02. April 2024
Vor knapp zwei Jahren verabschiedete sich Fabio De Masi erst aus dem Bundestag, dann von der Linkspartei. Im Interview spricht er darüber, was ihn dazu bewogen hat, jetzt in die Politik zurückzukehren und als BSW-Spitzenkandidat bei der Europawahl anzutreten.
Fabio De Masi spricht auf dem BSW-Parteitag am 27. Januar 2024.
Bis zu seinem Austritt vor eineinhalb Jahren war Fabio De Masi eines der bekanntesten Gesichter der Linkspartei. Erst als Europa-Abgeordneter und dann als Mitglied des Bundestags machte sich der »Finanzdetektiv« einen Namen, indem er den schmutzigen Geschäften zwischen Politik und Wirtschaft nachging.
Seien es die sogenannten Luxemburg-Leaks, die massive Steuervermeidung durch eine Reihe europäischer und ausländischer Unternehmen enthüllten oder der Wirecard-Skandal und dessen Aufarbeitung im Untersuchungsausschuss – ohne De Masis Anstrengungen wären diese Fälle nie ans Tageslicht gekommen oder zumindest längst nicht so breit in der Öffentlichkeit diskutiert worden. Das hat ihm weit über die Grenzen seiner Partei hinaus große Anerkennung eingebracht.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im Jahr 2021 kündigte er an, sich erstmal aus der Politik zurückziehen und sich der Arbeit an einem Buch zu widmen. Doch die angekündigte Pause fiel kürzer aus als gedacht – im Januar dieses Jahr gab er bekannt, als Spitzenkandidat des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) zur Europawahl anzutreten. Im JACOBIN-Interview spricht Fabio De Masi über die Beweggründe für seine unerwartete Rückkehr in die Politik, die Stärken und Schwächen der EU und mögliche Widersprüche innerhalb seiner neuen Partei.
Warum bist Du dem Bündnis Sahra Wagenknecht beigetreten?
Weil wir in Deutschland und Europa schlimme politische Entwicklungen haben. Da sind einerseits die internationalen Konflikte, Krieg in Gaza und der Ukraine. Die Aggressivität, mit der ein Waffenstillstand und Diplomatie von Teilen der Medien und Politik verteufelt werden, ist verantwortungslos.
Und auf der anderen Seite eine Wirtschafts-, Energie- und Finanzpolitik, die verheerend ist und Deutschland einer selbst verursachten Schocktherapie unterzieht. Die Kürzungspolitik befördert den Aufstieg rechter Parteien wie der AfD. Da braucht es eine wählbare politische Alternative. Und die sehe ich in der Partei Die Linke schon länger nicht mehr.
Auf der Pressekonferenz zur Gründung von BSW sagte Sahra Wagenknecht, das Bündnis sei weder links noch rechts. Wo steht die Partei dann?
Ich würde nicht sagen »wir sind weder links noch rechts«. Ich würde vielmehr sagen, dass der Begriff »links« heute in der Bevölkerung anders wahrgenommen wird als früher. Während »links« im politischen System lange den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit – von oben und unten – meinte, verstehen darunter immer mehr Menschen elitäre und weltfremde Diskurse und Lifestyles. Ich glaube, dass das zu einer Entfremdung linker Parteien von bestimmten sozialen Schichten beigetragen hat.
BSW positioniert sich also aus strategischen Gründen nicht explizit als links?
Ich glaube, dass man mit diesen Labels derzeit nicht weiterkommt. Meine persönliche Erfahrung ist: Wir bekommen etwa von Leuten mit Migrationshintergrund, die hier bereits in der zweiten oder dritten Generation leben, sehr viel Zuspruch. Viele von ihnen mussten sich »von Null« eine Existenz aufbauen. Doch einige von Ihnen sind von Aspekten der Klimapolitik genervt, wenn diese kleine Geldbeutel belastet, statt etwa den Nahverkehr zu verbessern. Sie fühlen sich teilweise jedoch auch durch die neuere Zuwanderung und steigende Mieten bedroht. Sie sind von SPD und Grünen enttäuscht, lehnen aber auch den Rassismus von AfD-Politikern ab.
