10. Mai 2024
An diesem Tag im Jahr 1941 begannen Fabrikarbeiter in Belgien einen der ersten Streiks im von den Nazis besetzten Europa. Zehntausende riskierten schwere Repressionen, um sich gegen Armutslöhne zu wehren und der Besatzung zu trotzen.
Die große Mehrheit der Streikenden in Belgien waren Bergarbeiter.
Während Länder in ganz Europa ihre traditionellen Gedenkfeiern am 8. Mai für das Ende des Zweiten Weltkriegs abhalten, wird die Rolle der organisierten Arbeiterschaft im Widerstand gegen den Faschismus nur allzu oft übersehen. Dabei waren es gerade die prinzipientreuesten und kämpferischsten Mitglieder der Arbeiterklasse, die einige der mächtigsten Aufstände gegen den Krieg und seine Folgen anführten – darunter der »Streik der 100.000« in Belgien.
Am Samstag, dem 10. Mai 1941, genau ein Jahr nach dem deutschen Einmarsch in Belgien, legte eine Gruppe von Frauen in Cockerill-Gießerei in Seraing, in der Nähe von Lüttich, die Arbeit nieder. Vom größten metallurgischen Konzern in Lüttich aus verbreitete sich die Streikbewegung schnell über das ganze Land. Auf dem Höhepunkt des achttägigen Streiks befanden sich 60.000 Arbeiterinnen und Arbeiter im gesamten Industriegürtel der französischsprachigen Wallonie, der sich von Mons im Borinage bis in die Provinz Lüttich erstreckt, im Ausstand. Die Aktion weitete sich sogar auf die flämische Region Belgiens in Städten wie Aalst aus.
Die Hauptbeschwerde der Streikenden war der Mangel an Lebensmitteln. Ihr Protest war jedoch die Initialzündung für einen der größten Arbeiterproteste der Kriegszeit in Belgien – und ein Höhepunkt des Widerstands im besetzten Europa.
Wie war ein solch mächtiger Streik unter den Bedingungen der Besatzung möglich?
Schon lange vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren die belgischen Gewerkschaften zu einer etablierten Kraft in der institutionellen Landschaft des Landes geworden. Die drei Strömungen der Gewerkschaftsbewegung orientierten sich an den modernen politischen Traditionen des Landes – Sozialismus, Liberalismus und Christdemokratie – und bestehen in dieser Form als drei Gewerkschaftsbünde bis heute.
In den fünfzig Jahren vor Kriegsausbruch hatten die Gewerkschaften das Vereinigungsrecht, das Streikrecht und erste Formen eines branchenweiten sozialen Dialogs zwischen den Gewerkschaften und den Unternehmen erkämpft – unter anderem durch mehrere Generalstreiks in den Jahren 1886, 1893 und 1936. Insbesondere die ab 1919 eingerichteten paritätischen Ausschüsse ermöglichten die Aushandlung von Mindestlöhnen und inflationsbedingten Lohnerhöhungen für ganze Wirtschaftszweige. Bis 1923 waren mehr als die Hälfte der Arbeiter von solchen paritätischen Ausschüssen erfasst. Mit dem deutschen Einmarsch und Besatzung fand dies ein jähes Ende.
»Das Ende des sozialen Dialogs hinterließ ein Vakuum, in dem sich die Kommunistische Partei Belgiens auf Unternehmensebene organisieren konnte.«
Im Rahmen der Gleichschaltung wurden die belgischen Gewerkschaften zwangsweise zu einer einzigen Einheitsgewerkschaft zusammengeschlossen. Der von der Besatzungsregierung gegründete Gewerkschaftsbund verfolgte eine korporatistische Zusammenarbeit zwischen Arbeitern und Bossen für den »Fortschritt der Nation«. Das bedeutete, dass das hart erkämpfte Streikrecht abgeschafft und die Löhne eingefroren wurden.
Das Ende des freien, branchenweiten sozialen Dialogs hinterließ jedoch ein Vakuum, in dem sich die 1921 gegründete Kommunistische Partei Belgiens (PCB) auf Unternehmensebene organisieren konnte. Nach einem Jahr kleinerer Streiks und Arbeitsniederlegungen im Industriegürtel und in anderen Teilen Belgiens wie Gent starteten die militanten Gewerkschafter am 10. Mai den später so getauften »Streik der 100.000«.
Im Vormonat war statt der 15 Kilo Kartoffeln pro Monat für die körperlich Schwerarbeitenden nur die Hälfte geliefert worden, während die übrige Bevölkerung mit nur 2 Kilo auskommen musste. Doch nach dem 7. Mai 1941 gab es für niemanden mehr Kartoffeln und auch keine Möglichkeit, sich anderweitig zu versorgen. Zudem waren die offiziellen Preise um bis zu 100 Prozent gestiegen. Die streikenden Arbeiter forderten daher Verbesserungen bei der Lebensmittelverteilung und eine Lohnerhöhung von 25 Prozent. Die Forderungen waren dabei an die Arbeitgeber gerichtet, um eine direkte Konfrontation mit der Besatzungsmacht zu vermeiden.
