30. März 2021
Ein Schiff ist eingekeilt und der ganze Welthandel ist festgefahren: Die Havarie der »Ever Given« hat die Absurdität der Just-in-time-Lieferketten verdeutlicht. Jetzt ist die Zeit, eine Relokalisierung der Wirtschaft zu fordern.
Sechs Tage lang blockierte die »Ever Given« eine der wichtigsten globalen Handelsrouten, den Suez-Kanal.
Ein im Suez-Kanal havariertes Containerschiff lenkte in den letzten Tagen ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit auf eine der zentralen und zugleich fragilen Infrastrukturen des globalisierten Kapitalismus: die internationale Handelsschifffahrt. Was war passiert? Das Schiff mit dem poetischen Namen »Ever Given« hatte sich nach einem Sandsturm auf seinem Weg von China nach Rotterdam im südlichen Teil der ägyptischen Wasserstraße mit 18.000 Containern an Bord verkeilt und damit für die Blockade einer zentralen Ader des Welthandels gesorgt. Die genauen Ursachen der Havarie sind noch nicht geklärt, aber es wird vermutet, dass die schlechten Wetter- und Sichtverhältnisse die ohnehin schwierige Passage der engen Wasserstraße erschwert haben. Die Stelle, die für eine Woche zum verstopften Nadelöhr der Globalisierung wurde, können großen Schiffe – die »Ever Given« ist 400 Meter lang und fast 60 Meter breit – nur in eine Richtung, im Konvoy und mit ortskundigen Lotsen befahren.
In der Folge kam es zu einem regelrechten Rückstau einiger hundert Containerschiffe im Roten Meer. Einige Reedereien schickten ihre Schiffe auf die längere und dadurch teurere Route um den afrikanischen Kontinent herum, weil unklar war, wie lange der Suez-Kanal unpassierbar bleiben würde. Mittlerweile konnte die »Ever Given« erfolgreich geborgen werden und die Passage für die wartenden Schiffe freimachen. Doch die zeitweise Blockade des Suez-Kanals versetzte die Wirtschaftspresse, viele Ökonominnen und Ökonomen, Versicherungen und Industrieverbände angesichts steigender Kosten und vermeintlicher Folgen für die gute Stimmungslage an den Börsen in große Aufregung.
Täglich passieren mehr als fünfzig Schiffe den Kanal. Zum einen sichert das dem ägyptischen Staat eine verlässliche Einnahmequelle, zum anderen sorgt das für kürzere Transportzeiten und damit geringere Produktionskosten, die das globale System der international fragmentierten Just-in-time-Lieferketten erst ermöglichen. Aufgrund des steigenden Schiffsverkehrs wurde der Suez-Kanal 2014/15 auf einigen Abschnitten um eine weitere Fahrrinne erweitert. Nach der jetzigen Havarie werden erste Forderungen laut, den Ausbau noch weiter voranzutreiben, um eine möglichst reibungslose Abwicklung des Containerverkehrs zu gewährleisten.
Der internationale Warenhandel, der trotz grassierender Pandemie aktuell wieder an Fahrt aufnimmt, wird größtenteils über den Seeweg abgewickelt. Hatte der Ausbruch der Corona-Krise zunächst zu einem beispiellosen Einbruch der Umschlagszahlen in vielen Häfen geführt, verbuchen die großen Reedereien seit einigen Monaten rapide steigende Umsätze, was vor allem auf die schnelle Erholung der chinesischen Volkswirtschaft zurückzuführen ist. Das treibt aktuell auch die Nachfrage nach Containern und damit die Frachtkosten nach oben, was sich besonders deutlich auf den sogenannten Spotmärkten zeigt, auf denen jenseits von langfristigen Logistikverträgen kurzfristig Container gechartert werden können.
Dabei war gerade die Kostenreduktion der zentrale Antrieb bei der Entwicklung und Etablierung des Containers, der seit den 1960er Jahren schrittweise zu einer zentralen Stütze des globalisierten Kapitalismus geworden ist. Dem US-amerikanische Spediteur Malcolm McLean kam beim Warten auf die Verladung der Fracht von seinem LKW auf ein Schiff die bahnbrechende Idee eines intermodularen Containers. Durch die Standardisierung des Containers sollten Zeit und Arbeitsplätze eingespart und damit höhere Profite erwirtschaftet werden. Wegen der damals geltenden Kartellgesetze verkaufte McLean seine Spedition und gründete eine Reederei, die mit dem Container eine disruptive Innovation in der traditionsbewussten Handelsschifffahrt und ein scheinbar ungebremstes Wachstum der Schiffsgrößen lostreten sollte.
Nach Jahrzehnten der Kapitalkonzentration sind die großen Container-Reedereien APM-Maersk, MSC, CMA GMC, COSCO, Hapag-Lloyd, ONE und Evergreen zu einflussreichen Akteuren der Weltwirtschaft aufgestiegen, die sich zu Reederei-Allianzen verbinden (2M, Ocean Alliance, THE ALLIANCE), um ihre Marktmacht gegenüber anderen Akteuren in der Logistikkette zu erhöhen, die Preisentwicklung zu kontrollieren, die Routen zu koordinieren und ihre Kapazitäten besser zu nutzen. Diese Großreedereien betreiben an vielen Standorten eigene Hafenterminals oder sogar ganze Häfen, wie im griechischen Piräus, dessen Containerhafen im Zuge der EU-Austeritätspoltik 2016 teilprivatisiert wurde und an dem die chinesische Staatsreederei COSCO zu 51 Prozent beteiligt ist. Dies ist kein Sonderfall. Traditionell sind Reedereien stark mit dem Staat verwoben, entweder über direkte Eigentumsverhältnisse oder Regulierungsvorteile, die im Rahmen von nationalen Industriestrategien erteilt werden. Die Containerisierung hat aber auch die Entwicklung einer Bandbreite hochspezialisierter Dienstleister nach sich gezogen – vom Containerbau bis hin zu Spezialversicherungen und Datenfirmen.