»Die kleinen Unternehmer und Selbstständigen sind politisch wichtig.«
Wir werden häufig auch als links-konservativ bezeichnet. Ich bin persönlich nicht besonders konservativ, aber ich weiß natürlich, dass es Menschen gibt, die zum Beispiel auf dem Land leben und andere Lebensrealitäten haben, als einige Menschen in den Metropolen. Und es geht darum, sich selbst zurückzunehmen und eine Politik zu machen, die Mehrheiten anspricht.
BSW erhebt den Anspruch, sowohl Beschäftigte als auch Unternehmer zu vertreten. Du kennst als Ökonom den Interessengegensatz zwischen beiden sehr gut. Wie will Eure Partei ihn überbrücken?
Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit bleibt. Aber es gibt auch Widersprüche zwischen Kleinunternehmern und Amazon. Oder es gibt Millionäre, die eine höhere Besteuerung für sich selbst wollen, zum Beispiel Ralf Suikat, der bei BSW Schatzmeister ist. Ich vertrete eine links-keynesianische Position in der Wirtschaftspolitik. Natürlich gibt es bei BSW Leute, die unterschiedliche Akzente setzen, und das ist auch eine Bereicherung.
Dann sagt vielleicht ein mittelständischer Unternehmer: »Hier gibt es eine absurde Bürokratie und Überregulierung.« Und vielleicht habe ich früher gedacht: »Ja, das sind diese Wehklagen von den Interessenverbänden.« Doch wenn man sich das genau anguckt, sieht man, da ist teilweise auch etwas dran, wenn man kein großer Konzern ist. Das ist ein spannender Prozess.
Und auch Linke sollten erinnern: Die kleinen Unternehmer und Selbstständigen sind politisch wichtig. Der brutale Putsch gegen Salvador Allende in Chile gelang auch, weil die politische Rechte das »Kleinbürgertum« besser erreichte als die Linke.
Wohnraum schaffen, den Pflegebereich stützen oder die Infrastruktur erneuern – all das geht nicht ohne Investitionen. Woher wollt Ihr das Geld nehmen, die Schuldenbremse wird sich ja nicht so schnell abschaffen lassen?
Geld entsteht per Knopfdruck und gibt es reichlich. Entscheidend ist, wofür wir es ausgeben und welche realen Ressourcen verfügbar sind. Wollen wir den militärisch-industriellen Komplex oder wollen wir zivile Investitionen anschieben? Es ist vollkommen klar, dass es Sinn ergibt, Investitionen auch über Kredite zu finanzieren, weil sie zukünftigen Generationen nutzen.
Deswegen fordere ich etwa seit vielen Jahren, die Goldene Regel der Haushaltspolitik wieder einzuführen: Diese würde dem Staat Kredite im Umfang der Investitionen erlauben. Im Gegenzug könnte man die Schattenhaushalte – wie für die Bundeswehr – eindampfen, die der Kontrolle des Parlaments entzogen sind. Es braucht aber auch Vermögens- und Erbschaftsteuern für Multimillionäre und Milliardäre, um die Demokratie vor ihrer Wirtschaftsmacht zu schützen.
Die wichtigsten Finanzpolitiker der Grünen forderten 2017 noch eine Verschärfung der Schuldenbremse. Nun haben sie ihre Meinung geändert. Und die Goldene Regel ist nun sogar Position des CDU-Bürgermeisters von Berlin. Aber man sollte sich nicht täuschen lassen: Es gibt im Europäischen Parlament nun eine Debatte, die Goldene Regel nur für Militärinvestitionen einzuführen, also eine Art Militär-Keynesianismus durchzusetzen. Ähnliches fordern SPD, Grüne und FDP in Bezug auf die Europäische Investitionsbank. Denn wen man ihr Kapital erhöht, lässt sich die Schuldenbremse umgehen. Und die EZB könnte ihre Anleihen kaufen und so öffentliche Investitionen unterstützen.
»Ich denke, dass eine Reform der Schuldenbremse früher oder später kommen wird. Doch die wird im Zweifel eher die CDU machen.«
Ich habe diese Dinge in Bezug auf die europäischen Schuldenbremsen und die EIB schon vor zehn Jahren im EU-Parlament für zivile Investitionen vorgeschlagen. Man sieht also, dass die Realität derzeit die deutsche und europäische Politik einholt. Aber es geht immer um Interessen. Daher diskutieren Leute wie Wirtschaftsminister Habeck vor allem auch über die Schuldenbremse, um Konzernen Steuern zu senken oder Rüstung zu finanzieren.