Obwohl Streiks verboten waren und die Löhne von der Regierung festgelegt wurden, mobilisierten und streikten die belgischen Arbeiterinnen und Arbeiter unter dem Besatzungsregime mit Erfolg. Sie erreichten sogar Zugeständnisse bei der Lebensmittelverteilung und eine allgemeine Lohnerhöhung von 8 Prozent. Und all dies, ohne dass die Streikwelle insgesamt unterdrückt wurde, im Gegensatz zum Bergarbeiterstreik 1941 in Nord-Pas-de-Calais jenseits der Grenze in Frankreich – einem der größten und längsten Streiks im von Deutschland besetzten Europa –, der seinerseits teilweise durch die Ereignisse in Belgien inspiriert war.
Der belgische Streik hatte auch erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Kriegswirtschaft. Wie der deutsche General Franz Halder damals sagte: »Jeder Streiktag bedeutet den Verlust von 2.000 Tonnen Stahl«. Dem Historiker José Gotovitch zufolge wurde den Forderungen der Streikenden erst durch Hitlers persönliches Eingreifen entsprochen. Die Besatzungsmächte gaben damit selbst zu, dass der Streik eine direkte Bedrohung für die deutsche Kriegsführung darstellte. Schließlich führte der Streik auch zur Schaffung des »Sozialpakts« der Nachkriegszeit, der den Gewerkschaften zusätzliche Rechte einräumte und den Sozialstaat erweiterte – und der bis heute die Arbeitsbeziehungen in Belgien regelt.
»Trotz des offensichtlichen Erfolgs und der Bedeutung des Streiks der 100.000 ist er heute in Belgien weitgehend vergessen und auch im Ausland unbekannt.«
Der Streik war auch ein Wendepunkt für die Kommunistische Partei Belgiens. Da sie aktiv an der Vorbereitung des Streiks beteiligt war und sah, wie erfolgreich er war, investierte die Partei in der Folgezeit stark in die Gründung von Gewerkschaftsausschüssen (Comités de lutte syndicale), die während des gesamten Krieges eine wichtige Rolle in der belgischen Widerstandsbewegung spielen sollten. Einen Monat nach dem Streik jedoch, als der Molotow-Ribbentrop-Pakt mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion aufgehoben wurde, verhaftete das Besatzungsregime über tausend Linke, die an dem Streik beteiligt gewesen sein sollen.
Einige, wie Julien Lahaut – einer der Anführer der Kommunisten – wurden in deutsche Konzentrationslager gebracht. Lahaut hatte im Alter von vierzehn Jahren bei Cockerill angefangen zu arbeiten, engagierte sich schnell in der Gewerkschaftsbewegung, wurde ein wichtiger Organisator des Streiks der 100.000 und leitete schließlich am 13. Mai eine Delegation nach Brüssel, um mit der Regierung zu verhandeln. Lahaut überlebte den Krieg in Deutschland und kehrte als einer der beliebtesten und lautstarken anti-monarchistischen Politiker zurück. Er führte die Kommunistische Partei bis zu seiner Ermordung im Jahr 1950. Dieser einzige politische Mord an einem Abgeordneten in der Geschichte Belgiens, wie 2015 aufgedeckt wurde, wurde von einem antikommunistischen Netzwerk begangen, das Verbindungen zur Kriminalpolizei des Staates und zu mehreren großen Unternehmen hatte.
Trotz des offensichtlichen Erfolgs und der Bedeutung des Streiks der 100.000 ist er heute in Belgien weitgehend vergessen und auch im Ausland unbekannt. Trotz seiner Bedeutung gibt es keine größeren Gedenkfeiern oder Denkmäler, die dieses historische Ereignis würdigen. Bis 1978 war der 8. Mai in Belgien ein nationaler Feiertag, heute ist er es nicht mehr.
Aus diesem Grund setzen sich die Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft des Landes derzeit für ein stärkeres kollektives Gedenken an die Widerstandsbewegung ein, veröffentlichen persönliche Geschichten von Widerstandshelden und drängen auf die Wiedereinführung des 8. Mai als Nationalfeiertag. Der Streik der 100.000 – und die Rolle der Arbeiterbewegung im Allgemeinen – sollte Teil dieser Bemühungen sein.
Daniel Kopp ist Kommunikationsdirektor bei UNI Europa, dem europäischen Gewerkschaftsverband für den Dienstleistungssektor.
Stan De Spiegelaere ist Gastprofessor für Arbeitsbeziehungen an der Universität Gent und Mitglied von Denktank Minerva.