06. November 2020
Ausbeutung, Ungleichheit und ein Planet vor dem Kollaps. Die Philosophin Eva von Redecker erklärt im Gespräch, was den Kapitalismus so lebensfeindlich macht, und warum es sich lohnt, sich dagegen zu verbünden.
Die Verwertungsprozesse des Kapitalismus sind nicht nur ausbeuterisch, sie zerstören die Grundlagen des Lebens, argumentiert Eva von Redecker.
Die Feministinnen von Ni Una Menos kämpfen gegen sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Black Lives Matter mobilisiert gegen rassistisch motivierte Polizeimorde. Die Proteste der Fridays For Future fordern eine andere Klimapolitik. Auf den ersten Blick wirkt es so, als hätten diese sozialen Bewegungen nichts miteinander zu tun. Doch sie alle wenden sich gegen die zerstörerischen Verheerungen des Kapitalismus, so die Philosophin Eva von Redecker. Mit ihrem kürzlich erschienenen Buch Revolution für das Leben legt sie eine Analyse neuer Protestformen vor, die sich nicht nur gegen Ungleichheit, sondern gegen die lebenzerstörende Wirkweise des Kapitalismus positionieren.
Im Gespräch erklärt sie, warum rechte autoritäre Sehnsüchte und sexistische Verfügungsphantasien ihren Ursprung in der modernen Form des Eigentums haben – und mit welchen solidarischen Bündnissen wir uns den destruktiven Kräften des Kapitalismus widersetzen können.
In Deinem Buch geht es um Protestformen, die Du als im Kern antikapitalistisch beschreibst, die sich aber nicht – im klassischen Sinn – als Konflikt zwischen Kapital und Arbeit greifen lassen. Was ist neu an diesen Bewegungen?
Die These, dass wir es mit einer neuen Protestform zu tun haben, heißt, dass viele Anliegen um einen neuen Schlüsselbegriff herum zentriert sind. Ich glaube nicht, dass diese Bewegungen nichts mit denen zu tun haben, die es vorher gab, sondern dass es eine neue Konstellation ist. Und mir scheint, dass sich diese neue Konstellation über den Begriff des Lebens auf den Punkt bringen lässt. Darin zeigt sich auch eine Verschiebung weg von gruppenbezogenen, also im weitesten Sinne identitätspolitischen Kämpfen, hin zu den geteilten Überlebensbedingungen.
Ich glaube, diese Kategorie des Lebens greift einerseits, weil sich viele der Selbstartikulationen der Bewegungen damit einfangen lassen. Sie greift aber auch, weil wir uns eben jetzt in einem historischen Moment befinden, wo das Überleben insgesamt und speziell das Leben unterdrückter Gruppen zur Disposition steht.
Die Herausforderung in dem Buch war, bestimmte Akteurinnen und Akteure, die auf den ersten Blick gar nicht so besonders kapitalismuskritisch wahrgenommen werden, nochmal neu zu beschreiben und zu zeigen: Das läuft alles zusammen auf unsere Produktionsweise als Ganze.
In Deiner Analyse entwirfst Du ein Konzept, um neu über den Begriff des Eigentums nachzudenken, nämlich den »Phantombesitz«, der über ein rein materialistisches Verständnis hinausweist. Was meint der Begriff?
Der Phantombesitz beschreibt erst mal eine Art von Verfügungswillen, der sich artikuliert, wo gar kein institutionell abgesicherter Herrschaftsanspruch mehr besteht. Ich nenne das Besitz und nicht einfach Macht oder Hierarchie, weil sich neben der anonymen Herrschaft des Kapitals die sozialen Herrschaftsverhältnisse der Moderne als eigentumsförmig beschreiben lassen. Dabei geht es nicht immer um die ganze Person, das können auch Ausschnitte sein, die je unterschiedlich eingehegt werden – sei es durch Disziplinierung der Arbeitskraft, sei es durch Verschleppung und Versklavung, sei es durch die Isolierung der Reproduktionsfähigkeit der Frau, die dann sozusagen partiell unter Sachherrschaft steht.
Das Motiv des Phantombesitzes deckt die Eigentumslogik auf, die die reflexhafte Verteidigung einer eigentlich schon formal überwundenen Herrschaft strukturiert. Es erklärt auch, warum in sexistischen und rassistischen Zusammenhängen Ressentiments so schnell in Brutalität kippen, anstatt das als Affekt zu naturalisieren. Wenn etwa ein Mann aus Eifersucht seine Freundin umbringt, spiegelt sich darin eine Spezifik des modernen Eigentums, nämlich die volle Verfügungsgewalt bis hin zum Missbrauch und zur Zerstörung.