Man will damit auch eine Debatte um Vermögenssteuern für Milliardäre und Multimillionäre verhindern, da sich diese angesichts der unzureichenden Investitionen sonst aufdrängt. Ich denke jedoch, dass eine Reform der Schuldenbremse früher oder später kommen wird. Doch die wird im Zweifel eher die CDU machen: Only Nixon could go to China.
Wagenknecht forderte in einem Interview in der Taz, dass abgelehnten Asylbewerbern die Sozialleistungen gestrichen werden sollen. Das betrifft auch mehr als 100.000 Geduldete, die in Ausbildung sind oder sich um enge Verwandte kümmern, denen Asyl gewährt wurde. Treibt man die Leute so nicht in Kriminalität und Armut?
Das Asylrecht für politisch Verfolgte gilt. Und auch Menschen, die vor Kriegen oder extremen Hungerkatastrophen oder ähnlichem fliehen, müssen über Kontingente geschützt werden. Das kann nicht alles in Deutschland verwirklicht werden, muss aber in Europa gesichert sein.
Das Problem ist, dass in unserem jetzigen System auch sehr viele Menschen aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen kommen, die nicht unter diese Gründe fallen. Das ist einerseits nachvollziehbar. Aber es ist eben kein sinnvoller Weg, um Zuwanderung zu steuern. Denn so können im Prinzip jene, die es irgendwie schaffen, ungeachtet der Gründe bleiben, weil es zum Beispiel wegen fehlender Rückübernahmeabkommen oder Pässe schwierig ist, Rückführungen durchzuführen.
Damit ist Niemanden geholfen. Denn wenn diesen Menschen kein Asyl gewährt wird, stecken viele in einer dauerhaften Perspektivlosigkeit und werden in der Schattenwirtschaft ausgebeutet. Viele dieser Menschen werden krank und depressiv und wünschen sich irgendwann sogar, zurück zu können, aber wollen vor den Angehörigen nicht mit leeren Händen dastehen. Und jene, die sich keine Schlepper leisten können oder im Mittelmeer ertrinken, haben in diesem System einfach Pech gehabt.
Kanzler Scholz sagt: Wir müssen mehr abschieben. Aber das geht bei 100.000 Leuten gar nicht und ist humanitär ein Problem, da es ja etwa auch Minderjährige gibt oder Menschen, die nun schon länger hier sind. Daher ist unser Ansatz, Asylverfahren an den Außengrenzen beziehungsweise in Drittstaaten durchzuführen, damit auch jene Menschen eine Chance auf Asyl haben, die sich die Schlepper nicht leisten können.
Dies bedeutet aber auch, die Zuwanderung von Menschen ohne Asylgrund zu verringern, um erst gar nicht in das Dilemma von massenhaften Abschiebungen zu kommen. Die Menschen, die nun schon länger bei uns sind und etwa Arbeit gefunden haben, brauchen langfristige Perspektiven.
»Ich bin sofort dafür, Milliarden zur Verbesserung der Bedingungen in den Herkunftsländern zu mobilisieren.«
Aber wir müssen die Anreize dafür verringern, dass immer mehr Menschen mit falschen Hoffnungen kommen. Es ist in anderen EU-Staaten so, dass man keine Geldleistungen mehr bekommt, wenn man ausreisepflichtig ist. Davon zu unterscheiden sind das Existenzminimum beziehungsweise Sachleistungen. Die muss es immer geben.
Solange das bei Geldleistungen in Deutschland anders ist, schafft dies natürlich auch Anreize zur irregulären Migration. Es gibt auch andere Faktoren wie Sprache und soziale Netzwerke. Aber die sozialen Netzwerke, die dazu führen, dass sich bestimmte Staatsbürger in der Not für Deutschland entscheiden, hängen natürlich auch wieder mit Geld zusammen. Das ist ja auch völlig normal. Besser ist es, geregelte Wege der Arbeitsmigration zu schaffen – aber im Einklang mit der Integrationsfähigkeit der Kommunen.
