten zwischen dem relativen Erfolg der PTB und der KPÖ: erstens ihre Ursprünge in der kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts und der damit verbundenen politischen Kultur und zweitens – was vielleicht noch wichtiger ist – die Tatsache, dass beide in den letzten Jahren nicht als Juniorpartner in breiteren Mitte-Links-Koalitionen fungiert haben.
Das gemeinsame kommunistische Erbe der beiden Parteien schlägt sich in einer marxistischen Organisationskultur nieder, die sich durch politische Disziplin und eine Fokussierung auf arbeitende Schichten auszeichnet. Kontroverse Debatten werden innerhalb der Partei geführt, und sobald eine Entscheidung getroffen wurde, halten sich die Mitglieder weitgehend daran. Oberflächlich betrachtet bedeutet dies, dass die KPÖ und die PTB – anders als beispielsweise in Spanien, Frankreich oder Deutschland, wo die öffentlichen Auseinandersetzungen gefühlt nie aufhören – nur selten durch Skandale, Gerüchte oder interne Streitereien in die Schlagzeilen geraten. Dies trägt dazu bei, dass sich die Presseberichterstattung auf ihre Politik und nicht auf persönliche Dramen konzentriert, und vermittelt das Bild einer kohärenten, stabilen Kraft.
»Die PTB definiert klare rote Linien als Vorbedingung für das Regieren, während sie gleichzeitig regelmäßig an die Mitte-Links-Parteien appelliert, eine solche Regierung zu bilden.«
Vor allem aber bedeutet diese Organisationskultur (frühere Generationen nannten sie »demokratischen Zentralismus«) auch, dass die Parteien bei der Durchführung von Kampagnen und der Umsetzung strategischer Umorientierungen auf die Mitglieder zählen können. Den Gegensatz dazu bilden persönlichkeitsgetriebene Organisationen mit wenig Raum für Mitgliederbeteiligung, in denen Meinungsverschiedenheiten zwischen einzelnen Führungsfiguren schnell organisatorische Spaltungen zur Folge haben, oder auch das chaotische Durcheinander, das durch einen überzogenen »Alles-geht«-Pluralismus entsteht, der etwa die Linkspartei fast auseinandergerissen hat. Die Konzentration auf proletarische Wählerschichten, die mit der marxistischen Grundorientierung von PTB und KPÖ einhergeht, hat sie auch gegen die Versuchung abgehärtet, sich nebulösen »Bewegungen« zuzuwenden – oft ein Synonym für Social-Media- oder NGO-gesteuerte Kampagnen –, deren Durchhaltevermögen weit überschätzt wird.
Auch wenn Disziplin ein wichtiger Faktor ist, so ist es doch ihr Verhältnis zu Regierungsbeteiligungen, die sie wohl am meisten von ihren europäischen Schwesterparteien unterscheidet und dafür sorgt, dass ihre Popularität selbst in Zeiten des allgemeinen Rückzugs der Linken stetig steigt. Weder die PTB noch die KPÖ sind als bloße Mehrheitsbeschaffer in Mitte-Links-Koalitionen eingetreten – offenbar ein sicheres Rezept, um bei Wahlen in Vergessenheit zu geraten, wie die jüngsten Erfahrungen in Spanien und Deutschland zeigen.
Die PTB definiert klare rote Linien als Vorbedingung für das Regieren, während sie gleichzeitig regelmäßig an die Mitte-Links-Parteien appelliert, eine solche Regierung zu bilden. Zum Beispiel nach der letzten Parlamentswahl 2019, bei der die PTB ihr Ergebnis auf über 8 Prozent mehr als verdoppeln konnte, forderte die Partei die Sozialisten und die Grünen auf, eine Koalition zu bilden, die sich dazu verpflichtet, das Rentenalter zu senken, den Sozialstaat zu verteidigen und Privatisierungen im öffentlichen Sektor zu beenden. Beide Parteien lehnten es ab, auch nur mit der PTB zu verhandeln – um ja nicht dazu gezwungen zu sein, ihre Wahlversprechen einzuhalten. Die öffentliche Glaubwürdigkeit der PTB ist seitdem nur noch gestiegen.
Bei den belgischen Parlamentswahlen, die am kommenden Sonntag parallel zu den Europawahlen stattfinden, wird sie ihr Ergebnis wahrscheinlich erneut verdoppeln, und – vielleicht zum Glück für die belgischen Genossinnen und Genossen – haben sowohl die Grünen als auch die Sozialisten eine Koalition mit der PTB bereits ausgeschlossen.
Die KPÖ, die bundesweit erst bei 4 Prozent liegt und sich erst in diesem Jahr zum ersten Mal seit 1959 um den Einzug in den Nationalrat bewirbt, muss ihre regionalen Erfolge noch in eine bedeutende Präsenz auf nationaler Ebene umsetzen. Aber wenn man die Entwicklungen der letzten Jahre betrachtet, wird sie früher oder später vor dem gleichen Dilemma stehen wie die PTB.