Meine Hoffnung mit der Kategorie des Phantombesitzes ist, dass man einen Mittelweg finden kann zwischen einerseits dem Begriff der Privilegien und andererseits einer Analyse, die ideologische oder symbolische Gehalte gar nicht mehr fassen kann, weil sie auf reduktionistische Weise materialistisch ist.
Worin zeigen sich die Effekte des Phantombesitzes im gegenwärtigen politischen Kontext?
Das Konzept geht direkt auf meine Beobachtung rechter Diskurse zurück. Die verlaufen nämlich stets so, dass da etwas wie Eigentum verteidigt wird, auf das überhaupt kein eigener Anspruch besteht. Und diese phantasmatischen Güter spielen eine Rolle in der Aufrechterhaltung von materieller Ungleichheit. So fordern etwa auch Leute, die eigentlich nicht von der Eigentumsordnung profitieren, geradezu wahnhaft, dass die Ordnung der Eigentumsverhältnisse aufrechterhalten wird – weil sie empfinden, dass sie mit ihren eigenen, vergleichsweise miesen Souveränitätsansprüchen verzahnt ist. Wenn zum Beispiel irgendwo ein Haus besetzt wird, dann haben selbst viele Menschen, die zur Miete wohnen und kein Wohneigentum besitzen, das Gefühl, hier gerät die Welt in Unordnung. Aber wenn ein Immobilien-Gigant spekuliert, dann eher nicht.
Es gibt eine lange Tradition im Kapitalismus von Pseudo-Schutz und Pseudo-Sicherheit, um die materielle Mittellosigkeit durch ideologische Überlegenheitsansprüche zu kompensieren. Ich würde nicht sagen, dass das durch den Neoliberalismus geboren ist. Mir scheint das nicht erst ersichtlich, wenn jetzt Rechtspopulisten gegen Migration agitieren, sondern schon, als es nach den ursprünglichen Einhegungen eine Verschärfung der patriarchalen Ehegesetzgebung gab. Es geht jeweils um eine Identifikationsbasis mit den Gewinnern, anstatt sich der eigentlichen Klasseninteressen bewusst zu werden.
Ist das Perfide am Phantombesitz, dass er einen potenziellen Klassenantagonismus bricht und stattdessen die Klasse der Arbeitenden spaltet?
Ja. Das könnte man mit allen Varianten der Ideologiekritik argumentieren. Wenn man Klasse im Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital verortet, dann zeigt sich, dass die Klasse anhand von segmentierten Sub-Interessen gespalten ist und ihr gemeinsames Interesse nicht erkennt. Und sie hat ja als Klasse weiterhin ein gemeinsames Interesse. Denn wenn, sagen wir, migrantische Arbeitskräfte weniger gewerkschaftlich organisiert sind und immer als Reserve parat stehen, die man schlechter bezahlen kann, dann drückt das ja auch die Löhne der »weißen« Arbeiterschaft und mindert den Wert ihrer Arbeitskraft.
Wenn man aber diese Phantombesitz-Analyse ernst nimmt, zeigt sich, dass auch dieser »nur« phantasmatische Herrschaftsanspruch nicht materiell folgenlos bleibt. In einer Welt, in der der große Klassenkampf gerade nicht gelingt, haben die White Supremacists tatsächlich irgendwas davon, ihre Ideologie zu verteidigen. Sie mögen dann eben Unmenschen sein, aber es ist trotzdem so, dass sie ein partielles Interesse an der Unterdrückung anderer haben, genauso wie Männer ein partielles Interesse an der Abschöpfung von Fürsorge haben. Und natürlich macht das ein Kollektiv insgesamt ohnmächtiger und weniger handlungsfähig.
Ich würde sagen, dass das, was wir als Klasse begreifen sollten, ein breiteres Bündnis ist und alles einschließt, was für die Wertschöpfung eingehegt und geplündert wird. Das reicht von der disziplinierten Arbeitskraft bis zum kolonisierten Land, bis zur extrahierten Natur, bis zur unbezahlten Reproduktionsarbeit. Die Frage ist, wie man es schafft, diese Dinge in Solidarität miteinander zu bringen. Vielleicht weitet das sogar den Blick von der komparativen Ausbeutung zur kumulativen Zerstörung.
