ABO
Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

10. September 2025

Keine Familie ist auch keine Lösung

Die Familie gilt vielen Linken als Stütze des Kapitalismus. Doch wer ihre Abschaffung fordert, verkennt das eigentliche Problem.

»Der zeitgenössische Kapitalismus ist in vielerlei Hinsicht durch eine Destabilisierung der Kernfamilie als Standardform der Care-Arbeit gekennzeichnet.«

»Der zeitgenössische Kapitalismus ist in vielerlei Hinsicht durch eine Destabilisierung der Kernfamilie als Standardform der Care-Arbeit gekennzeichnet.«

Collage: Zane Zlemeša, Markus Stumpf

Seit einigen Jahren wächst in der Linken das Interesse daran, die Rolle der Familie und der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus zu analysieren. Ein Großteil dieser Arbeit entstand unter dem Banner der Sozialreproduktionstheorie. Diese stützt sich auf den feministischen Marxismus der 1970er Jahre und betont, was die Familiensoziologin Susan Ferguson als »die umfassendere soziale Reproduktion des Systems« bezeichnet, sprich: die alltägliche Betreuungsarbeit, die in Haushalten (aber auch in Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen und anderen Institutionen) geleistet wird. Dieser Ansatz untersucht nicht nur, wie die Familie im Kapitalismus überlebt, sondern auch, wie sie zu seiner Aufrechterhaltung beiträgt.

Diese Theorie der sozialen Reproduktion kritisiert die Rolle der Familie im Kapitalismus, stellt aber selten das Fortbestehen der Familie an sich infrage. Diese radikalere Perspektive wurde inzwischen von einem wachsenden Kreis feministischer Denkerinnen wiederbelebt – darunter Alva Gotby, Sophie Lewis, Helen Hester, M. E. O’Brien, Melinda Cooper und Kathi Weeks –, die sich für das einsetzen, was heute als feministischer Familienabolitionismus bezeichnet wird. Diese Denkerinnen wollen die Familie nicht verändern oder »reformieren«, sondern sie komplett abschaffen.

Die Argumentation für eine Abschaffung der Familie beruht auf zwei zentralen Thesen. Erstens fungiere die Familie als wichtiger Ort der kapitalistischen Reproduktion: Der Zufluss an zukünftigen Arbeitskräften werde gesichert, während gleichzeitig Erziehung, Pflege und Care-Arbeit in den privaten Zuständigkeitsbereich gedrängt würden. Zweitens sei die Familie ein Ort der Hierarchie, der Disziplin und des Zwangs. Dieses System ist strukturiert durch Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und oftmals auch Gewalt. An seine Stelle möchten Abolitionistinnen eine Welt setzen, in der Fürsorge und Care-Arbeit von Verwandtschaft abgekoppelt, kollektiv organisiert und von patriarchalen und kapitalistischen Zwängen befreit ist. Das ist sicherlich eine ambitionierte Vision. Aber ist sie tragfähig?

Das Logo von JACOBIN

Dieser Artikel ist nur mit Abo zugänglich. Logge Dich ein oder bestelle ein Abo.

Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!

Evelina Johansson Wilén ist Associate Professor für Gender Studies an der Örebro Universität in Schweden. Sie ist Mitglied der Redaktion der marxistischen Theoriezeitschrift »Röda Rummet« sowie Autorin eines Buches über Familienabolitionismus, das 2026 bei La Fabrique erscheinen wird.