Man könnte Kommunen auch mehr Geld geben.
Das stimmt, aber wir haben tatsächlich Probleme auf dem Wohnungsmarkt und im Bildungsbereich, die wir auch mit Geld nicht so schnell beheben können. Wohnungen müssen gebaut werden, und wenn nur noch eine Minderheit der Kinder in bestimmten Schulklassen Deutsch spricht und Lehrer fehlen, löst Geld allein auch nicht das Problem.
Wir müssen angesichts der vielen internationalen Verwerfungen mehr Realismus in die Migrationsdebatte bringen. Ich bin sofort dafür, Milliarden zur Verbesserung der Bedingungen in den Herkunftsländern zu mobilisieren und für menschenwürdige Bedingungen bei Asylverfahren in Drittstaaten. Denn wer politisch verfolgt wird, braucht erst mal Schutz, ein Dach, Nahrung und Bildung für die Kinder. Es geht also nicht darum, Geld einzusparen. Wir können jedoch die Probleme der weltweiten Ungleichheit nicht alle über die Zuwanderung lösen, sondern wir müssen auch die Herkunftsstaaten stabilisieren.
Offene Grenzen für alle war früher nie eine linke Position, Bernie Sanders hat das Mal als eine Position der »Koch-Brüder« bezeichnet, die nur die Schutzlosigkeit der Menschen für Niedriglöhne ausnutzen wollen. Es ist doch zynisch, etwa zur Situation in Gaza zu schweigen und sich dann für Weltoffenheit zu feiern. Und auch die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine werden irgendwann in ihrem Land gebraucht und sind nicht dazu da, unser vermeintliches Fachkräfteproblem dauerhaft zu lösen.
BSW fordert Diplomatie statt Waffenlieferungen, doch braucht es nicht beides? Würde man die Ukraine nicht mit Waffenlieferungen unterstützen, säße sie mit sehr schlechten Karten an einem möglichen Verhandlungstisch.
Man kann die Auffassung vertreten, dass Waffenlieferungen zu Beginn der russischen Invasion nötig waren, damit die Ukraine nicht überrannt wird. Aber nur, um Zeit zu kaufen, um eine politische Lösung zu finden. Im März 2022 gab es ukrainischen Diplomaten zufolge auch fast eine politische Lösung, die aber auf Druck des Westens als verfrüht verworfen wurde. Doch egal, wie viele Waffen wir liefern, es muss sie ja jemand bedienen. Und die Zahl der unversehrten, wehrfähigen Männer in der Ukraine schrumpft rapide.
Der frühere Professor an der Bundeswehr Universität Elmar Wiesendahl hat einen Beitrag beim Zentrum für die ethische Bildung der Streitkräfte veröffentlicht. Dort sagt er, dass jene, die immer am lautesten nach Waffenlieferungen schreien, diesen Blutzoll der Ukrainer gar nicht mehr mit einrechnen. Die Grünen fordern etwa mehr Waffen für die Ukraine und verkleiden sich zuweilen infantil im Leopardenkostüm. Jetzt rufen sie mit Unterstützung von Leitmedien nach dem Taurus – doch die Position der Ukraine ist bislang immer schlechter geworden und die Bevölkerung lehnt das ab.
»Die Irakis mussten am Ende auch mit den Amerikanern verhandeln.«
Das ändert nichts daran, dass der Einmarsch Russlands völkerrechtswidrig ist und dass schlimmste Kriegsverbrechen verübt werden. Aber es ist eben auch eine Realität, dass selbst konservative US-Politiker vor der NATO-Osterweiterung warnten, die Russland einschnürte. Es ist ebenso wahr, dass Nuklearmächte einen Sicherheitspuffer verlangen und Abrüstungsverträge von US-Präsident Trump gekündigt wurden. Und wenn man zynisch ist, kann man sagen: Die Irakis mussten am Ende auch mit den Amerikanern verhandeln. Es kann nur eine diplomatische Lösung geben, wenn die Ukraine nicht am Ende auf Jahrzehnte zerstört sein soll.