Du erwähntest gerade die Abschöpfung unbezahlter Reproduktionsarbeit, die eine zentrale Achse feministischer Kämpfe bildet. Diese These ist ja materialistisch gefasst und lässt sich auch ohne den Begriff des Phantombesitzes beschreiben. Wo genau zeigt sich hier die geschlechtliche Dimension?
Erst einmal würde ich Geschlechterdifferenz definieren als eine Struktur, die bestimmt, wer Aneignungs- und Verfügungsansprüche hat und wer aneigenbar und verfügbar ist – also wer Phantombesitz hat und wer Phantombesitz ist.
Jeder gute materialistische Feminismus kann ja sagen, dass die Reproduktionsarbeit den männlichen Arbeitern und – darüber vermittelt – den Fabrikbesitzenden zugutekommt. Er kann erklären, dass da ein Transfer stattfindet. Aber es geht hier nicht nur um den Transfer von Arbeitskraft, sondern auch um eine Domäne des Willens. Derjenige, der im Arbeitsverhältnis ständig seiner Selbstbestimmung beraubt wird, hat hier dann ein Gebiet, wo er auch mal seinen Willen durchsetzen kann, wo er auch mal auf den Tisch hauen darf. Es geht darum, irgendwo seine Verfügungsfreiheit zu haben und damit für die Zumutungen des Lohn-Arbeitsverhältnisses kompensiert zu werden. Dass die Frauen nicht nur zu Diensten, sondern auch zu Willen sind, halte ich für eine wichtige Dimension.
Die Feministin Barbara Ehrenreich hat in dem Vorwort zur Wiederveröffentlichung ihres Klassikers »What is Socialist Feminism« schon darauf verwiesen, das wir längst wissen, dass eine rein materialistische Analyse bestimmte Extreme patriarchaler Gewaltexzesse überhaupt nicht abdecken kann. Die Gültigkeit des derzeit als »social reproduction theory« wiederentdeckten marxistischen Feminismus will ich nicht in Abrede stellen, eher ergänzen, weil man an die vernichtenden Dynamiken des Patriarchats mit dem Vokabular des Phantombesitzes eher rankommt.
Für die ökologisch motivierten Bewegungen, die Du beschreibst, spielt die Katastrophenvergegenwärtigung eine zentrale Rolle. Wie kann die gelingen?
Wenn ich von Katastrophenvergegenwärtigung spreche, tue ich das eigentlich immer auch schon sehr skeptisch. Die Protestform der Katastrophenvergegenwärtigung, wie sie etwa Extinction Rebellion artikuliert, ist eher so eine Art Startposition, aber noch nicht selber präfigurativ für andere Praktiken, ein anderes Zusammenleben.
Das liegt auch daran, dass Teile der Umweltbewegung die Katastrophe in der Zukunft sehen und fordern, jetzt aktiv zu werden, um sie zu verhindern. Und dann wundert man sich immer, warum nichts passiert. Mir scheint, die einzige ehrliche Katastrophenvergegenwärtigung ist im Grunde viel melancholischer. Die sagt: Die Katastrophe ist der Weltverlust durch Sachherrschaft. Und das ist seit hunderten von Jahren im Gange, nur kommt es eben erst jetzt hier im Norden in den bürgerlichen Wohnzimmern an.
Nur wenn wir diese Kontinuitäten begreifen, wird man auch wirksam dagegen kämpfen können. Ansonsten wird man wie bisher weiterhin irgendwelche Maßnahmen beschließen, die dann nie eingehalten werden, und weiter die Kosten externalisieren und andere tragen lassen. Was jetzt da ist, das ist die Katastrophe. Wir befinden uns inmitten von Destruktionsdynamiken, die in die Wiederherstellung der ganz grundlegenden Lebensbedingungen einbrechen.
Du hast gerade gesagt, die Katastrophe kommt nicht erst, sie ist schon lange da, nur eben noch nicht in den westlichen Industrienationen. Die Einsichten über den Klimawandel sind ja nicht neu, die haben wir seit Jahrzehnten. Ist die Tatsache, dass sich das trotzdem nicht in ein politisches Programm übersetzt, nicht weniger eine Frage fehlender Einsicht – oder mangelnder Vergegenwärtigung der Katastrophe –, sondern schlichtweg ein Interessenkonflikt?