Die im Suez-Kanal havarierte »Ever Given« ist selbst ein eindrückliches Beispiel für die komplexen Strukturen des internationalen Containerhandels. Sie gehört der japanischen Reederei Shoei Kisen Kaisha und wird derzeit aber vom taiwanesischen Konkurrenten Evergreen betrieben. Sie ist in Panama registriert und hat eine 25-köpfigen größtenteils indischen Besatzung.
All das bleibt uns im Normalfall verborgen. Das gilt in besonderem Maße auch für die menschliche Arbeit rund um die Containerschiffe, die wir kaum wahrnehmen, obwohl fast alles was wir tagtäglich kaufen und benutzen, zumindest als Vorprodukt, irgendwann einmal auf einem Containerschiff transportiert wurde, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch den Suez-Kanal passierte. Die Containerisierung des Welthandels führte einerseits zu einer Vernichtung zahlreicher traditioneller Berufe und einer Verdrängung der Menschen aus den Häfen. Denn in vielen Containerterminals erfolgt die Be- und Entladung der Schiffe mittels voll- oder zumindest teilautomatisierter Containerbrücken und Hubwagen. Die kapitalistische Modernisierungsdynamik und ihre Auswirkungen beschrieben schon von Karl Marx und Friedrich Engels im kommunistischen Manifest in ihrer unauflöslichen Ambivalenz zwischen Bewunderung und Verachtung. Die Verminderung von Arbeit und damit von Kosten für die Produktions- und Transportunternehmen war das Ziel der Einführung des Containers. Deshalb war seine Einführung gerade in den USA von einer großen Streik- und Protestwelle begleitet. Traditionell war Arbeit in den Häfen und auf hoher See vergleichsweise stark gewerkschaftlich organisiert – der Begriff des Streiks kommt sogar aus der Seefahrt.
Die Containerisierung führte allerdings nicht überall zu einer Verringerung der Arbeit. Mit der Internationalisierung der Produktion und der damit einhergehenden Fragmentierung der Liefer- und Wertschöpfungsketten stieg der Bedarf nach menschlicher Arbeitskraft in der Logistik erheblich an. Mit der Praxis der Ausflaggung, die es Reedereien erlaubt, sich ein für sie genehmes nationales Arbeitsrecht auswählen zu können, sowie weiteren Formen der Deregulierung und der starken Internationalisierung der Schiffscrews hat sich das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital stark zugunsten der Kapitaleignerinnen und -eigner verschoben. Die Arbeitsbedingungen auf den Containerschiffen sind zum Teil katastrophal, was nicht zuletzt am Beispiel der festsitzenden oder gar verlassenen Schiffsbesatzungen zu Beginn der Corona-Krise deutlich wurde.
Die Havarie der »Ever Given« im Suez-Kanal hätte einen idealen Anlass geboten, um die Strukturen und Entwicklungen des globalen Containerhandels gründlich zu beleuchten. Die breite Berichterstattung über die Schiffshavarie erfolgte jedoch nach extrem ökonomisierten Gesichtspunkten. So wurde berichtet, dass die Havarie den Welthandel täglich bis zu 10 Milliarden US Dollar kostet und dass in der deutschen Wirtschaft vor allem die Auto- und Computerproduktion betroffen sind. Auch die Ölpreisschwankungen waren ein Thema, die zunächst hektisch fluktuierten. Ferner wurde darüber geschrieben, dass die Sache mit der Haftung von Schiffs- und Frachtversicherungen kompliziert ist, weil Policen, die viele Eventualitäten abdecken, zu teuer sind. Es wurde detailreich beschrieben, wie man ein so großes Schiff freibaggern und freischleppen kann, ohne die schwere Ladung zu löschen, was viel Zeit und Geld gekostet hätte. Und schließlich wurde mit Erleichterung gemeldet, dass nach der Bergung der »Ever Given« wieder gute Stimmung an den Börsen herrscht und der Welthandel zum Normalzustand zurückkehren kann.
Dabei ist gerade dieser Normalzustand das Problem. Die soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit eines globalen Transportwesens, das auf immer größere Containerschiffe, immer größerer und tiefere Hafenbecken, immer kürzere Liegezeiten und immer schlechtere Arbeitsbedingungen angewiesen ist, stand nicht zur Debatte.
Schiffshavarien wie die der »Ever Given« sind erstaunlicherweise ziemlich selten. Umso wichtiger wäre es, die jetzige zum Anlass zu nehmen, um einige grundlegende Fragen über die Zukunft unseres Wirtschaftens neu zu stellen und auch neu zu beantworten. Die Achtung der planetaren Grenzen und die Einhaltung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen in Transport und Produktion verlangen ohne Zweifel danach, den Welthandel in die Schranken zu weisen. Ohne ein gewisses Maß an Regionalisierung und Deglobalisierung wird das nicht möglich sein.
Sebastian Möller ist Politikökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Bernkastel-Kues.
Sebastian Möller ist Politikökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Bernkastel-Kues.