Bislang haben die Belgier diese tückischen Gewässer viel geschickter durchschifft als ihre europäischen Schwesterparteien, aber früher oder später werden auch sie regieren müssen. Angesichts ihres beeindruckenden organisatorischen Wachstums in den letzten zehn Jahren und ihrer starken Präsenz in den Gewerkschaften werden sie hoffentlich besser als die meisten anderen in der Lage sein, Unterstützung von außerhalb der Institutionen für ihr Programm zu mobilisieren – und ausnahmsweise einmal zu zeigen, dass eine linke Regierung wirklich etwas bewirken kann.
So düster die Umfragen auch aussehen mögen, die Wahl am Sonntag wird kein totaler Knockout sein. Die Linksfraktion im Europäischen Parlament wird höchstwahrscheinlich intakt bleiben, wenn auch kleiner als je zuvor. Für einige ihrer Mitglieder – vor allem die Linke und Podemos – wird die Wahl jedoch ein demütigender Schlag sein, der zu einem ernsthaften Umdenken führen sollte. Es ist klar, dass der im letzten Jahrzehnt eingeschlagene Weg in eine Sackgasse geführt hat.
Allzu oft werden Strategiedebatten in der Linken auf ästhetische und technische Fragen wie Haustürwahlkampf oder eine bessere TikTok-Präsenz reduziert, als ob dies das Wesen des politischen Erfolgs ausmachen würde. Es würde sicherlich nicht schaden, wenn die Linke ihre Social-Media-Aktivitäten verbessern würde, aber es wird nicht die grundlegendere Frage beantworten, wie man als sozialistische Kraft in einer kapitalistischen Demokratie Macht ausüben kann.
Angesichts der defensiven Position der Linken und ihrer dürftigen Regierungsbilanz – ganz zu schweigen von der schieren institutionellen Unpraktikabilität einer »Transformation Europas« (was auch immer das heißen mag) – wären linke Parteien, die damit zu kämpfen haben, es überhaupt in Parlamente zu schaffen, gut beraten, sich auf einige wenige materielle Kernthemen auf nationaler Ebene zu konzentrieren.
»Die oft emotionsgeladene Rhetorik der Rechten trifft eindeutig einen Nerv, und die Linksparteien müssen wirksamere Wege finden, um damit umzugehen.«
Nirgendwo ist es der Linken in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen, große Wahlerfolge zu verzeichnen oder ihren Einfluss zu stärken, indem sie an Anstand oder gesunden Menschenverstand appellierte. Wo sie ihre Basis vergrößert hat, tat sie dies, indem sie ein paar Kernthemen identifizierte und die Wählerschaft um diese herum mobilisierte. Auch das wird Parteien wie die deutsche Linke nicht über Nacht vom Rande des Abgrunds zurückbringen. Aber mittelfristig bietet eine solche Herangehensweise bessere Aussichten, als sich als das soziale Gewissen des Politbetriebs oder als die Stimme nebulöser »sozialer Bewegungen« zu positionieren, die mit den Jahreszeiten aufsteigen und fallen.
Der anhaltende Aufwärtstrend der Rechten, zuletzt in ihrem »populistischen« Gewand, zeigt auch, dass die Linke nicht in der Lage ist, die Frustration der Bevölkerung aufzufangen. Damit überlässt sie rechten Kräften das Feld, die die Wut gegen Migranten oder andere Sündenböcke richten. Die oft emotionsgeladene Rhetorik der Rechten trifft eindeutig einen Nerv, und die Linksparteien müssen wirksamere Wege finden, um damit umzugehen. Zu tun, als wäre man darüber erhaben, oder sich im Namen der Demokratie mit den bürgerlichen Parteien zu verbünden, hat zumindest bisher nicht gereicht. Die Linke braucht eigene Methoden, um die Wut aufzugreifen und sie gegen die Reichen und Mächtigen zu richten – das setzt aber voraus, sie willkommen zu heißen, anstatt sich vor ihr zu scheuen.
Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis sagte kürzlich in einem Interview mit JACOBIN: »Wenn wir Linken Glück haben, können wir einmal alle fünfzig Jahre, in einer akuten kapitalistischen Krise, die Mehrheit erreichen.« Man kann nie im Voraus wissen, wann eine solche große Krise kommen wird. Aber wenn wir vermeiden wollen, dass wir die Vorlage so schlecht verwandeln wie beim letzten Mal, muss die Linke in Europa sich ins Zeug legen, um sich in der Arbeiterklasse zu verwurzeln und dauerhafte Massenorganisationen aufzubauen. Nur so wird sie in der Lage sein, ihre Versprechen einzulösen, wenn sich die Gelegenheit zum Regieren wieder bietet.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.