Dieser Zuordnung der Interessen stimme ich zu. Aber selbst diese Interessen könnten sich verschieben, wenn sie auf eine bestimmte Art reflektiert würden. Ich glaube man hat eine zu verarmte Theorie, wenn man Interessen wirklich nur versteht als Gewinnabsicht. Das sind ja Mehrheiten, denen diese Prozesse schaden, und dass sich dann diese Mehrheiten nicht ihres geteilten Interesses und auch der Möglichkeit einer viel besseren Welt gewahr werden und sich nicht durchsetzen können, dazu muss man wieder eine Ideologie-Analyse heranziehen.
Denn die kann erklären, weshalb es den Leuten z.B. so ein Freiheitsgefühl verschafft einen SUV zu fahren. Da kommt man nicht raus, wenn man einfach sagt: Karten auf den Tisch, die einen haben eben Geld und Macht und die anderen nicht. Denn die letzteren haben eben auch Zustimmung. Und da muss man ansetzen und dafür gibt es ja eine Reihe von Praktiken, die wirksam sind, ziviler Ungehorsam, Besetzungen – selbst Sabotage ist derzeit eher ein symbolischer Widerstandsakt als echte Erpressung der Firmenleitungen. Solche Aktionen machen Alternativen erfahrbar und verschieben Möglichkeitshorizonte. In die unmittelbar mobilisierende Kraft von Theorie habe ich dagegen sehr geringe Hoffnung.
Aus der Vergegenwärtigung der Krise lässt sich allein noch keine linke Politik formulieren. Die Umweltbewegung ist politisch nicht homogen, es gibt auch eine regressive Ökobewegung.
Rechten Ökobewegungen geht es letztlich um affirmative Bezüge auf die unterworfene Natur. Da geht es um »meine« Heimat, »meinen« Lebensraum, der verstanden wird als etwas souverän und exklusiv Angeeignetes, das es gegen andere zu verteidigen gilt, die dann als nicht besitzwürdig dargestellt werden.
Aber ich glaube es wäre nicht richtig, diesen Themenkomplex nicht anzufassen, nur weil sich dem auch Rechte zuwenden. Mir gefällt es deswegen, mit einem größeren Mut, auch zur Romantisierung, über Natur und Leben zu schreiben, weil ich glaube, man überlässt sonst dem Gegner viel zu viel. Das sehen wir ja schon an dem heiklen Titel meines Buches – »Marsch fürs Leben«, das waren bisher Abtreibungsgegner. Und denen dürfen wir diesen Begriff nicht überlassen.
Die Corona-Krise hat noch einmal gezeigt, wie zentral die Sektoren der Arbeit sind, die die Reproduktion der Gesellschaft sicherstellen, wie etwa Pflegearbeit, Logistik und Einzelhandel – alles Arbeitszweige, die weder gesellschaftlich noch finanziell eine hohe Wertschätzung erfahren. Nun gab es in all diesen Bereichen in der letzten Zeit vermehrt auch Streiks. Wie ist das Verhältnis zwischen den Protestformen, die Du im Buch vorstellst, und solchen gewerkschaftlichen Kämpfen?
Faktisch ist es so, dass diejenigen, die in schlechten Jobs arbeiten, auch viel schneller und stärker krank werden. Diese perfide Logik der Entwertung zeigt sich auch in der Zerstörung eben jener Leben, die jetzt als systemrelevant hervorgehoben werden durch die unsäglich riskante Arbeit. Ich halte die gewerkschaftliche Organisation des Pflegesektors für eine der dringendsten Aufgaben der Linken. Aber die grundlegende Schwierigkeit, Sorgearbeit zu bestreiken, rückt diese Arbeitskämpfe bereits in die Nähe anderer Protestformen für solidarisches Leben. Und ob es die Möglichkeit zur Verbindung der Kämpfe gibt, steht und fällt mit dem Internationalismus. Wenn gewerkschaftliche Kämpfe etwa Klimagerechtigkeit nicht global mitdenken, dann machen sie partikularistische Politik.
In gewisser Weise liegt in der Krise auch ein Moment der Transparenz. Sie hat das Ungetüm des Kapitalismus in neuer Klarheit gezeigt, hat sichtbar gemacht, was lange irgendwie vernebelt blieb. Das finde ich verheißungsvoll für zukünftige Kämpfe.
Eva von Redecker ist Philosophin und freie Autorin. Sie forscht und publiziert auf dem Gebiet der Kritischen Theorie und der feministischen Philosophie.