Der frühere Sicherheitsberater von US-Präsident Obama, Charles Kupchan, fordert Verhandlungen in der Ukraine. Er sagt, dies sei schon aus innenpolitischen Gründen notwendig wegen Trump in den USA oder Le Pen in Frankreich. Die Innenpolitik ist für Europa laut Kupchan gefährlicher als Putin. Und es wird ein Russland nach Putin geben. Wenn es nicht noch chauvinistischer sein soll als jetzt schon, braucht es Dialog.
In Deiner alten Partei tobt seit fünfzehn Jahren eine Debatte über Außenpolitik, unter anderem ob Deutschland aus der NATO austreten sollte. Ist BSW dafür?
Macron bezeichnete die NATO einst als hirntot, Trump ist sie nicht wichtig. Ob sie daher Bestand haben wird, ist ungewiss, aber ein Austritt aus der NATO ist aktuell keine Debatte. Meine Position ist, dass wir langfristig ein Sicherheitssystem brauchen, das auf Ausgleich setzt, wie es nach dem Ende des Kalten Krieges vorgesehen war.
Die NATO war einst als Verteidigungsbündnis konzipiert. Und Sicherheitsbündnisse sind völkerrechtlich legitim. Was wir jedoch kritisieren, ist die Ausdehnung der »Out-of-area«-Einsätze. Die Brown University hat eine Studie herausgegeben, wonach allein der War on Terror direkt oder indirekt 4,5 Millionen Menschen das Leben gekostet hat.
Ich glaube, man hat die eigentliche Zeitenwende noch immer nicht richtig verstanden. Es geht tatsächlich eine Epoche von fünfhundert Jahren Vorherrschaft des Westens zu Ende. Wenn man sich umschaut in der Welt: Brasilien, Indien, Südafrika und selbst kleinere Länder wie Namibia oder Malaysia widersprechen mittlerweile auf offener Bühne dem deutschen Bundeskanzler. Das wäre früher undenkbar gewesen. Da gibt es ein neues Selbstbewusstsein und ich glaube, man muss sich im Westen damit anfreunden, dass diese imperiale Epoche vorbeigeht.
Es gibt diejenigen im Establishment, die immer sagen: Besser eine hegemoniale Ordnung mit den USA als Ordnungsmacht als multipolares Chaos. Ich halte es jedoch für unausweichlich, dass die Karten neu gemischt werden. Entscheidend ist daher, ob es zu einer stabilen internationalen Architektur und Entspannungspolitik kommt oder sich die USA und die westliche Öffentlichkeit radikalisieren, um ihre innenpolitischen Widersprüche zu kaschieren.
Ein neuer Ost-West-Konflikt mit den USA und China als Führungsmächten kann sehr gefährlich werden. Trump zum Beispiel will ja nicht Frieden mit Russland, weil er den Frieden liebt, sondern um alle Ressourcen auf China zu konzentrieren. Ich denke, dass wir in Europa als Scharnier zwischen Ost und West daher eine eigenständige Außenpolitik brauchen, die uns jedoch nicht im Sinne einer Arbeitsteilung zum Juniorpartner der USA macht, sondern für Ausgleich und Abrüstung sorgt.
Ihr fordert auch ein Ende der Sanktionen gegen Russland?
Der keynesianische US-Ökonom James K. Galbraith, Sohn des legendären Wirtschaftsberaters von John F. Kennedy, hat eine Studie veröffentlicht, die die Sanktionen als unklug und gescheitert analysiert. Russisches Gas ist eine Brücke in das nicht-fossile Zeitalter. Russland wächst durch die Kriegswirtschaft und Deutschland schrumpft, weil die Energiepreise steigen. Nun importieren wir schmutziges US-Fracking-Gas und kaufen weiterhin russisches Öl und Gas teuer über Umwege.
»Die marktradikale Verfassung der EU hat System und begünstigt die großen Spieler.«
Die gestiegenen Energiepreise haben zudem verheerende Auswirkungen im Globalen Süden. Außerdem braucht Putin keine Euros, um den Krieg zu finanzieren. Die Soldaten erhalten Rubel. Galbraith spricht sogar davon, dass durch den Rückzug der westlichen Unternehmen, der ja staatlich verordnet wurde, westliche Konzerne im Prinzip ihr ganzes Know-how und Produktivkapital den Russen geschenkt haben.
Ich habe immer die hohe Exportabhängigkeit Deutschlands kritisiert und eine Stärkung der Investitionen und Löhne gefordert. Das heißt aber nicht, dass es klug wäre, wenn wir über Nacht in einer Art Schocktherapie den Handel mit Russland oder morgen gar China abschneiden. Das führt dann nur zu Druck auf die Löhne und Sozialabbau.
Du trittst als BSW-Spitzenkandidat für die Europawahl an, gleichzeitig wollt Ihr einen Rückbau der EU. Wie soll das institutionell gehen?
Weniger ist mehr. Die EU soll sich auf das konzentrieren, was sie wirklich besser kann. Die europäische Zusammenarbeit zur Bekämpfung des Steuerdumping von Konzernen ist zum Beispiel sehr sinnvoll. Man darf den Leuten allerdings auch nichts vormachen: Das EU-Parlament darf nur beschließen, was die EU-Kommission initiiert. Und diese darf nur machen, was in den Verträgen erlaubt ist.
Die EU hat vor allem Kompetenzen zur Vereinheitlichung von Regeln im Wettbewerb. Mindeststeuern für Konzerne gehen daher laut EU-Verträgen nicht. Und eine Vereinheitlichung der Regeln ohne Mindestsätze facht den Steuerwettbewerb sogar im Interesse der großen Konzerne weiter an. Die marktradikale Verfassung der EU hat System und begünstigt die großen Spieler.
In anderen Bereichen will ich weniger EU, um die Demokratie zu schützen. Es ist ja kein Zufall, dass die Troika während der Euro-Krise über supranationale »Rettungsschirme« die Demokratie schwächte und Kürzungspolitik durchsetzte, oder dass in Mega-Bundesstaaten wie den USA Milliardäre und Konzerne die Wahlkämpfe von Parteien finanzieren. Wir müssen daher die Kommunen und ihre Infrastruktur, die nationalen Haushalte oder die Tariftreue vor Übergriffen der EU und des Wettbewerbsrechts schützen.
Wir wollen also das EU-Parlament vor allem nutzen, um diese politischen Auseinandersetzungen zu führen. Ich bin etwa für eine Reform der europäischen Schuldenbremsen, wie zuvor beschrieben. Es gibt Vorschläge von Ökonomen wie Gabriel Zucman für international koordinierte Vermögenssteuern. Auch hier könnte die EU eine Rolle bei der Koordination spielen.
Ein großes Zukunftsthema für fortschrittliche Kräfte wäre auch der neue Internet-Kapitalismus und seine Gefährdung der Demokratie. Wir dürfen nicht unsere komplette Daten- und Kommunikationsinfrastruktur in die Hände von Konzernen legen, deren Modell es ist, mit Daten größere Macht zu erringen. Wir bräuchten aus meiner Sicht eine öffentlich-rechtliche digitale Infrastruktur – ohne den Parteien-Filz wie im Rundfunk. Und wir müssen auch das Daten-Monopol von großen Konzernen zerschlagen. Das ist ein Bereich, in dem die EU das Beihilferecht verändern müsste.
Viele bei BSW kommen aus einer sozialistischen Partei und aus der sozialistischen Tradition. Ist Sozialismus noch ein Ziel, oder ein Begriff, mit dem Du etwas anfangen kannst?
Ich komme aus der Tradition des demokratischen Sozialismus – das ist eine große Tradition, die von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg bis zu Willy Brandt und Brasiliens Präsident Lula reicht. Und das bleibt natürlich auch weiterhin so. BSW definiert sich allerdings als eine breitere Sammlungspartei für Menschen, die sich sozialen Ausgleich, eine vernünftige Wirtschaftspolitik und Diplomatie wünschen. Da gibt es auch soziale Konservative. Ich persönlich werde aber meine Überzeugungen mit ins Grab nehmen.
Fabio De Masi ist Ökonom, ehemaliger Abgeordneter des Deutschen Bundestags und des Europäischen Parlaments für die Linkspartei und zählt zu den einflussreichsten progressiven Wirtschaftspolitikern in Deutschland. Derzeit arbeitet er an einem Buch über Finanzmacht und Finanzkriminalität.